TE OGH 2020/9/16 6Ob98/20k

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Veröffentlicht am 16.09.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. R*****, geboren am ***** 1961, *****, vertreten durch Mag. Volker Flick und Mag. Eva Flick, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei I*****, geboren am ***** 1961, *****, vertreten durch Mag. Eleonore Neulinger, Rechtsanwältin in Irdning-Donnersbachtal, wegen Ehescheidung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Berufungsgericht vom 15. April 2020, GZ 2 R 51/20d-27, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Liezen vom 29. November 2019, GZ 3 C 9/19y-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung nunmehr zu lauten hat:

„Die am 10. 6. 1989 vor dem Standesamtsverband ***** geschlossene und zu Zahl ***** beurkundete Ehe der Parteien wird aus deren gleichteiligem Verschulden gemäß § 49 EheG geschieden.

Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit 151 EUR an Barauslagen bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit 357,50 EUR an Barauslagen bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Streitteile schlossen am 10. 6. 1989 vor dem Standesamtsverband ***** die zu Zahl ***** beurkundete Ehe, der zwei volljährige und selbsterhaltungsfähige Kinder entstammen.

Die Ehe verlief bis zum Jahr 2013 im Wesentlichen harmonisch. Der klagende Ehemann verdiente das Familieneinkommen und war beruflich stark gefordert, die beklagte Ehefrau kümmerte sich um den Haushalt und versorgte die Kinder. Bereits ab dem Jahr 2000 hatte der Mann allerdings einen Psychiater aufgesucht, wobei er der Frau gegenüber erklärt hatte, dass er „Psychohygiene“ betreiben wolle; die Frau hatte dies befürwortet. 2006 oder 2007 hatte der Mann der Frau gegenüber eröffnet, depressiv zu sein. Im Jahr 2010 oder 2011 hatte die Frau – versteckt in einem Kasten im gemeinsamen Haus – zwei Taschen mit Psychopharmaka des Mannes gefunden, worüber sie sehr erschrocken war. Der Mann hat ihre Fragen hiezu allerdings abgeblockt und sinngemäß erklärt, das gehe sie nichts an. Tatsächlich litt der Mann unter Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und Stimmungsschwankungen und war schnell genervt. Die Frau war diesen Launen ausgesetzt, bisweilen verhielt der Mann sich ihr gegenüber auch abweisend. In weiterer Folge distanzierten sich die Streitteile zunehmend voneinander; im Mai/Juni 2012 unternahmen sie zum letzten Mal eine gemeinsame Reise.

Kurze Zeit danach verübte der Mann einen Selbstmordversuch, indem er eine Überdosis Medikamente nahm. Die Frau fand ihn torkelnd und nicht ansprechbar auf der ehelichen Liegenschaft und verständigte die Rettung. Der Mann verließ allerdings das Krankenhaus auf eigenen Wunsch wieder, womit die Frau nicht einverstanden war. In weiterer Folge hatte der Mann mit starken Depressionen zu kämpfen, woraufhin er sich in psychiatrische Behandlung begab und eine Psychotherapie absolvierte. Die Frau hatte allerdings keine gute Meinung vom behandelnden Psychiater, weil der Mann bis zu fünf verschiedene Medikamente erhielt, was ihrer Ansicht nach viel zu viele waren; sie war außerdem der Ansicht, dass die Behandlungen dem Mann nichts bringen würden. Sie wollte ihm vielmehr dadurch helfen, dass sie ihm beispielsweise vorschlug, auf Kur zu gehen, ihm Ratgeber und Broschüren brachte und zu Terminen beim Psychiater und bei der Psychotherapie mitkommen wollte, um ihm zur Seite zu stehen. Tatsächlich fiel es ihr jedoch schwer, die Krankheit als solche aufzufassen und ein tieferes Verständnis dafür aufzubringen. Ihrer Ansicht nach hatten die Streitteile ein schönes Leben, ein Haus und die Kinder; es passte alles. Für eine Depression des Mannes bestand ihrer Ansicht nach keine Veranlassung, weshalb sie bisweilen auch unpassende Äußerungen ihm gegenüber tätigte wie etwa, dass in seiner Familie ohnehin alle depressiv seien, dass er sie nur sekkieren wolle oder dass er nur simuliere.

