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41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2019, W177 2135844-1/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: S A in S, vertreten durch Dr. Mario Züger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilergasse 16), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. bis A) IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 15. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass er von Bewohnern seines Heimatdorfes für den Brand einer Moschee verantwortlich gemacht und mit dem Umbringen bedroht werde.
2 Mit Bescheid vom 23. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Das BFA erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
3 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde. Mit mündlich verkündetem Beschluss vom 19. März 2019 stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) das Beschwerdeverfahren hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde ein (Spruchpunkt A. I.), erkannte dem Mitbeteiligten mit Erkenntnis vom selben Tag den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A. II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A. III.) und behob „die übrigen Spruchteile des angefochtenen Bescheides“ ersatzlos (Spruchpunkt A. IV.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.). Über Antrag der revisionswerbenden Partei erging am 25. November 2019 eine schriftliche Ausfertigung dieses Erkenntnisses im Umfang der Spruchpunkte A. II. bis A. IV.
4 Begründend führte das BVwG - soweit für den vorliegenden Revisionsfall von Bedeutung - aus, der Mitbeteiligte sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, spreche Paschtu und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er sei am 12. Februar 1997 in der afghanischen Provinz Baghlan geboren, habe Afghanistan im Juli 2015 verlassen, sei über Pakistan nach Europa gereist und seither nicht mehr in Afghanistan gewesen. Der Mitbeteiligte habe in Afghanistan vier Jahre lang die Schule besucht, aber keine Berufserfahrung gesammelt. Er sei gesund und arbeitsfähig.
5 Die Familie des Mitbeteiligten bestehe aus seinen Eltern, seiner Schwester und seinen zwei Brüdern, die allesamt in Pakistan lebten. In seiner Heimatprovinz lebten noch seine Großmutter und sein Onkel samt dessen Familie. Eine finanzielle Unterstützung durch seine Familie oder die des Onkels sei bei einer Ansiedelung des Mitbeteiligten in Afghanistan „nicht zu erwarten“. Er stehe auch nicht mehr in Kontakt zu seiner in Kabul lebenden Tante und deren Familienangehörigen. Der Mitbeteiligte habe somit „keine familiären und sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan, auf die er im Falle einer Rückkehr zurückgreifen könnte“.
6 In seinen Feststellungen zur Situation im Herkunftsland hielt das BVwG unter anderem Folgendes fest:
„Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie.
[...]
Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.“
7 Beweiswürdigend führte das BVwG unter anderem aus, die Feststellung, dass die Familie des Mitbeteiligten oder sonstige in Afghanistan aufhältige Verwandte bei seiner Rückkehr nach Afghanistan „nicht in der Lage“ seien, diesen finanziell zu unterstützen, gründe sich auf dessen glaubhafte Angaben zu den Berufen und der Einkommenssituation seiner Familienangehörigen in der Einvernahme durch das BFA und in der mündlichen Verhandlung. Der Mitbeteiligte zähle zur Gruppe der jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männer. Er verfüge zusätzlich über eine „tragfähige“ Schulbildung und habe sich in Österreich weitergebildet. Allerdings habe er „kaum Berufserfahrung“ vorzuweisen, die es ihm ermöglichen würde, in seiner Heimat ausreichend Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Ebenso könne er nicht „von seiner in Pakistan lebenden Familie“ oder seinen „in Afghanistan lebenden Verwandten“, zu denen er teilweise keinen Kontakt mehr habe, unterstützt werden, weshalb eine Unterstützung durch die Familie ausgeschlossen werden könne. In Zusammenschau „mit den ins Verfahren eingeflossenen Länderberichten“ lasse sich „gut erkennen“, dass für den Mitbeteiligten in seinem Heimatland keine Alternativen für einen Aufenthalt bestünden (unter Hinweis auf eine in der Verhandlungsschrift dokumentierte - erkennbar vom Richter geäußerte - Bewertung der Berichte über die Situation im Herkunftsstaat). Aufgrund der Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte keinen Kontakt zu sonstigen „in Afghanistan lebenden Verwandten“ habe. Daher habe der Mitbeteiligte in Afghanistan weder familiären Rückhalt noch finde er dort ein tragfähiges soziales Netz vor.
8 In seiner rechtlichen Würdigung führte das BVwG aus, dem Mitbeteiligten sei eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Baghlan, die als volatile Provinz eingestuft sei, aufgrund der dort vorherrschenden Sicherheitslage „jedenfalls nicht zumutbar“. Die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat verneinte das BVwG. Die beiden Städte seien zwar sicher erreichbar, die Sicherheitslage stehe einer Ansiedlung nicht entgegen und die Versorgungslage sei trotz der Folgen der Dürre in den Provinzen Herat und Balkh „zumindest als grundlegend gesichert“ anzusehen. Laut den Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative jedoch „u.a. nur dann zumutbar“, wenn die betroffene Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft habe und man sich vergewissert habe, dass diese willens und in der Lage seien, die betroffene Person tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellten nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren dar.
