TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/5 Ra 2020/19/0092

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Veröffentlicht am 05.10.2020
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
VwGVG 2014 §17

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/19/0093
Ra 2020/19/0094

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revisionen 1. des M M, 2. der A T, und 3. des A M, alle vertreten durch Dr. Markus Bachmann, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rathausstraße 5/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2020, 1.) W147 2204931-1/17E, 2.) W147 2204932-1/14E und 3.) W147 2210310-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das erstangefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Die weiteren angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern des in Österreich geborenen Drittrevisionswerbers. Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten am 20. Oktober 2015 und der Drittrevisionswerber am 19. September 2018 Anträge auf internationalen Schutz.

2        Der Erstrevisionswerber gab zu seinen Fluchtgründen an, er habe an einer islamischen Universität in Kiew ein Studium absolviert. Die Absolventen dieser Universität würden aufgrund ihrer religiösen Überzeugung von den tschetschenischen Machthabern als Angehörige einer Sekte angesehen und verfolgt. Nachdem er aus der Ukraine nach Tschetschenien zurückgekehrt sei, sei der Erstrevisionswerber von maskierten Männern abgeholt, festgehalten und mit dem Tod bedroht worden. Dabei sei ihm mitgeteilt worden, dass für Absolventen der von ihm besuchten Universität in Kiew in seinem Herkunftsstaat nach dem Befehl des tschetschenischen Präsidenten „kein Platz“ sei. Es habe ihm die Ermordung in der gesamten Russischen Föderation gedroht, da er von den Sicherheitskräften des Präsidenten im ganzen Land gefunden worden wäre. Die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber beriefen sich auf die Fluchtgründe des Erstrevisionswerbers. Die Zweitrevisionswerberin ergänzte, sie sei wegen Aktivitäten ihres Vaters in Gefahr, Opfer von Blutrache zu werden.

3        Mit Bescheiden vom 31. Juli 2018 hinsichtlich des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin und vom 17. Oktober 2018 hinsichtlich des Drittrevisionswerbers wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz jeweils ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebungen der revisionswerbenden Parteien in die Russische Föderation zulässig sei, und setzte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4        Die revisionswerbenden Parteien erhoben dagegen Beschwerden und führten konkretisierend aus, die Richtung des Islam, der der Erstrevisionswerber angehöre und die an der von ihm absolvierten islamischen Universität in der Ukraine gelehrt werde, werde als „Habaschiten“ bezeichnet. Es handle sich um eine tolerante Strömung des sunnitischen Islam, die von „orthodoxen islamischen Richtungen“ angefeindet werde. Von den tschetschenischen Machthabern - insbesondere dem tschetschenischen Präsidenten - sei öffentlich geäußert worden, dass sie die Habaschiten bekämpfen und ihre Präsenz im Land nicht dulden würden. Zum Nachweis dieses Vorbringens verwiesen die revisionswerbenden Parteien auf diverse Berichte über die Habaschiten, die vom Erstrevisionswerber besuchte Universität sowie Aussagen des tschetschenischen Präsidenten und legten eine DVD vor, auf der sich Aufzeichnungen der genannten im staatlichen tschetschenischen Fernsehen gemachten Aussagen des tschetschenischen Präsidenten befinden sollen.

5        Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab. Unter einem sprach das BVwG jeweils aus, dass Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig seien.

6        Unter der Überschrift „Feststellungen“ führte das BVwG aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten oder sie bei einer Rückkehr mit „maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten“ hätten.

7        Gestützt auf Länderberichte traf das BVwG Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation. Aus diesen Feststellungen ist hervorzuheben, dass der Präsident Tschetscheniens seine eigenen Ansichten bezüglich des Islam „durchsetze“ und es in Tschetschenien zu Menschenrechtsverletzungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regionalregierung, wie „Verschwindenlassen“, Folter und Misshandlungen sowie „außergerichtlichen Hinrichtungen“ komme.

8        Im Zuge seiner Beweiswürdigung gab das BVwG an, die Darstellung des Erstrevisionswerbers über seine Erlebnisse in Tschetschenien - nämlich die Bedrohung durch maskierte Personen - sei nicht glaubwürdig. Dasselbe gelte auch für die unsubstantiierten Behauptungen der Zweitrevisionswerberin, wonach ihr Blutrache drohe. Selbst bei „Wahrunterstellung des vorgebrachten Sachverhaltes“ wäre es den revisionswerbenden Parteien zudem „zumutbar“, im Herkunftsstaat „durch Niederlassung in einem anderen Landesteil“ zu leben.

9        In rechtlicher Hinsicht folgerte des BVwG, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien habe sich nicht als glaubhaft erwiesen. Den revisionswerbenden Parteien drohe bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat auch keine Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK, sodass der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abzuweisen sei.