Der Mann wünschte sich Unterstützung bei der Bewältigung seiner Erkrankung und jemanden zum Reden, fühlte sich von der Frau jedoch unverstanden; er wollte mit ihr nicht über die Medikamente sprechen, die er einnahm. Er unternahm allerdings auch keinen Versuch, ihr klarzumachen, dass er sich von ihr unverstanden fühlte; selbst als er sie auf ihr Drängen hin einmal zur Psychotherapie und einmal zum Psychiater mitnahm, brachte er dies nicht zur Sprache. Er war stattdessen der Ansicht, dass das ohnehin nichts bringe und dass die Frau von ihrer Meinung nicht abgebracht werden könne. Generell fiel es beiden Streitteilen schwer, miteinander über die Krankheit zu sprechen. Der Mann wich den Bemühungen der Frau aus, wobei er ihr gegenüber auch barsch und unfreundlich wurde; die Frau fühlte sich ihrerseits vom Kläger ausgeschlossen und litt darunter, dass er mit ihr nicht reden wollte.

Anfang 2013 erlitt der Mann einen weiteren Zusammenbruch und nahm erneut eine Überdosis Medikamente. Die Frau war, wie auch 2012, darüber betroffen. Der Mann absolvierte Aufenthalte im LKH ***** und in der Psychiatrie in *****. Die Frau besuchte ihn während seiner Aufenthalte im Krankenhaus oder im Reha-Zentrum nicht, wobei der Mann die Frau auch nicht darum bat bzw störte ihn dies auch nicht; die Streitteile telefonierten wenigstens alle zwei Tage miteinander.

Der Mann wollte in weiterer Folge beruflich wieder Fuß fassen, was ihm jedoch nicht gelang. Mitte 2013 wurde sein Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst, er erhielt eine Invaliditätspension, was er als Niederlage empfand. Das Verhältnis zwischen den Streitteilen besserte sich dadurch ebenfalls nicht. Der Mann befürchtete einen neuerlichen Zusammenbruch und fasste den Entschluss, gesondert Wohnung zu nehmen, wovon er sich eine Stabilisierung seines psychischen Zustands erhoffte. Deshalb zog er am 4. 12. 2013 aus der Ehewohnung aus; die häusliche Gemeinschaft der Streitteile ist seitdem aufgehoben. Die Frau informierte er erst unmittelbar vor dem Auszug, als er bereits eine Wohnung gefunden hatte. Für die Frau kam dies zwar völlig unerwartet, sie war darüber sehr betroffen, sprach sich aber nicht gegen den Auszug aus und sah es positiv, dass der Mann für sein Leben wieder selbst verantwortlich sein würde. Im Übrigen ging sie davon aus, dass der Auszug nur vorübergehend für rund ein halbes Jahr sein würde, besprochen wurde dies zwischen den Streitteilen aber nicht; der Mann behielt auch seinen Haustorschlüssel.

Der Mann hatte wegen des Auszugs der Frau gegenüber ein schlechtes Gewissen, weshalb er bis Ende 2017 diverse Verrichtungen auf der ehelichen Liegenschaft übernahm. So mähte er beispielsweise den Rasen, kümmerte sich um den Reifenwechsel am PKW der Frau, schaufelte Schnee, errichtete den Windfang beim Hauseingang, schleppte Gartenmöbel; einmal strich er gemeinsam mit den Kindern auf seine Kosten das Vorhaus. Diese Arbeiten übernahm der Mann meistens auf eigene Veranlassung, manchmal wurde er auch von der Frau kontaktiert, wenn sie etwas brauchte oder seinen Rat einholen wollte. Der Mann bezahlte auch bis Ende 2017 weiterhin die Betriebskosten der ehelichen Liegenschaft.

Die Frau hatte gegen die Verrichtung der Arbeiten grundsätzlich nichts einzuwenden, es störte sie jedoch zusehends, nicht zu wissen, wann der Mann anwesend sein würde. Deshalb forderte sie ihn auf, sich voranzukündigen, wobei der Zeitpunkt dieser Aufforderung nicht feststeht. Der Mann kam diesem Ansinnen nicht nach, woraufhin die Frau 2017 den Mann ersuchte, ihr den Schlüssel der Ehewohnung zurückzugeben; auch dem leistete der Mann nicht Folge.

