TE Vwgh Beschluss 2020/9/29 Ra 2019/21/0400

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.09.2020
beobachten
merken

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des G S in W, vertreten durch Rast & Musliu Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. November 2019, W163 2153368-1/13E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers, eines indischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. März 2017, mit dem sein Antrag vom 10. März 2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen erlassen worden war, als unbegründet ab.

2        Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der Revisionswerber am 20. Juli 2004 unrechtmäßig in Österreich eingereist sei und am selben Tag unter Angabe falscher Identitätsdaten einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Mit Aktenvermerk vom 26. Juli 2004 sei das Asylverfahren eingestellt worden, weil sich der Revisionswerber ungerechtfertigt aus der Erstaufnahmestelle entfernt habe. Im Jänner 2006 sei er in Wien betreten worden. In der Zwischenzeit habe er ohne arbeitsmarktbehördliche Bewilligung in einem Chinarestaurant gearbeitet. Am 23. Mai 2006 sei er nach Zurückweisung seines Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 1997 wegen der Zuständigkeit der Slowakei (mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 16. Februar 2006, bestätigt durch Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1. April 2006) dorthin überstellt worden. Bis 10. Oktober 2006 habe er sich in der Slowakei aufgehalten und sei dann nach Österreich zurückgekehrt.

3        Seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz habe er - wieder unter Angabe falscher Identitätsdaten - am 2. Dezember 2008 gestellt. Bei der Erstbefragung habe er ausgeführt, im Oktober 2006 mit dem Zug nach Italien gefahren und von dort nach Indien geflogen zu sein, wo er abermals verfolgt worden wäre; am 1. Dezember 2008 wäre er wieder am Flughafen Wien-Schwechat gelandet. Der Antrag sei mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. März 2009 vollumfänglich in Verbindung mit einer Ausweisung nach Indien abgewiesen worden. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 31. August 2009 abgewiesen worden.

4        Am 6. November 2009 sei bei der indischen Botschaft die Ausstellung eines Heimreisezertifikats beantragt worden. Zahlreiche Urgenzen zwischen Jänner 2009 und August 2012 seien erfolglos geblieben.

5        Mit Schriftsatz vom 14. Jänner 2016 habe der Rechtsvertreter des Revisionswerbers eine Geburtsurkunde samt beglaubigter Übersetzung übermittelt und - unter Angabe eines anderen Vornamens und Geburtsdatums als bisher - um „Richtigstellung der Personaldaten“ ersucht. Am 22. Februar 2016 sei unter Anschluss der Geburtsurkunde neuerlich eine Urgenz bezüglich eines Heimreisezertifikats an die indische Botschaft gerichtet worden.

6        Am 10. März 2016 habe der Revisionswerber unter den nunmehr bekannt gegebenen Identitätsdaten den gegenständlichen Antrag gestellt.

7        Anlässlich der Identitätsprüfung zu Beginn der am 20. Dezember 2018 im nunmehrigen Beschwerdeverfahren durchgeführten mündlichen Verhandlung habe sich der Revisionswerber mit einem am 3. Jänner 2018 ausgestellten indischen Reisepass (lautend auf seine aktuelle Identität) ausgewiesen.

8        In der Verhandlung sein Zeugnis über die Integrationsprüfung und die Sprachkompetenz des Niveaus B1 vorgelegt worden.

9        Der Revisionswerber habe in Indien zehn Jahre lang die Schule besucht und sei dort nicht erwerbstätig gewesen. Seine Eltern und seine Schwester lebten weiterhin in Indien, ein Bruder lebe in Frankreich. In Österreich arbeite der Revisionswerber als Zeitungszusteller und verdiene € 500,-- monatlich. Er habe Einstellungszusagen als Küchenhelfer in einer Pizzeria, als Zeitungszusteller und als Transportfahrer.

10       An seinem Wohnort sei er sozial vernetzt. Er pflege Freundschaften und Bekanntschaften und nehme am Sozialleben teil. Seit Mai 2019 pflege er eine „freundschaftliche Beziehung“ zu einer in Österreich lebenden Frau, die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ verfüge. Eine künftige Eheschließung sei nicht ausgeschlossen, sie lebten aber nicht in einem gemeinsamen Haushalt.