9 EASO komme für das Personenprofil der „Antragsteller, welche außerhalb von Afghanistan geboren sind bzw. über einen sehr langen Zeitraum im Ausland gelebt haben“ zu dem Ergebnis, dass diesen die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative in den genannten Städten dann nicht zumutbar sein könne, wenn sie dort über keinerlei Unterstützungsnetzwerk verfügten, das ihnen bei der Bestreitung ihres Lebensunterhalts behilflich sein könne. Diesbezüglich sei bei der Prüfung auf folgende Teilaspekte Bedacht zu nehmen: Vorhandensein eines Unterstützungsnetzwerks, Ortskenntnisse und sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund des Antragstellers.
10 Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen Mann im erwerbsfähigen Alter mit geringer Schulbildung und ohne handwerkliche Fähigkeiten. Er verfüge über wenig Berufserfahrung im Einzelhandel; die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben könne bei ihm vorausgesetzt werden. Er sei in Afghanistan geboren und in seiner Heimatprovinz aufgewachsen, habe „aber nur kurze Zeit seines Lebens in dieser Provinz Afghanistans verbracht“, weshalb er über „keinerlei Ortskenntnisse und lediglich über geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten in Afghanistan“ verfüge. Der Mitbeteiligte habe keine aufrechten familiären Bezugspunkte oder „sonstigen intensiven sozialen Anknüpfungspunkte“ in Afghanistan und wäre daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan vorerst auf sich gestellt und gezwungen, in einer der afghanischen Großstädte nach Wohnraum und Arbeit zu suchen, ohne dort über irgendwelche Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Es sei auch nicht von einer finanziellen oder sonstigen Unterstützung des Mitbeteiligten durch Familienangehörige auszugehen. Daher sei der Beschwerde in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stattzugeben, dem Mitbeteiligten eine befristete Aufenthaltsbewilligung zu erteilen und die übrigen Spruchpunkte aufzuheben gewesen. Die ordentliche Revision wurde nicht zugelassen.
11 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A. II. bis A. IV. des angefochtenen Erkenntnisses. Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt sie - unter anderem - ein Abweichen von den im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Jänner 2018, Ra 2018/18/0001, dargelegten Kriterien für die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative vor und macht geltend, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere und der Verwaltungsgerichtshof auch im Hinblick auf den EASO-Leitfaden vom Juni 2018 und die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 klargestellt habe, dass das Vorhandensein eines sozialen Netzwerks in Mazar-e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität keine Voraussetzung für die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative sei (Hinweis auf VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0546). Auch mit dem Argument, der Mitbeteiligte habe nur eine „geringfügige“ Ausbildung erhalten und kaum Berufserfahrung, lege das BVwG nicht nachvollziehbar dar, weshalb es diesem nicht möglich wäre, in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen (Hinweis auf VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
12 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er die Zurück- oder Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
13 Die Revision ist aus den in ihr genannten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.
14 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Beurteilung in Bezug auf Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. VwGH 25.5.2016, Ra 2016/19/0036; 14.8.2019, Ra 2019/20/0347; 17.9.2019, Ra 2019/14/0160).
15 Soweit es die Beurteilung betrifft, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; 29.5.2019, Ra 2019/20/0208, mwN).
16 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, Rn. 123, mwN).
17 Weiters entspricht es in Bezug auf Afghanistan der - auch zur hier maßgeblichen Berichtslage ergangenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat (vgl. auch dazu VwGH Ra 2019/14/0153, Rn. 124, mwN, weiters zB VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0406; 15.4.2020, Ra 2019/20/0340, jeweils mwN).
18 Von dieser Rechtsprechung ist das Bundesverwaltungsgericht, das in seinen Erwägungen nicht aufzeigt, dass besondere Umstände des Einzelfalles vorgelegen wären, wonach anhand der den konkreten Fall betreffenden Feststellungen eine andere Einschätzung Platz zu greifen hätte, abgewichen.
19 Darüber hinaus lässt sich dem angefochtenen Erkenntnis keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme entnehmen, dass der Mitbeteiligte lediglich „über geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten in Afghanistan“ verfüge. Auf den Umstand, dass der Mitbeteiligte, der Afghanistan erst im Juli 2015 - sohin im Alter von 18 Jahren - verlassen habe, folglich in Afghanistan aufgewachsen ist und sozialisiert wurde, geht das BVwG in diesem Zusammenhang nicht ein (vgl. VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, weiters zu einer den gleichen Begründungsduktus wie das angefochtene Erkenntnis aufweisenden Entscheidung des BVwG vgl. VwGH 20.3.2020, Ra 2019/18/0194). Darauf, dass der Mitbeteiligte über keine detaillierten Ortskenntnisse betreffend die afghanischen Großstädte verfügt, kommt es hingegen nicht an; insoweit unterscheidet sich seine Situation nämlich nicht maßgeblich von jener, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in anderen Teilen Afghanistans aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. in diesem Sinne VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160; 26.2.2020, Ra 2019/18/0017).
20 Die in den Feststellungen des BVwG erwähnten Umstände, dass der Mitbeteiligte nur „geringe Schulbildung“, keine „handwerklichen Fähigkeiten“ und nur „wenig Berufserfahrung im Einzelhandel“ habe, vermögen eine nachvollziehbare Grundlage für die Annahme, dass es dem Mitbeteiligten nicht möglich wäre, in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen, nicht darzustellen (zum - ähnlichen - Argument fehlender „weiterführender“ Ausbildung vgl. VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
21 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 12. Oktober 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200001.L00Im RIS seit
24.11.2020Zuletzt aktualisiert am
24.11.2020