Der Umgangston der Streitteile miteinander war freundschaftlich; gemeinsame Unternehmungen erfolgten nach dem Auszug des Mannes rund dreimal jährlich, überwiegend aus Anlass von Familienfeierlichkeiten wie Weihnachten, an denen immer auch die Kinder teilnahmen. Zu diesen Anlässen betrat der Mann ebenfalls die vormalige Ehewohnung, übernachtete aber nie dort.

Zu Weihnachten 2014 hatte der Mann neuerlich eine Medikamentenüberdosis eingenommen und war ins Krankenhaus gebracht worden; in diesem Jahr war die Familie zu ihm ins Krankenhaus gekommen.

Ungefähr ein halbes Jahr nach seinem Auszug hatte die Frau den Mann insgesamt dreimal in dessen Wohnung in dem Bestreben besucht, ihn zu unterstützen. Der Kläger hatte sich dabei reserviert verhalten. Daneben hatten zwischen den Streitteilen gelegentlich Telefonate, jedoch keine Treffen oder gemeinsame Unternehmungen stattgefunden.

Die Frau hatte sich zunächst Hoffnung auf eine Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft gemacht. Als der Kläger ein halbes Jahr nach seinem Auszug keine Anstalten gezeigt hatte, wieder zurückzukommen, hatte sie ihn in den Jahren 2014 und 2015 mehrmals gefragt, ob er wieder zu ihr zurückkommen wolle. 2015 hatte die Frau dem Mann eine SMS mit dem Inhalt Ich hab Dich immer noch so lieb. Mir tut es so leid, das ich dich so selten sehe. Du fehlst mir so ... geschickt. Im Jahr 2016 hatte sie ihm vorgeschlagen, mit ihr gemeinsam auf Urlaub zu fahren, der Mann war jedoch an einer Wiederaufnahme der Lebensgemeinschaft oder an einer Vertiefung der Beziehung nicht interessiert gewesen; er war mit der Situation zufrieden und lehnte die Vorschläge der Frau ab.

Als die Frau den Mann einmal fragte, wie es jetzt weitergehen solle und ob sie einen Freund haben könne, sprach sich der Mann dagegen aus. Er erklärte ihr, er überlasse es ihr, ob sie sich scheiden lassen wolle. Die Frau gelangte spätestens Mitte 2016 zur Überzeugung, dass aus einer Wiederaufnahme der Beziehung mit dem Mann nichts mehr werden würde, fand sich damit ab und war die Ehe für sie ab diesem Zeitpunkt unheilbar zerrüttet.

Im Jahr 2017 absolvierte die Frau einen Auftritt in der Barbara Karlich Show zum Thema „Das Beste kommt zum Schluss“. Darüber informierte sie den Mann vorab, wobei allerdings das Thema der Sendung nicht besprochen wurde. Die Frau erzählte in der Sendung unter anderem davon, dass ihr Mann einen Zusammenbruch gehabt habe, äußerte sich jedoch nicht abfällig über ihn. Der Mann ärgerte sich darüber, dass die Frau dem Fernsehpublikum davon erzählt hatte.

Die Frau machte im Familien- und Freundeskreis kein Hehl daraus, dass sie an der Aufnahme einer neuen Beziehung Interesse habe. Ab dem Jahr 2017 gab es mit einem Schulkollegen des Mannes zunächst regelmäßige schriftliche Kontakte, welche sich bis Herbst 2017 so intensivierten, dass die beiden regelmäßig ein- bis zweimal monatlich die Freizeit miteinander verbrachten und den ersten gemeinsamen Urlaub planten. Spätestens ab dem Jahr 2018 unterhielten sie auch geschlechtliche Kontakte. Die Kinder der Streitteile wussten davon, dem Mann erzählten sie davon nichts.

