TE Vwgh Erkenntnis 1997/10/9 95/20/0359

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Veröffentlicht am 09.10.1997
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Wetzel und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Nowakowski und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des S in Salzburg, vertreten durch

Dr. Gerhard O. Mory, Rechtsanwalt in Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 3. Mai 1995, Zl. 4.346.289/1-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 22. Februar 1995 aus Ungarn kommend in das Bundesgebiet ein und wurde im Zuge seiner versuchten Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am selben Tag von der bayrischen Grenzpolizei festgenommen. Er wurde ins Bundesgebiet zurückgeschoben und hier in Schubhaft genommen. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme im fremdenpolizeilichen Verfahren vor der Bundespolizeidirektion Salzburg am 23. Februar 1995 gab der Beschwerdeführer neben der Darstellung seiner Fluchtroute an, er habe nach Deutschland gewollt, weil er Kurde sei und Angst habe, in seinem Heimatland zu bleiben. Nachdem der Beschwerdeführer am 24. Februar 1995 durch seinen Vertreter einen schriftlichen Asylantrag gestellt hatte, wurde er am 27. Februar 1995 ein weiteres Mal von der Bundespolizeidirektion Salzburg einvernommen. Dabei gab er an, keine konkrete Gefährdung seiner Person in der Türkei nennen zu können, jedoch Angst zu haben, weil er Kurde sei. Außerdem erklärte er, entgegen seiner Darstellung anläßlich seiner ersten Einvernahme nicht mit dem Flugzeug nach Budapest gelangt und von dort in das Bundesgebiet eingereist zu sein, sondern in Istanbul die Ladefläche eines Sattelaufliegers eines LKW bestiegen zu haben und mit diesem LKW über eine ihm nicht bekannte Strecke in die BRD gereist zu sein.

Bei der am 29. März 1995 vor dem Bundesasylamt in Anwesenheit seines Rechtsvertreters durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme im Asylverfahren widerrief der Beschwerdeführer seine zweiten und bekräftigte seine ersten Angaben zur Fluchtroute, daß er nämlich über Ungarn in das Bundesgebiet eingereist sei. Seine wechselnden Angaben erklärte er damit, daß er Angst bekommen habe, von Ungarn weiter in die Türkei geschoben zu werden, weshalb er "die Geschichte mit dem LKW" erfunden habe; seines Wissens bekomme man in Ungarn kein Asyl.

Nach dem Inhalt der Niederschrift wurde dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers im Anschluß daran "die Ablichtung eines Gutachtens übergeben, in dem sinngemäß ausgeführt wird, daß der ungarische Staat gemäß einem Übereinkommen mit dem UNHCR Abschiebungsschutz gewährt und dies auch für außereuropäische Asylwerber gilt". In den Verwaltungsakten ist dieses Gutachten jedoch nicht enthalten. In einer umfassenden Stellungnahme brachte der Vertreter des Beschwerdeführers unter anderem vor, daß eine informelle, nicht einmal schriftlich beurkundete Vereinbarung rechtlich keine Verfolgungssicherheit zu begründen vermöge; es bestehe kein Rechtsanspruch auf Gewährung von Asyl oder Abschiebungsschutz, Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention gelte für Flüchtlinge, deren Fluchtgrund außereuropäische Ereignisse seien, in Ungarn nicht; es bestehe auch kein vorläufiges Aufenthaltsrecht, zudem habe Ungarn mit Rumänien Schubabkommen abgeschlossen, und es werde auch die Rückabschiebung direkt in die Türkei praktiziert.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer unter anderem an, er habe einen Einberufungsbefehl erhalten, dem er jedoch nicht Folge leisten wolle. Er müßte beim Militär Kurden umbringen. Wer dem Einberufungsbefehl nicht Folge leiste, werde "zwar geschlagen und mißhandelt", "mehr" passiere aber nicht, weil der türkische Staat laufend Soldaten brauche. So gebe es auch immer wieder Amnestien für diejenigen, die der Einberufung vorerst nicht Folge leisteten. Er selbst sei Kurde. Es könne sein, daß er seine Landsleute, seinen Onkel oder Bruder töten müßte, wenn er beim Militär sei. Dabei seien alle unterdrückt. In seinem Dorf gebe es einige Kurden, die aufgrund der Kriegshandlungen türkischer Soldaten gegen kurdische Dörfer nicht zum Militär gegangen seien. Diese seien festgenommen und solange mißhandelt und geschlagen worden, bis sie als Gelähmte nach Hause geschickt worden seien. Ob bei den Soldaten, die in Kurdistan eingesetzt würden, auch Kurden seien, wisse er nicht, da ja alle in dieselbe Uniform gekleidet seien. Außerdem gingen gerade deswegen sehr viele Kurden nicht zum Militär. Einige aus seinem Dorf hätten nach ihrer Rückkehr geweint, weil sie so massiv drangsaliert worden seien. Sein Cousin sei zum Militär gegangen, dann aber geflohen, weil er es nicht mehr ausgehalten habe. In einer Zeitung habe der Beschwerdeführer gelesen, daß einmal ein kurdischer Soldat aus dem Fenster gestürzt worden sei. Der Beschwerdeführer sei nach Europa gekommen, um sich zu retten und um nicht gegen seine eigenen Landsleute kämpfen zu müssen. Er wolle niemanden töten und keine Morde begehen. Es sei für Kurden einfach erniedrigend in der Türkei. Auch im Anschluß an diese Angaben des Beschwerdeführers erstattete dessen Vertreter eine ausführliche rechtliche Stellungnahme.

