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E2D Assoziierung TürkeiNorm
ARB1/80Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des S G in H, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH, Dr. Wilfried Ludwig Weh, Mag. Stefan Harg, 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das am 11. Dezember 2019 mündlich verkündete und mit 15. Jänner 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L521 2220300-1/29E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Begleitaussprüchen sowie eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein 1984 geborener türkischer Staatsangehöriger, lebt seit 25. Februar 2004 in Österreich. Er heiratete am 4. April 2006 eine österreichische Staatsbürgerin, der Ehe entstammt ein am 19. August 2008 geborener Sohn, der ebenfalls österreichischer Staatsbürger ist. Der Revisionswerber verfügte zuletzt über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 3. November 2015 wurde über ihn wegen der Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 und 4 StGB sowie der Begünstigung nach § 299 Abs. 1 StGB eine Geldstrafe von 200 Tagessätzen verhängt. Er hatte am 6. Mai 2015 in Hohenems im Zuge eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch ausgesagt sowie eine andere Person dadurch strafrechtlicher Verfolgung absichtlich entzogen.
3 Mit weiterem rechtskräftigem Urteil vom 19. Dezember 2017 verhängte das Landesgericht Feldkirch über ihn wegen der Vergehen des Suchtgifthandels sowie des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten. Er hatte zwischen Mai 2016 und 19. Jänner 2017 einerseits mit einem Mittäter insgesamt rund 125 g Kokain im Zuge grenzüberschreitender Transporte nach Vorarlberg aus- bzw. eingeführt und andererseits rund 80 g Kokain sowie 50 g Cannabis durch Verkäufe Drogenabnehmern überlassen. Er hatte die Straftaten vorwiegend deswegen begangen, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder die Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Weiters hatte er im genannten Zeitraum zum persönlichen Gebrauch unbestimmte Mengen an Kokain (aus Inlandsbezügen) konsumiert.
4 Schließlich wurde über den Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Geschworenengericht vom 19. Oktober 2017, abgeändert durch Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 11. April 2018, wegen des Verbrechens des versuchen schweren Raubes - mit Bezug auf das letztgenannte Urteil - eine Zusatzstrafe von 4 Jahren und 2 Monaten verhängt. Er hatte am 21. Oktober 2016 in Feldkirch im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei Mittätern versucht, sich durch einen bewaffneten Raubüberfall im Haus seines Opfers Bargeld und Suchtgift zu beschaffen, was jedoch scheiterte.
5 Nach Verbüßung von zwei Dritteln der genannten Freiheitsstrafen wurde der Revisionswerber am 29. Oktober 2019 gemäß § 46 Abs. 1 StGB bedingt aus dem Strafvollzug entlassen.
6 Mit Bescheid vom 15. Mai 2019 hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bezug auf diese Straftaten gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen. Das BFA stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 5 FPG erließ es ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 55 FPG bestimmte es als Frist für die freiwillige Ausreise des Revisionswerbers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
7 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung (vom 11. Dezember 2019) verkündeten Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass das über ihn verhängte Einreiseverbot auf die Dauer von 4 Jahren erhöht werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Begründend verwies das BVwG auf die dargestellte - schwere Verbrechen umfassende - Delinquenz des Revisionswerbers. Während des Strafvollzuges sei dem Revisionswerbers elektronisch überwachter Hausarrest bewilligt worden, den er am 18. April 2019 angetreten habe. Ihm sei die Durchführung einer ambulanten Drogentherapie sowie die Absolvierung eines Anti-Gewalt-Trainings aufgetragen worden. Nachdem der Revisionswerber trotz schriftlicher Ermahnung Termine nicht eingehalten, gegen ihn (im Bewilligungsbescheid) auferlegte Weisungen verstoßen und ohne Rücksprache mit der Justizanstalt versucht habe, seinen Arbeitsplatz zu wechseln, sei die Bewilligung bereits am 21. Juni 2019 widerrufen und seine Überstellung in den Normalvollzug angeordnet worden. Eine dagegen erhobene Beschwerde sei ohne Erfolg geblieben. Selbst nach der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug habe der Revisionswerber - wie von ihm selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG eingeräumt - (näher dargestellte) Kontakte zur Drogenszene unterhalten.
Der nach der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug gemeinsam mit Ehegattin und Sohn lebende Revisionswerber sei zuletzt drogenabstinent gewesen und habe seine Therapien begonnen, die demnach erst am Anfang stünden. Das Vorliegen eines Wohlverhaltens in Freiheit von maßgeblicher Dauer sei jedoch zu verneinen. Dazu komme auch seine gezeigte Unzuverlässigkeit; nicht einmal die Möglichkeit, dem Haftübel zu entgehen und in den Kreis seiner Familie zurückkehren zu können, habe ihn zu einem weisungskonformen Verhalten motiviert. Bereits davor sei sein Betragen in der Haft (zu erwähnen seien etwa Kokainkonsum während der Untersuchungshaft sowie die Verhängung einer Geldbuße wegen unerlaubten Besitzes eines Mobiltelefons) nur als durchschnittlich beschrieben worden.
Die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach dem anzuwendenden § 52 Abs. 5 FPG sowie eines Einreiseverbotes lägen vor. Die Dauer des Einreiseverbotes sei auf das (angesichts der Begehung von zwei schweren Verbrechen sowie des beschriebenen Folgeverhaltens) angemessene Maß von vier Jahren zu erhöhen gewesen.