Die gesundheitliche Situation des Mannes hatte sich im Laufe des Jahres 2015 gebessert; die Depressionen hatten im Verlauf des Jahres 2016 geendet. Im Herbst 2017 beschloss er, dass er nicht länger allein sein wollte. Nachdem die Streitteile im Dezember 2017 gemeinsam an der Sponsionsfeier ihres Sohnes teilgenommen hatten, wollte sich der Mann im Anschluss daran der Frau wieder annähern und mit ihr ein Glas Wein trinken. Die Frau wollte allerdings den Mann nicht im Haus haben und war an einer Annäherung nicht interessiert. Es hatte auch in der Zeit vor der Sponsionsfeier keine Gespräche oder Signale gegeben, aus denen der Mann den Eindruck hätten gewinnen können, die Frau sei an einer Annäherung interessiert.

Kurz danach erfuhr der Kläger gesprächsweise von einem Bekannten, dass die Frau einen neuen Freund habe. Er fühlte sich, als ob ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte und ärgerte sich sehr darüber, dass die Frau ihm den neuen Freund verschwiegen hatte, während er weiterhin Arbeiten für sie auf der ehelichen Liegenschaft verrichtet und die Betriebskosten bezahlt hatte; dazu war er nun nicht mehr bereit.

In weiterer Folge kontaktierte der Mann einen Rechtsanwalt, um sich beraten zu lassen, und schlug der Frau eine Mediation bzw eine Paartherapie vor, wobei er ihr darlegte, dass für ihn die Wiederaufnahme der Beziehung vorstellbar sei und sie sich freilich von ihrem Freund trennen müsste oder dass ansonsten die Möglichkeit einer Scheidung bestünde. Die Frau war weder an gemeinsamen Terminen zur Klärung der Differenzen noch an einer Beendigung der Beziehung mit ihrem Freund bereit. Damit konfrontiert war die Ehe nunmehr auch für den Mann endgültig unheilbar zerrüttet.

Der Mann begehrte zunächst die Scheidung der Ehe aus dem alleinigen, zumindest aber dem überwiegenden Verschulden der Frau und warf ihr vor, sie bei seiner Erkrankung nicht unterstützt und letztlich die Ehe gebrochen zu haben.

Die Frau beantragte die Abweisung der Scheidungsklage und stellte eventualiter einen Mitverschuldenseinwand; der Mann habe ihre Versuche, ihn bei seiner Erkrankung zu unterstützen, abgelehnt, jegliches Interesse an ihr verloren, sie grundlos verlassen und einen Neubeginn ausdrücklich abgelehnt. Erst nach Eintritt der tiefgreifenden und unheilbaren Zerrüttung habe sie eine Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen.

Die Vorinstanzen schieden die Ehe gemäß § 49 EheG aus dem überwiegenden Verschulden des Mannes; das Berufungsgericht sprach darüber hinaus aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig ist.

In der Sache selbst vertrat das Berufungsgericht die Auffassung, die Frau habe – ausgelöst durch das Verhalten des Mannes, der allerdings an einer massiven Depression gelitten habe – unpassende, diesen kränkende Aussagen über seine Erkrankung getätigt und letztlich die Ehe gebrochen; auch wenn letzteres erst nach objektiver und auf Seiten der Frau subjektiver Zerrüttung der Ehe erfolgt sei, so habe der Mann die Beziehung der Frau zu seinem früheren Schulkollegen bei verständiger Würdigung doch noch als zerrüttend empfinden dürfen bzw könne dadurch eine Vertiefung der Zerrüttung nicht ausgeschlossen werden. Der Mann wiederum habe die Ehewohnung zwar letztlich im Einverständnis mit der Frau verlassen, es sei ihm aber vorzuwerfen, dass er auch nach Besserung seines Gesundheitszustands eine Rückkehr in die Ehewohnung trotz Aufforderung durch die Frau ungerechtfertigter Weise abgelehnt habe. Diese Verletzung der Pflicht zum gemeinsamen Wohnen wiege massiv schwerer als das von der Frau gesetzte Fehlverhalten, das jeweils als Reaktion auf das Verhalten des Mannes anzusehen sei.