Mit Bescheid vom 10. April 1995 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers ab, wobei es sowohl die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers verneinte, als auch von der Erlangung von Verfolgungssicherheit in Ungarn ausging.

In seiner fristgerecht gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung erstattete der Beschwerdeführer durch seinen Vertreter ein über siebzig Seiten zählendes Vorbringen zur allgemeinen Lage der Volksgruppe der Kurden in der Türkei, bekräftigte - seine individuelle Verfolgungssituation betreffend - sein erstinstanzliches Vorbringen und wiederholte, daß bei seiner drohenden Bestrafung wegen Einberufungsdesertion seine kurdische Volkszugehörigkeit "verfolgungsverschärfend" wirke, sowie, daß er auch im Falle der Ableistung des Militärdienstes als Kurde differenzierte, nämlich erniedrigende, unmenschliche und diskriminierende Behandlung zu gewärtigen hätte. Weiters bestritt er, in Ungarn bereits Verfolgungssicherheit erlangt zu haben.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführer gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab. Sie begründete ihre Entscheidung im wesentlichen damit, daß sich aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers nicht ergebe, daß seine Einberufung zum Militär aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen motiviert gewesen sei; außerdem gehorche eine Verfolgung einem "rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül"; falls kein schlüssiges Motiv für den potentiellen Verfolgerstaat feststellbar sei, erscheine eine Verfolgung nicht glaubhaft. Neben der Verneinung der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers ging die belangte Behörde noch von dessen Verfolgungssicherheit in Ungarn aus, wobei sie auf "ein Gutachten" des UNHCR vom 4. Juli 1994 verwies, wonach in Ungarn faktisch lückenlose Abschiebungssicherheit für außereuropäische Flüchtlinge und Asylwerber bestehe. "Aufgrund der allgemeinen Lage in Ungarn" ging die belangte Behörde weiters davon aus, daß der Beschwerdeführer "auch daselbst" keinen direkten Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei; dem vorgehaltenen Gutachten des UNHCR habe der Beschwerdeführer nichts seine Person Betreffendes entgegenzusetzen vermocht.

In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Der Beschwerdeführer hat bereits im erstinstanzlichen Verfahren als primären Fluchtgrund den Erhalt eines Einberufungsbefehls angegeben.