10       Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden Revisionen, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

11       Die revisionswerbenden Parteien bringen zur Zulässigkeit ihrer Revisionen im Wesentlichen vor, das BVwG habe sich mit ihrem Vorbringen - nämlich insbesondere mit der Bedrohung des Erstrevisionswerbers aufgrund der von ihm vertretenen Richtung des Islam („Habaschiten“) - nicht auseinandergesetzt, zu diesem Vorbringen keine Ermittlungen durchgeführt und die vorgelegten Beweismittel ignoriert. Damit sei das BVwG von (näher genannter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Bei Vermeidung dieser Verfahrensfehler hätte sich ergeben, dass dem Erstrevisionswerber aufgrund der von ihm vertretenen Richtung des Islam in seinem Herkunftsstaat Verfolgung drohe.

12       Die Revisionen sind zulässig und berechtigt.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0245 bis 0249, mwN).

14       Die Verwaltungsgerichte haben neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (etwa VwGH 5.5.2020, Ra 2019/19/0460, mwN).

15       Es entspricht weiters der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Asylbehörden in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen haben (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2019/19/0386, mwN). Auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gilt das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2019/19/0032, mwN).

16       Im vorliegenden Fall hat der Erstrevisionswerber vorgebracht, Absolventen der von ihm besuchten islamischen Universität in Kiew bzw. Anhänger der dort vertretenen Glaubensrichtung des Islam - die „Habaschiten“ - seien in seinem Herkunftsstaat von Verfolgung bedroht. Eine Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen ist dem angefochtenen Erkenntnis nicht zu entnehmen. Die Ausführungen unter der Überschrift „Feststellungen“ lassen jeglichen konkreten Bezug zum Fluchtvorbringen vermissen. Auch im Zuge der Beweiswürdigung hat das BVwG sich weder damit beschäftigt, ob Anhänger der vom Erstrevisionswerber genannten Glaubensrichtung bzw. Absolventen der islamischen Universität in Kiew im Herkunftsstaat der revisionswerbenden Parteien Verfolgung ausgesetzt sind, noch ob dies gegebenenfalls auf den Erstrevisionswerber zutrifft. Dem folgend hat das BVwG zu diesem Vorbringen auch weder eigene Erhebungen durchgeführt, noch die von den revisionswerbenden Parteien vorgelegten Beweismittel in seine Beurteilung einbezogen.

17       Auch ausgehend davon, dass das BVwG die Schilderung der konkreten Ereignisse in Tschetschenien durch den Erstrevisionswerber nicht als glaubwürdig erachtet hat, hätte es sich fallbezogen mit der vom Erstrevisionswerber vorgebrachten drohenden Verfolgung aufgrund seiner religiösen Überzeugung auseinandersetzen müssen. Die Beweiswürdigung hinsichtlich der Schilderungen des Erstrevisionswerbers ist in diesem Zusammenhang auch insoweit mangelhaft geblieben, als die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Erstrevisionswerbers zunächst eine Auseinandersetzung mit dem realen Hintergrund der Fluchtgeschichte unter Berücksichtigung der einschlägigen Berichtslage erfordert hätte.

18       Soweit das BVwG im Zuge seiner Beweiswürdigung ausführte, selbst bei „Wahrunterstellung des vorgebrachten Sachverhaltes“ wäre es den revisionswerbenden Parteien „zumutbar“, im Herkunftsstaat „durch Niederlassung in einem anderen Landesteil“ zu leben, wird das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 11 AsylG 2005 angesprochen.

19       Im Rahmen einer Wahrunterstellung ist es aber erforderlich, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Sachverhaltsvorbringens ausgegangen wurde. Bei der rechtlichen Beurteilung im Rahmen einer „Wahrunterstellung“ ist somit - soweit nicht ausdrücklich anderslautende Feststellungen getroffen werden - vom gesamten Vorbringen auszugehen (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0177, mwN).

20       Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des BVwG, die nicht erkennen lassen, ob das Vorbringen des Revisionswerbers, er werde aufgrund seiner religiösen Überzeugung bzw. seiner Eigenschaft als Absolvent der islamischen Universität in der Ukraine verfolgt, in die Erwägungen einbezogen wurde, nicht gerecht. Dazu tritt, dass das BVwG auch eine konkrete Prüfung der Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative - insbesondere der Zumutbarkeit ihrer Inanspruchnahme (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001) - hinsichtlich eines konkreten Teils der Russischen Föderation unterlassen hat. Auf dieser Grundlage ist daher eine Überprüfung des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht möglich, sodass auch diese Alternativbegründung die Beurteilung des BVwG nicht zu tragen vermag.

21       Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das hinsichtlich des Erstrevisionswerbers ergangene Erkenntnis infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

22       Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die Zweitrevisionswerberin und den Drittrevisionswerber als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Erkenntnisse, die daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben waren (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0293, mwN).

23       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190092.L01

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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