Die Revision des Mannes, die die Scheidung der Ehe aus gleichteiligem Verschulden anstrebt, ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 49 EheG kann ein Ehegatte Scheidung begehren, wenn der andere durch eine schwere Eheverfehlung oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten die Ehe schuldhaft so tief zerrüttet hat, dass die Wiederherstellung einer ihrem Wesen entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann; eine schwere Eheverfehlung liegt insbesondere vor, wenn ein Ehegatte die Ehe gebrochen oder dem anderen körperliche Gewalt oder schweres seelisches Leid zugefügt hat. Nach § 60 Abs 1 EheG ist im Urteil auszusprechen, wenn die Ehe wegen des Verschuldens des Beklagten geschieden wird; nach Abs 3 ist auch ohne Erhebung einer Widerklage auf Antrag des Beklagten die Mitschuld des Klägers auszusprechen, wenn die Ehe wegen einer Verfehlung des Beklagten geschieden wird und dieser zur Zeit der Erhebung der Klage oder später auf Scheidung wegen Verschuldens hätte klagen können. 

2. Ausgehend von den Feststellungen der Vorinstanzen ist nicht zweifelhaft, dass im vorliegenden Fall sowohl der Mann als auch die Frau relevante Eheverfehlungen im Sinn des § 49 EheG begangen haben. Die Frau hat die Ehe gebrochen (§ 49 EheG), der Mann – zwar nicht durch seinen Auszug aus der Ehewohnung, wohl aber durch seine Weigerung dorthin zurückzukehren, ohne eine begründete Ursache angeben zu können (8 Ob 223/65; Hopf/Kathrein, Eherecht³ [2014] § 49 EheG Rz 10 lit a) – gegen die in § 90 ABGB stipulierte Pflicht zum gemeinsamen Wohnen verstoßen.

Bereits ab dem Jahr 2010 oder 2011 hatten beide Streitteile ihre Pflichten zur anständigen Begegnung verletzt (dazu allgemein etwa Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, EuPR [2011] § 90 ABGB Rz 30, 31; Hopf/Kathrein aaO § 90 ABGB Rz 13, 14; Ferrari in Schwimann/Kodek, ABGB5 [2018] § 90 ABGB Rz 11), indem der Mann die Frau seinen Launen aussetzte, sich ihr gegenüber abweisend verhielt, Fragen der Frau zu den von ihr aufgefundenen Taschen mit Psychopharmaka abblockte und sinngemäß erklärte, das gehe sie nichts an; die Frau wiederum, der es schwer fiel, die Krankheit des Mannes als solche aufzufassen und ein tieferes Verständnis dafür aufzubringen, tätigte unpassende Äußerungen wie etwa, dass in der Familie des Mannes ohnehin alle depressiv seien, dass er sie nur sekkieren wolle oder dass er nur simuliere.

3. Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, die objektive Zerrüttung der Ehe der Streitteile sei Mitte 2016 eingetreten, weil zu diesem Zeitpunkt auch von einem außenstehenden Dritten nicht mehr angenommen werden habe können, dass es den Streitteilen möglich sein würde, die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufzunehmen: Der Mann habe entsprechende Vorschläge der Frau abgelehnt und erklärt, an einer Wiederaufnahme einer Lebensgemeinschaft nicht interessiert zu sein; die Frau sei, nachdem der Auszug des Mannes aus der Ehewohnung schon mehr als zwei Jahre zurückgelegen sei und in dieser Zeit weder ihre Versuche, ihn zu einem gemeinsamen Weiterleben zu bewegen, gefruchtet noch – abgesehen von ungefähr drei Unternehmungen pro Jahr und gelegentlichen Telefonaten – Treffen oder gemeinsame Unternehmungen zwischen den Streitteilen stattgefunden hätten, selbst davon ausgegangen, dass eine Fortsetzung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr möglich sein werde, und sei ab diesem Moment hiezu auch nicht mehr bereit gewesen. Dem tritt der Mann in seiner außerordentlichen Revision auch nicht entgegen.