9 Im Rahmen seiner Abwägung nach § 9 BFA-VG berücksichtigte das BVwG insbesondere, dass der Revisionswerber bis zum 22. Jänner 2016 nahezu durchgehend einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und in beruflicher Hinsicht integriert gewesen sei. Er weise für den Alltagsgebrauch ausreichende „Wortschatzkenntnisse“ der deutschen Sprache auf, die für eine Konversation in alltäglichen Situationen ausreichten, in der mündlichen Verhandlung habe er allerdings einen Dolmetscher benötigt; eine Prüfung über Deutschkenntnisse habe er nicht abgelegt. Seine Ehegattin sei neuerlich schwanger, der vermutliche Geburtstermin liege im Februar 2020. Abgesehen von der Ehefrau und seinem Sohn lebten in Österreich seine Eltern, sein Bruder, eine Tante und Cousins.
Allerdings verfüge der Revisionswerber auch im Herkunftsstaat über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte. Mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht, die Sozialisierung erfahren habe, die Landessprache auf Muttersprachenniveau beherrsche und wohin er sich zwischen 2014 und 2016 (trotz ursprünglichen Leugnens in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG) jeweils mehrmals zu Urlaubs- und Freizeitzwecken begeben habe, sei zu rechnen.
Unter Berücksichtigung der hohen aufrechten - ungeachtet des familiären Umfeldes jahrelang gezeigten - Gefährlichkeit sowie der Unzuverlässigkeit des Revisionswerbers seien - auch nach dem von ihm in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck - bei Abwägung der dargestellten Fakten die individuellen - vor allem familiären - Interessen an einem Verbleib in Österreich nicht so ausgeprägt, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen könnten. Kontakte zu den Angehörigen könnten anderweitig aufrechterhalten werden.
Weiters sei anzumerken, dass dem Revisionswerber Strafaufschub nach § 39 Abs. 1 SMG gewährt worden sei, sodass die Rückkehrentscheidung aktuell - und auch nach dem erwarteten Geburtstermin seines zweiten Kindes - noch nicht durchsetzbar sei. Nach dem Ende dieses Aufschubs im Jahr 2021 käme eine Neubeurteilung der Situation in Betracht.
10 Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision erweist sich als unzulässig.
Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 Unter diesem Gesichtspunkt bemängelt der Revisionswerber der Sache nach vor allem die vom BVwG nach mündlicher Verhandlung getroffene Gefährdungsprognose und die nach § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung.
Dazu ist vorweg anzumerken, dass das BVwG die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ungeachtet der ARB-Berechtigung des Revisionswerbers und seines rund 16-jährigen rechtmäßigen Aufenthaltes in Österreich zutreffend vor dem Hintergrund des § 52 Abs. 5 FPG prüfte (vgl. VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 29).
13 Im Übrigen ist dem Revisionswerber zu entgegnen, dass die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen - wenn sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose und die Bemessung der Dauer eines Einreiseverbots (vgl. etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0139, Rn. 8, und VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0276, Rn. 8, jeweils mwN).
14 Das in Bezug auf die genannten Gesichtspunkte vom BVwG fallbezogen erzielte Ergebnis kann aber angesichts der vom Revisionswerber begangenen Straftaten sowie der wiedergegebenen fallbezogenen Umstände jedenfalls nicht als unvertretbar angesehen werden, zumal die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug unter Berücksichtigung des erwähnten Strafaufschubs nach § 39 SMG erst am 29. Oktober 2019 erfolgt ist, sodass von einer hinreichend langen Zeit des Wohlverhaltens in Freiheit keine Rede sein kann.
15 Das BVwG hat nämlich zutreffend darauf hingewiesen, dass der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat. Dabei ist der Beobachtungszeitraum umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden in der Vergangenheit manifestiert hat (vgl. dazu etwa VwGH 4.3.2020, Ra 2020/21/0035, Rn. 11, mwN).
Das BVwG hat sich im Rahmen der Interessenabwägung aber auch ausreichend mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass der Revisionswerber ein - mittlerweile geborenes - weiteres Kind erwartete.
16 Soweit der Revisionswerber moniert, das BVwG habe unberücksichtigt gelassen, dass seine österreichische Ehefrau „unionsrechtlich gewandert“ wäre, steht dem das Neuerungsverbot entgegen (§ 41 VwGG). Dieses gilt - entgegen der Revision - auch in Angelegenheiten des Unionsrechts (vgl. grundlegend VwGH 10.10.2011, 2008/17/0113, Punkt 2.1.4. der Entscheidungsgründe, und mit Verweis darauf aus jüngerer Zeit etwa VwGH 19.10.2017, Ro 2015/16/0024, Rn. 37; siehe auch VwGH 25.6.2019, Ro 2018/10/0028, Rn. 19).
17 Soweit das BVwG schließlich das zuletzt gezeigte Verhalten des Revisionswerbers berücksichtigte, ging es nur (dessen eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung vom 11. Dezember 2019 folgend) von aufrechten Kontakten zur Drogenszene aus. Von der Berücksichtigung eines weiteren strafbaren Verhaltens zu seinen Lasten sowie einer Verletzung der Unschuldsvermutung kann daher - entgegen der Revision - nicht die Rede sein.
18 Auch die Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes ist fallbezogen angesichts des vom BVwG festgestellten Sachverhalts nicht zu beanstanden.
19 Der Revision gelingt es somit insgesamt nicht, eine für die Lösung des vorliegenden Falles wesentliche grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG aufzuzeigen, weshalb sie gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen war.
Wien, am 29. September 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210064.L00Im RIS seit
17.11.2020Zuletzt aktualisiert am
17.11.2020