Zwar rechtfertigt nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes - worunter sowohl die Nichtbefolgung der Einberufung zum Militärdienst als auch nach dessen Antritt die Desertion zu verstehen ist - grundsätzlich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. Allerdings kann eine darauf zurückzuführende Furcht vor Verfolgung dann asylrechtlich relevant sein, wenn die Einberufung bzw. unterschiedliche Behandlung während des Militärdienstes aus einem der in § 1 Z. 1 AsylG 1991 (übereinstimmend mit Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) genannten Gründe erfolgt wäre oder aus solchen Gründen dem Beschwerdeführer wegen der Verweigerung des Militärdienstes schärfere Sanktionen als anderen Staatsbürgern drohten (vgl. dazu grundsätzlich das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 29. Juni 1994, Zl. 93/01/0377). Die Auffassung der belangten Behörde, derartige Hinweise ergäben sich aus dem erstinstanzlichen Vorbringen des Beschwerdeführers nicht, ist unzutreffend. Der Beschwerdeführer hat in seiner Ersteinvernahme vor dem Bundesasylamt - wie oben dargestellt - u.a. angegeben, Kurden, die nicht zum Militär gegangen seien, seien nach ihrer Festnahme solange mißhandelt und geschlagen worden, "bis sie als Gelähmte nach Hause geschickt wurden", sein Cousin sei geflohen, weil er "es" nicht mehr ausgehalten habe, ein kurdischer Soldat sei aus dem Fenster geworfen worden, es sei "für uns Kurden" erniedrigend in der Türkei. Mit diesem Vorbringen hat der Beschwerdeführer mit (gerade noch) hinreichender Deutlichkeit auf einen Sachverhalt hingewiesen, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommen kann. Die belangte Behörde wäre in einem solchen Fall gemäß § 16 Abs. 1 AsylG 1991 dazu verpflichtet gewesen, in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen, wenn diese nicht als ausreichend (oder widersprüchlich) erschienen, zumal in der Berufung eine Konkretisierung dieses Vorbringens in Richtung einer "Verfolgungsverschärfung" aus Gründen der kurdischen Volkszugehörigkeit erfolgte. Durch das völlige Übergehen der genannten Angaben des Beschwerdeführers verstößt die belangte Behörde überdies gegen die Beründungspflicht, weil dadurch nicht nachvollziehbar ist, ob die belangte Behörde dem Beschwerdeführer diesbezüglich die Glaubwürdigkeit versagte, aus rechtlichen Erwägungen dieses Vorbringen als unwesentlich ansah oder andere Gründe dazu führten, daß sie darüber hinwegging (vgl. dazu zuletzt das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0330).

Soweit eine beweiswürdigende Stellungnahme der belangten Behörde darin zu erblicken sein sollte, daß ihr eine Verfolgung "nicht glaubhaft" erscheine, da eine Verfolgung einem "rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül" gehorche, genügt es, auf die ständige hg. Rechtsprechung zu verweisen, wonach diese "Floskel" einer Schlüssigkeitsprüfung nicht standhält (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 12. September 1996, Zl. 95/20/0198 mwN).

Trotz Vorliegens der Flüchtlingseigenschaft wäre für den Beschwerdeführer nichts zu gewinnen, wenn der Ausschlußgrund des § 2 Abs. 2 Z. 3 AsylG 1991 vorläge, wonach einem Flüchtling kein Asyl gewährt wird, wenn er bereits in einem anderen Staat vor Verfolgung sicher war. Die Beschwerde rügt in diesem Zusammenhang ausdrücklich, zur Beantwortung dieser Frage hätte es einer detaillierten Auseinandersetzung und Befassung mit den aktuellen Verhältnissen in Ungarn, betreffend die Möglichkeit für außereuropäische, kurdische Flüchtlinge, dort Schutz vor Verfolgung zu finden, bedurft; die belangte Behörde habe dazu keine wirklichen Ermittlungen und Beweisaufnahmen durchgeführt.

Diese Rüge ist berechtigt. Der Beschwerdeführer hat zwar durch die gemäß § 15 AVG beurkundete Übergabe eines Gutachtens des UNHCR im Zuge der Ersteinvernahme vor dem Bundesasylamt die Möglichkeit eingeräumt erhalten, gegen die zur Stützung der "Verfolgungssicherheit" in Ungarn gebrauchte Annahme sachgerechte Einwendungen zu erheben. Er hat aber bereits im Verfahren erster Instanz geltend gemacht, daß Ungarn die Rückabschiebung direkt in die Türkei praktiziere, und auch in seiner Berufung sowohl die Erlangung von Verfolgungssicherheit bestritten als auch auf den Mangel entsprechender Ermittlungsergebnisse hingewiesen. Solcher zeitbezogener Ermittlungen und darauf aufbauender konkreter Feststellungen hätte es jedoch für eine gesetzeskonforme Bescheidbegründung bedurft (zur Vermeidung von Wiederholungen wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG des näheren auf die ausführlichen Darlegungen im hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0179 verwiesen).

Da die belangte Behörde ihren Bescheid daher mit Ermittlungs- und Begründungsmängeln behaftete, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1997:1995200359.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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