Der erkennende Senat hat allerdings erst jüngst (6 Ob 221/19x mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung) ausgeführt, dass nach der jüngeren Rechtsprechung ein Ehebruch, der erst nach Eintritt der unheilbaren Zerrüttung der Ehe begangen wurde, bei der Verschuldensabwägung und insbesondere in der Frage der Zuweisung eines überwiegenden Verschuldens zwar keine entscheidende Rolle spiele. (Nur) nach Eintreten der (noch nicht gänzlichen und unheilbaren) Zerrüttung gesetzten Eheverfehlungen seien jedoch nicht schlechthin unbeachtlich, weil auch eine schon bestehende Zerrüttung noch vertieft werden könne. Es sei im Einzelfall zu prüfen, ob durch weitere Eheverfehlungen eine solche Vertiefung tatsächlich eingetreten ist, ob also zwischen der Zerrüttung und weiteren Eheverfehlungen ein kausaler Zusammenhang besteht und ob der zunächst schuldtragende Teil das Verhalten seines Ehegatten bei verständiger Würdigung noch als ehezerrüttend empfinden darf. Nach den Entscheidungen 3 Ob 158/07t und  2 Ob 31/11i (beide ebenfalls mit weiteren Nachweisen) besteht die Pflicht zur ehelichen Treue auch nach vom anderen Ehegatten gesetzten Eheverfehlungen, auch wenn diese zu einer Zerrüttung, aber eben noch nicht zu einer unheilbaren Zerrüttung der Ehe führten.

Vor diesem Hintergrund ist das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall (auch) die erst ab 2017 beginnende Beziehung der Frau zu einem früheren Schulkollegen des Mannes bei der Verschuldensabwägung nicht außer Acht gelassen werden kann. Der Frau war aufgrund ihrer eigenen Anfrage beim Mann im Jahr zuvor bekannt, dass dieser sich gegen ihren Wunsch, „einen Freund zu haben“, ausdrücklich ausgesprochen hatte, was trotz seiner Weigerung, die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufzunehmen, dahin zu interpretieren ist, dass für ihn die Ehe noch nicht dermaßen tiefgreifend – und vor allem unheilbar – zerrüttet war, dass aus seiner Sicht die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht mehr erwartet werden konnte (dazu allgemein RS0056832 [T3]); diese Überlegung findet ihre Stütze im Übrigen auch in dem Umstand, dass der Mann nach Besserung seiner gesundheitlichen Situation und dem Ende seiner Depressionen beschloss, nicht mehr länger allein sein zu wollen, und deshalb
– in Unkenntnis der außerehelichen Beziehung der Frau – versuchte, sich dieser wieder anzunähern.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass die Pflicht zur ehelichen Treue grundsätzlich während der gesamten Dauer der Ehe besteht, ja selbst noch während eines anhängigen Ehescheidungsverfahrens beachtet werden muss (RS0056332). Einem Ehegatten, der sich einem Ehepartner gegenüber sieht, der – im Ergebnis im Einvernehmen – die Ehewohnung verlassen hat und in weiterer Folge eine Rückkehr in die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt, sich jedoch dagegen ausspricht, dass der erstgenannte Ehegatte eine außereheliche Beziehung aufnimmt, steht es somit nicht zu, einseitig die eheliche Beziehung für beendet zu erachten und – anstatt die Ehescheidungsklage einzubringen – eine außereheliche Beziehung aufzunehmen, in die zwar die gemeinsamen Kinder und wohl auch der Bekanntenkreis eingebunden sind, nicht aber der andere Ehepartner. Dies gilt vor allem dann, wenn dieser jahrelang an Depressionen gelitten und mehrfach Suizidversuche unternommen hatte. Aus welchen Gründen die Frau im vorliegenden Fall nicht die Ehescheidungsklage einbrachte, sondern heimlich eine außereheliche Beziehung aufnahm, lässt sich den Feststellungen explizit nicht entnehmen. In diesem Belang kommt aber auch ihrem prozessualen Verhalten im Scheidungsverfahren eine gewisse Beachtlichkeit zu, in dem sie noch im Berufungsverfahren eine Abweisung des Scheidungsbegehrens des Mannes anstrebte, welches Ansinnen das Berufungsgericht zutreffend als „Freibrief“ für die „groteske Situation“ bezeichnete, dass es der Frau ohne Rechtsnachteile (gemeint: Verwirkung von Unterhaltsansprüchen, Verlust von Pensionsansprüchen) möglich wäre, „simultan ihre außereheliche Beziehung zu führen und mit dem [Mann] verheiratet zu bleiben.“

Der Ehebruch der Frau in Form einer längerfristigen außerehelichen Beziehung ist deshalb bei der Abwägung der Verschuldensanteile der Streitteile mitzuberücksichtigen.