11       Zur Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers mit insgesamt 14 Jahren und elf Monaten (von Juli 2004 bis Mai 2006 sowie seit Oktober 2006) sehr lang sei, sodass ihr ein entsprechend großes Gewicht zu seinen Gunsten zukomme. Diese lange Aufenthaltsdauer sei aber dadurch stark relativiert, dass der Revisionswerber sich bereits seit zehn Jahren und zwei Monaten durchgehend unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Auch dazwischen seien Zeiten unrechtmäßigen Aufenthalts gelegen (während der Einstellung des ersten Asylverfahrens und vor der Stellung seines zweiten Antrags), sodass von den 14 Jahren und elf Monaten seines Inlandsaufenthalts insgesamt 13 Jahre und ein Monat unrechtmäßig seien. Seit dem negativen Abschluss seines zweiten Asylverfahrens verstoße er laufend gegen seine Ausreiseverpflichtung, dies obwohl er seit Jänner 2018 im Besitz eines gültigen indischen Reisepasses sei.

12       Die lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers sei auch darin begründet, dass er über knapp zwölf Jahre hinweg unter einer bewusst falsch angegebenen Identität gelebt habe. Auf Basis der falschen Identitätsdaten hätten die mehrjährigen behördlichen Bemühungen zur Erlangung eines Heimreisezertifikats erfolglos bleiben müssen. Der Revisionswerber habe es also durch die absichtlich falschen Identitätsangaben geschafft, die Effektuierung der gegen ihn ergangenen Ausweisung zu verhindern. Dafür sei sein Verhalten jedenfalls bis Jänner 2016 kausal gewesen.

13       Die Dauer der Verfahren sei jeweils angemessen gewesen. Aus dem Verhalten des Revisionswerbers werde deutlich, dass er beide Anträge auf internationalen Schutz nur deshalb gestellt habe, um seinen Aufenthalt in Österreich zu legalisieren, nicht aber, weil er internationalen Schutzes bedurft hätte: Dies zeige sich erstens darin, dass er sich wenige Tage nach Antragstellung im Juli 2004 ungerechtfertigt aus der Erstaufnahmestelle entfernt habe, um in Wien zu arbeiten; zweitens habe er die zweite Antragstellung wahrheitswidrig damit begründet, dass er zwischenzeitig nach Indien zurückgekehrt und dort fortgesetzt verfolgt worden sei, was sich - wie er selbst eingeräumt habe - als Unwahrheit herausgestellt habe. Zusammenschauend zeige sich, dass der Revisionswerber in Österreich zwei Anträge auf internationalen Schutz gestellt habe, obwohl er dessen gar nicht bedurft habe, was ihm auch bewusst gewesen sei.

14       Andererseits verfüge der Revisionswerber über Bindungen zum Herkunftsstaat, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht habe und wo noch seine Eltern und seine Schwester lebten.

15       Zu Gunsten des Revisionswerbers würden die von ihm erworbenen grundlegenden Deutschkenntnisse und die Integrationsprüfung gewichtet, ebenso seine Einstellungszusagen. Mit seiner derzeit ausgeübten Erwerbstätigkeit verstoße er allerdings mangels Aufenthaltsberechtigung gegen verwaltungsrechtliche Vorschriften.

16       Auch seine sozialen Bindungen würden zu seinen Gunsten berücksichtigt. Das Privatleben sei allerdings beinahe ausschließlich in einem Zeitraum begründet worden, in dem sich der Revisionswerber seines unsicheren bzw. unrechtmäßigen Aufenthalts bewusst gewesen sei.

17       Trotz der sehr langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers und der sprachlich grundlegenden und wirtschaftlich minimal ausgeprägten Integration sowie der sozialen Vernetzung stehe letztlich seinen persönlichen Interessen ein gravierend verstärktes öffentliches Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung entgegen; dies im Hinblick auf den unrechtmäßigen Aufenthalt und den beharrlichen Verbleib nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens, die Ausübung von Erwerbstätigkeiten ohne einen Aufenthaltstitel mit entsprechendem Zweckumfang, die zweifache unberechtigte Asylantragstellung, die Angabe falscher Identitätsdaten, die für den langen Verbleib im Inland mitursächlich gewesen sei, und die zahlreichen Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften.

