TE Vfgh Erkenntnis 2020/10/6 E1887/2020

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Veröffentlicht am 06.10.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; qualifizierte Verkennung der Umstände, die eine Rückkehr des gesunden und jungen Mannes zumutbar machen

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Hazara angehört und sich zum schiitisch-muslimischen Glauben bekennt. Er ist in der afghanischen Provinz Urguzan im Jahr 1999 oder 2000 geboren und lebte dort bis zu seinem sechsten Lebensjahr mit seinen Eltern und Geschwistern. Anschließend zog er mit seiner Kernfamilie in die iranische Stadt Ghom, wo er sich mit seiner Mutter und seinen Schwestern bis zur Ausreise nach Europa aufhielt.

2. Der Beschwerdeführer spricht seine Erstsprache Dari mit persischem Akzent, daneben auch die Sprache Farsi. Zudem weist der Beschwerdeführer Deutschkenntnisse auf Niveau B1 auf. Im Iran hat der Beschwerdeführer mit anderen iranischen und afghanischen Mitschülern eine ca. zwei- bis dreijährige rudimentäre Schulbildung, jedoch keine Berufsausbildung erhalten. Der Beschwerdeführer ist imstande, wenn auch eingeschränkt, seine Erstsprache Dari und die Sprache Farsi zu lesen und zu schreiben. Im Alter von ca. zehn Jahren hat der Beschwerdeführer begonnen, als ungelernter Arbeiter auf Baustellen bzw als Hilfsarbeiter zu arbeiten, womit er im Iran seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Im Bundesgebiet hat der Beschwerdeführer drei Monate lang legal als gastgewerbliche Hilfskraft gearbeitet. Der Beschwerdeführer ist gesund, ledig und hat keine Kinder. Er hat keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan.

3. Am 16. April 2015 stellte der zu diesem Zeitpunkt fünfzehn- bzw sechzehnjährige Beschwerdeführer im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise.

4. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 2. März 2020 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können. Ebenso wenig drohe dem Beschwerdeführer eine solche Gefahr auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder auf Grund einer "Verwestlichung".

5. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben. Es begründet die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten damit, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe. Diesbezüglich führt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aus:

"Laut den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 ist eine interne Schutzalternative ua nur dann zumutbar, wenn die betroffene Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, die betroffene Person tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis stellen alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen.

EASO prüft in seiner Country Guidance von Juni 2019 spezielle Personenprofile im Hinblick auf die Frage der Zumutbarkeit einer internen Schutzalternative in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul. Dabei kommt EASO für das Personenprofil jener Gruppe von Personen, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben zum Ergebnis, dass diesen Personen in der Regel keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht, wenn sie an diesem Ort kein Unterstützungsnetzwerk vorfinden. Allerdings ist dabei auf die konkreten Umstände eines jeden Rückkehrers besonders Bedacht zu nehmen. In diesem Zusammenhang hat der Verfassungsgerichtshof jüngst in seiner Entscheidung vom 12.12.2019, Zahl: E3369/2019 festgehalten, dass es im Einzelfall einer Begründung bedürfe, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es einem Beschwerdeführer dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren.

[…] Beim BF handelt es sich um einen gesunden, jungen Mann im erwerbsfähigen Alter mit rudimentärer Schulbildung (zwei- oder drei Jahre) und Berufserfahrung als Hilfsarbeiter am Bau, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben auch weiterhin vorausgesetzt werden kann. Der BF kann seine Existenz mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten in den Städten Mazar-e Sharif und Herat sichern, wobei ihm seine Schulausbildung und seine Berufserfahrung zugutekommen.

Der BF verfügt zwar über keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in afghanischen Großstädten; er ist jedoch in einem afghanischen sozialen Umfeld aufgewachsen, wodurch er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und der Sprache vertraut ist. Zudem gehört der BF keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.

Zudem kann der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise in den Städten Mazar-e Sharif und Herat das Auslangen finden; deshalb ist auch nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnte."

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungs-gesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Insbesondere wird darin bemängelt, dass das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Situation des Beschwerdeführers, der lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt habe und in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge, zwar die Country Guidance des EASO berücksichtigt, aber nicht begründet habe, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer möglich sei, nach Afghanistan zurückzukehren. Die geringe Schuldbildung, die Berufserfahrung als Hilfsarbeiter sowie der gute Gesundheitszustand des Beschwerdeführers begründeten keine von der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes geforderten besonderen Umstände. Das Bundesverwaltungsgericht hätte aus diesen Gründen nicht davon ausgehen dürfen, dass eine Rückkehr nach Afghanistan sicher sei.

7. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und der Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen seiner Feststellungen zunächst allgemein auf das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 13.11.2019", auf den "EASO-Bericht von Juni 2019" sowie auf die "UNHCR-Richtlinien Afghanistan vom 30.08.2018".

2.2. Aus der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2019, auf die sich das Bundesverwaltungsgericht entscheidungswesentlich stützt, geht hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019, jeweils mwN; vgl auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat.

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zunächst – mit Blick auf die dargestellte Berichtslage grundsätzlich zutreffend – aus, dass nach der EASO-Country Guidance jener Gruppe von Personen, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, in der Regel keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht, wenn sie an diesem Ort kein Unterstützungsnetzwerk vorfinden.

Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch aus folgenden Gründen davon aus, dass das Personenprofil des Beschwerdeführers die im Länderbericht des EASO angeführten Kriterien erfüllt und somit besondere Umstände vorlägen, die dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar machten: Zwar verfüge der Beschwerdeführer über keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in jenen Städten, die als Rückkehrorte für den Beschwerdeführer in Frage kommen. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, junger Mann im erwerbsfähigen Alter, der die Erstsprache Dari mit persischem Akzent, daneben auch Farsi sowie Deutsch auf Niveau B1 spreche und eine eingeschränkte Schreib- und Lesekompetenz in seiner Erstsprache Dari sowie in Farsi aufweise. Der Beschwerdeführer habe eine zwei- bis dreijährige rudimentäre Schulbildung im Iran erhalten und zudem Berufserfahrung als ungelernter Arbeiter auf Baustellen gewonnen und seinen Lebensunterhalt mit Hilfsarbeiten verdient. Er sei in einem afghanischen sozialen Umfeld (aber außerhalb Afghanistans) aufgewachsen, weshalb er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei.

Damit verkennt aber das Bundesverwaltungsgericht die Bedeutung der hier maßgeblichen Kriterien in einer qualifizierten, in die Verfassungssphäre reichenden Weise. Diese Kriterien dienen dazu zu ermitteln, ob in der konkreten Situation des Beschwerdeführers besondere Umstände vorliegen, die es ihm, obwohl er sein bisheriges Leben seit dem frühen Kindesalter außerhalb Afghanistans verbracht hat, zumutbar erscheinen lassen, am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme seine grundlegenden existenziellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Solche besonderen Umstände können demzufolge in einem insbesondere familiären Unterstützungsnetzwerk oder in sonstigen besonderen Verbindungen ebenso liegen wie in einer entsprechenden Ausbildung oder Berufserfahrung, die, weil sie auch außerhalb Afghanistans gegeben wäre, auf eine entsprechende Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers schließen lässt. Die Tatsachen alleine, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen gesunden, jungen Mann im erwerbsfähigen Alter handelt, der, weil er in einer afghanischen Familie aufgewachsen ist, mit den afghanischen kulturellen Gepflogenheiten vertraut ist, reichen als einschlägiges Personenprofil, im Unterschied zu alleinstehenden, gesunden und erwerbsfähigen Männer, die in Afghanistan aufgewachsen sind, für Personen wie den Beschwerdeführer nicht aus.

Nun verfügt der Beschwerdeführer, wie das Bundesverwaltungsgericht feststellt, über kein einschlägiges Unterstützungsnetzwerk in oder sonstige besondere Verbindungen zu Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat, wie das Bundesverwaltungsgericht ebenso feststellt, auch bloß eine zwei- bis dreijährige rudimentäre Schulbildung und dementsprechend nur eine eingeschränkte Schreib- und Lesekompetenz. Als Berufserfahrung liegen schließlich, wie sich ebenfalls aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes ergibt, nur Tätigkeiten als ungelernter Hilfsarbeiter vor (wobei die einschlägigen Tätigkeiten des Beschwerdeführers im Iran wesentlich im Kindesalter erfolgten). Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es diesbezüglich zu prüfen, inwieweit der Beschwerdeführer damit über eine solche Berufserfahrung verfügt, die begründet vermuten lässt, dass er sich in seiner konkreten Rückkehrsituation selbst erhalten kann.

Wenn das Bundesverwaltungsgericht angesichts dieses Personenprofils des Beschwerdeführers dennoch die im Länderbericht des EASO angeführten Kriterien in einem Ausmaß als erfüllt ansieht, dass dem Beschwerdeführer mit Blick auf die Herausforderungen bei einer Rückkehr von Menschen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine solche zumutbar erscheinen lässt, verkennt es die Bedeutung dieser Kriterien in einer so qualifizierten Weise, dass es sein Erkenntnis – soweit es sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht – mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E1887.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.11.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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