4. Maßgeblich für diese Abwägung sind das Gesamtverhalten und die besonderen Umstände des Einzelfalls (RS0056171 [T6]), wozu insbesondere das Gewicht der Eheverfehlungen, ihre Reihenfolge und ihr Beitrag zur Ehezerrüttung in die Beurteilung miteinzubeziehen sind (RS0057223 [T2]; RS0056751). Bei der Beurteilung des überwiegenden Verschuldens eines Ehegatten sind alle Umstände zu berücksichtigen und in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen (RS0057303). Ein überwiegendes Verschulden ist nur dann auszusprechen, wenn der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt (RS0057821; RS0057057), also das mindere Verschulden des einen Teils im Rahmen des maßgeblichen Gesamtverhaltens beider Ehegatten in seinem Zusammenhang fast völlig in den Hintergrund tritt (RS0057858 [T11]).

Auch wenn es nach der Rechtsprechung auf eine Gegenüberstellung der einzelnen von den Ehegatten begangenen Eheverfehlungen nicht ankommt (RS0057303 [T1]), so ist im vorliegenden Fall doch beachtlich, dass jeder der beiden Streitteile eine Eheverfehlung von erheblicher Bedeutung zu verantworten hat, nämlich der Mann die Verletzung seiner Pflicht zum gemeinsamen Wohnen infolge Nichtwiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft trotz diesbezüglicher Aufforderung durch die Frau und diese den Ehebruch durch Aufnahme einer außerehelichen Beziehung und deren Verheimlichung dem Mann gegenüber, obwohl die gemeinsamen Kinder und der Bekanntenkreis hievon Kenntnis hatten. Dazu kommt auf beiden Seiten die Verletzung der Pflicht zur anständigen Begegnung, womit es zum Auseinanderleben der Streitteile kam. Selbst wenn man – wie offenbar das Berufungsgericht – die Treupflichtverletzung der Frau im Hinblick auf das vorangegangene Verhalten des Mannes als geringfügiger ansehen sollte, wäre zu berücksichtigen, dass das ursprüngliche Verhalten des Mannes der Frau gegenüber (er setzte sie seinen Launen aus, verhielt sich ihr gegenüber abweisend, blockte Fragen zu den aufgefundenen Psychopharmaka ab und erklärte sinngemäß, das gehe sie nichts an) doch ganz offensichtlich mit seiner Erkrankung im Zusammenhang gestanden war, während ihre Äußerungen hiezu (in der Familie des Mannes seien ohnehin alle depressiv, der Mann wolle sie nur sekkieren und simuliere bloß) völlig unpassend waren und (auch) eine Verletzung ihrer Beistandspflicht im Krankheitsfalle waren.

Davon, dass das schuldhafte ehewidrige Verhalten der Frau gegenüber jenem des Mannes fast völlig in den Hintergrund trat, kann somit keinesfalls ausgegangen werden, wobei der Oberste Gerichtshof auch die Auffassung des Berufungsgerichts, die Verhaltensweisen der Frau seien jeweils als Reaktionen auf das Verhalten des Mannes gesetzt worden, insoferne nicht zu teilen vermag, als solche „angemessen“ sein müssen (7 Ob 545/86) und ein Ehebruch niemals eine zulässige Reaktionshandlung sein kann (RS0056431).

5. Der außerordentlichen Revision des Mannes war somit Folge zu geben und – in Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen – die Ehe der Streitteile gemäß §§ 49, 60 EheG aus deren gleichteiligem Verschulden zu scheiden.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 45a, 50 ZPO. Bei Scheidung der Ehe aus beiderseitigem, also annähernd gleichgewichtigem Verschulden sind die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufzuheben (M. Bydlinski in Fasching/Konecny II/1³ [2015] § 45a ZPO Rz 2 mit zahlreichen Nachweisen aus der zweitinstanzlichen Rechtsprechung), und zwar konkret die Kosten rechtsfreundlicher Vertretung. Für die Barauslagen gelten jedoch §§ 45a Abs 1 Satz 2,  43 Abs 1 letzter Satz ZPO.

Textnummer

E129518

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00098.20K.0916.000

Im RIS seit

04.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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