18       Auf Grund dieser Erwägungen sei davon auszugehen, dass die Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen aus der Sicht der öffentlichen Ordnung in den Hintergrund träten. Das BFA sei sohin zu Recht davon ausgegangen, dass die öffentlichen Interessen an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie an einem geordneten Zuwanderungswesen im vorliegenden Fall schwerer wögen als die privaten Interessen des Revisionswerbers.

19       Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sei somit zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG und Art. 8 EMRK nicht geboten.

20       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

21       Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich (u.a.) wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG „nicht zur Behandlung eignen“, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

22       An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen dieser in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

23       Unter diesem Gesichtspunkt bringt die Revision - nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerde (VfGH 14.7.2020, E 2143/2020) - vor, dass das Bundesverwaltungsgericht bei der Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers und der erreichten Integration von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere vom Erkenntnis VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243, abgewichen sei.

24       Dem genannten Erkenntnis lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem das Bundesverwaltungsgericht die Aufenthaltsdauer des betreffenden Fremden dadurch als relativiert angesehen hatte, dass der unrechtmäßige Aufenthalt bereits mehr als sieben Jahre angedauert habe und der Revisionswerber mehrfachen Aufforderungen, Österreich zu verlassen, nicht nachgekommen sei, sowie an behördlichen Anstrengungen zur Erlangung eines Heimreisezertifikates nicht mitgewirkt habe. Dem hielt der Verwaltungsgerichtshof entgegen, dass die Bedeutung dieser Umstände in einem Fall, der durch einen knapp vierzehnjährigen Inlandsaufenthalt gekennzeichnet sei, nicht überbewertet werden dürfe, zumal nicht ausgeklammert werden könne, dass das Asylverfahren des Revisionswerbers, ohne dass ihm das erkennbar anzulasten sei, länger als sechs Jahre gedauert habe; dem Vorwurf, dass der Revisionswerber nicht an der Ausstellung eines Heimreisezertifikates mitgewirkt habe, stehe gegenüber, dass sich die Behörden damit über Jahre hindurch schlichtweg abgefunden hätten.

25       Der vorliegende Fall ist zwar ebenfalls durch einen sehr langen (hier: insgesamt fast fünfzehnjährigen) Inlandsaufenthalt gekennzeichnet. Beide Asylverfahren des Revisionswerbers wurden aber - unter Ausklammerung der Zeit der Einstellung des ersten Verfahrens - binnen kurzer Frist abgeschlossen. Auch kann der Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen getreten werden, dass beide Anträge von vornherein im Bewusstsein gestellt wurden, keines internationalen Schutzes zu bedürfen. Vor allem aber durfte das Bundesverwaltungsgericht zu Lasten des Revisionswerbers gewichten, dass er seine Außerlandesbringung durch die Angabe falscher Identitätsdaten so lange verhindert hat, bis er angesichts der mittlerweile erreichten Aufenthaltsdauer einen aus seiner Sicht erfolgversprechenden Antrag nach § 55 AsylG 2005 stellen konnte; erst unmittelbar vor dieser Antragstellung gab er seine richtigen Identitätsdaten bekannt, mit denen es ihm schließlich auch problemlos möglich war, einen indischen Reisepass zu erlangen (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0183, oder VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0113). Dass die Behörde dann während des Verfahrens über den Antrag nach § 55 AsylG 2005 keine erkennbaren Schritte zur Abschiebung mehr setzte, ändert nichts daran, dass die falschen Identitätsangaben für die lange Aufenthaltsdauer zumindest in maßgeblicher Weise mitursächlich waren.

26       Davon ausgehend durfte das Bundesverwaltungsgericht die Aufenthaltsdauer als entscheidend relativiert ansehen und insgesamt nach Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in einer mündlichen Verhandlung bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG, in der es ohnedies alle zu Gunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände berücksichtigt hat, in vertretbarer Weise zu einem betreffend die Voraussetzungen für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels negativen Ergebnis kommen. Das steht nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Zulässigkeit einer Revision entgegen (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0340, Rn. 14, mwN).

27       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 29. September 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210400.L00

Im RIS seit

17.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten