Entscheidungsdatum
23.06.2020Norm
BFA-VG §18 Abs2 Z1Spruch
L519 2210816-2/9E
schriftliche ausfertigung des mündlich verkündeten erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA. Dr. BLUM, LL.M., gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 19.09.2019, Zl. 103936003-171125542, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.12.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird in allen Spruchpunkten mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes von 8 auf 10 Jahre hinaufgesetzt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
I.1. Die beschwerdeführende Partei (in weiterer Folge kurz als bP bezeichnet), ist Staatsangehöriger der Türkei. Sie wurde in Österreich geboren und besitzt seit XXXX 1998 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung. Sie ist geschieden und hat zwei minderjährige Kinder, welche in Österreich leben.
I.2. Die bP wurde insgesamt 4 Mal strafrechtlich in Österreich verurteilt. Zuletzt wurde über sie mit XXXX 2018 eine unbedingte Freiheitsstrafe von 3 Jahren wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 (1) StGB, wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 (1) StGB, wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 (1) StGB, wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach den §§ 15, 105 Abs. 1 StGB, wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach den §§ 107 Abs. 1 und 107 Abs. 2 1. Fall StGB, verhängt.
I.3. Bereits mit Schreiben des BFA vom 03.10.2017 wurde die bP zur Stellungnahme hinsichtlich einer beabsichtigen Erlassung eines Einreiseverbotes wegen der damals 3 vorliegenden Straftaten aufgefordert. Beide Schreiben wurde von der bP nicht behoben und wurde in der Folge dem BFA mitgeteilt, dass die bP mit 02.11.2017 wegen des Verdachts der Vergewaltigung festgenommen worden ist. Hierzu langten in der Folge polizeiliche und gerichtliche Unterlagen ein.
I.4. Mit Schreiben des BFA vom 19.9.2018 wurde der bP unter gleichzeitiger Übermittlung von Länderfeststellungen zur abschieberelevanten Lage in der Türkei mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, ein Aufenthaltsverbot gegen die bP zu erlassen. Eine Stellungnahme langte innerhalb der eingeräumten Frist nicht ein.
I.5. Mit Bescheid der belangten Behörde (bB) vom 29.10.2018 wurde ein auf 8 Jahre befristetes Aufenthaltsverbot gegen die bP verhängt und kein Durchsetzungsaufschub gewährt.
Dieser Bescheid wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 16.05.2019 aufgrund der aktuellen Judikatur behoben.
I.6. Mit Schreiben des BFA vom 19.7.2019 wurde der bP unter gleichzeitiger Übermittlung von Länderfeststellungen zur abschieberelevanten Lage in der Türkei mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen, da sie mehrere rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen aufweist.
I.7. Innerhalb der eingeräumten Frist zur Abgabe einer Stellungnahme führte die bP zusammengefasst aus, dass ihr Lebensmittelpunkt seit der Geburt Österreich sei. In Österreich leben neben den beiden mj. Töchtern der bP aus einer geschiedenen Ehe auch die Eltern und Geschwister sowie 2 Onkel. Sie habe auch einen nennenswerten Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich und beherrsche Deutsch in Wort und Schrift. Nach der Haftentlassung werde die bP sofort arbeiten und nie mehr straffällig werden. Sie habe keine Wohnanschrift und keine persönlichen Bindungen in der Türkei und werde keinesfalls freiwillig dorthin zurückkehren.
I.8. Mit dem im Spruch genannten Bescheid wurde gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gemäß § 53 FPG wurde in Bezug auf die bP ein Einreiseverbot für die Dauer von 8 Jahren erlassen. Gem. § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt. Gem. § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt.
Von der belangten Behörde (bB) wurden der Inhalt der Fremdenakte, die Verurteilungen der verschiedenen Gerichte, eine Besucherliste der Justizanstalt, Auszüge aus der BM.I Anfrage-Plattform (KPA, IZR, SA, ZMR, AJ-WEB), die Anfragebeantwortungen hinsichtlich der Verwaltungsstrafen bzw. dem Waffenverbot, Scheidungsurteil sowie Obsorgebeschluss und die von der bP vorgelegten Unterlagen bzw. Stellungnahmen der Entscheidung zugrunde gelegt.
Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die belangte Behörde das Verhalten der bP als schwerwiegende und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und sei aus diesem Grund die Erlassung von Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbotes geboten. Die bP würde zwar familiäre und sonstige Bindungen zu Österreich aufweisen, die schwere Straffälligkeit würde im Rahmen der Interessensabwägung jedoch eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen.
Zur abschieberelevanten Lage in der Republik Türkei traf die belangte Behörde Feststellungen und ging die Behörde davon aus, dass nichts gegen eine Rückkehr in die Heimat spricht.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass die Rückkehrentscheidung keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle und aufgrund der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Einreiseverbot zu erlassen sei.
I.9. Gegen den Bescheid des BFA wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und beantragt, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Ergänzend zum bisherigen Vorbringen führte die bP aus, dass die Interessensabwägung zu ihren Gunsten ausfallen hätte müssen. Sie habe keinerlei Bezug zur Türkei und sei der türkischen Sprache in Wort und Schrift nicht ausreichend mächtig. Außerdem lebe die gesamte Kernfamilie in Österreich. Die geschiedene Frau der bP habe das Sorgerecht für die beiden Kinder an die Eltern der bP abgetreten, in deren Haushalt die Kinder sich seit Februar 2018 befinden. Da die obsorgeberechtigte Mutter der bP gesundheitliche Einschränkungen aufweise, seien die Kinder dringend auf die Unterstützung der bP angewiesen. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die bP die „Mitwirkung“ an der Straftat, die zur vorliegenden, letzten schwerwiegenden Verurteilung geführt hat, stets vehement bestritten hat sowie dass die verhängte Strafe im unteren Bereich des Strafrahmens läge. Die bP sei lediglich aufgrund eines Indizienprozesses und Ausführungen einer Sachverständigen schuldig gesprochen worden. Mangels Kontakt mit der Kindesmutter, welche nur ein eingeschränktes Kontaktrecht mit den Kindern ausübe, sei in Zukunft mit strafbaren Handlungen dieser gegenüber nicht zu rechnen.
I.10. Die Beschwerdevorlage langte am 06.11.2019 beim BVwG ein. Mit Beschluss des BVwG vom 11.11.2019 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
I.11. Für den 02.12.2019 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Vater und Mutter der bP wurden als Zeugen einvernommen.
Vorgelegt wurde:
? Türkischer Reisepass der bP
Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis des BVwG am selben Tag mündlich verkündet.
I.12. Mit Schreiben vom 02.12.2019 wurde die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses begehrt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
II.1.1. Die beschwerdeführende Partei
Bei der bP handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, welcher sich zum Mehrheitsglauben des Islam bekennt. Die Identität der bP steht fest.
Sie besuchte Volks- und Hauptschule in Österreich. Sie hat keine Berufsausbildung. Die in Österreich geborene bP hat seit XXXX 1998 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung „Familiengemeinschaft“ und erhielt am XXXX 2013 einen Aufenthaltstitel, Daueraufenthalt - EU.
Von 11.09.2000 bis 31.10.2017 ging die bP verschiedenen Beschäftigungen als Arbeiter bzw. geringfügig beschäftigter Dienstnehmer nach; vom 02.01.2014 bis 31.08.2014 war die bP gewerblich selbstständig Erwerbstätiger ohne Beiträge nach dem BSVG, GSVG, FSVG zu entrichten; sie wurde zwischendurch immer wieder arbeitslos und bezog deswegen staatliche Leistungen in Form von Arbeitslosenbezug, Notstandshilfe bzw. Überbrückungshilfe. Die bP bezog zuletzt vom 30.09.2017 bis 18.10.2017 Arbeitslosengeld und vom 19.10.2017 bis 02.11.2017 Notstandshilfe bzw. Überbrückungshilfe.
Die bP war mit einer österreichischen Staatsbürgerin mit türkischer Herkunft verheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, welche die österreichische Staatangehörigkeit haben. Am XXXX 2017 wurde die am XXXX 2009 geschlossene Ehe geschieden. Die Obsorge der beiden Kinder wurde laut Beschluss des BG XXXX der Mutter der bP übertragen und ein Unterhaltsvorschuss gewährt. Die bP ist für die zwei minderjährigen Kinder (10 und 7 Jahre) unterhaltspflichtig. Die bP besitzt kein Vermögen und belaufen sich ihre Schulden auf ca. EUR 100.000 – 130.000.
In Österreich leben seit Jahren rechtmäßig die Eltern der geschiedenen bP. Die Mutter hatte Krebs, ist aber wieder gesund. Die Eltern sind derzeit arbeitslos und erhalten staatliche Unterstützung. Der Vater erhält seit 2020 eine Pension. Die bP lebt seit der Haftentlassung im November 2019 in gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern und den beiden Kindern. Zudem leben zwei Schwestern der bP mit ihren Familien in Österreich sowie ein Onkel und verfügt sie über Cousins in Österreich und Deutschland.
Während der Haftverbüßung seit 11/2017 wurde die bP von den in Österreich lebenden Eltern, Geschwistern, Verwandten und ihren beiden Kinder regelmäßig besucht.
In der Türkei leben Onkel, Tanten und Cousins sowie Cousinen. 2014 oder 2015 war die bP das letzte Mal gemeinsam mit ihren Kindern in der Türkei und verbrachte Urlaube in der Türkei.
Die bP möchte offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten und spricht Türkisch und Deutsch. Eine besondere, berücksichtigungswürdige Abhängigkeit zu den Eltern oder den Kindern besteht nicht.
Die bP ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann mit Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer –wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich- gesicherten Existenzgrundlage.
Es liegen keine besonderen sozialen Kontakte in Österreich vor.
II.1.2. Rechtskräftige Straftaten
Im Strafregister scheinen folgende Eintragungen auf (Ergänzungen aus den Inhalten der Urteile):
A) BG XXXX 2015, § 146 StGB, Geldstrafe von 70 Tags. zu je 4,-- Euro, im NEF 35 Tage Ersatzfreiheitsstrafe;
Vollzugsdatum: 02.12.2015
Verurteilung wegen Betruges – Nichtzahlenkönnen von Waren
Mildernd wurden das Geständnis und die Unbescholtenheit gewertet, erschwerend die Tatwiederholung.
B) LG XXXX , § 153d StGB, Freiheitsstrafe 5 Monate 25 Tage, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Zusatzstrafe gem. §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf BG XXXX ;
zu LG XXXX , Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre, LG XXXX vom 3.7.2017;
Verurteilung wegen betrügerischer Anmeldung zur Sozialversicherung
C) LG XXXX , §§ 107(1), 107 (2), 125 und 107 (1) StGB, Freiheitsstrafe 7 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre;
zu LG XXXX , Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre, LG XXXX vom 23.7.2018;
Die bP hat demnach
I.) seine geschiedene Ehegattin gefährlich, in den nachstehend angeführten Punkten 1.) – 3.) jeweils mit dem Tod, in Punkt 4.) mit einer Schädigung am Vermögen, bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem sie
1.) am 31.05.2017 ihr gegenüber am Telefon äußerte: „Du wirst jetzt sehen, was ich mache, ich komme zu dir und bringe dich um“;
2.) zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen dem 21. und 23. Mai 2016 mittels SMS sinngemäß schrieb, dass sie sie neben der Polizei abstechen werde;
3.) am 23. Mai 2017 gegen 17.59 Uhr mittels SMS sinngemäß schrieb: „So wie du jetzt drauf bist kann ich nicht kommen, ansonsten bringe ich dich um“;
4.) am 25. Mai 2017 ihr gegenüber am Telefon sinngemäß äußerte, dass jedes Mal, wenn sie zu ihr komme, irgendetwas kaputtgehe;
II.) fremde Sachen beschädigt
1.) indem sie am 21.05.2017 gegen die beiden linken Türen des KFZ der Ehegattin trat, wodurch Dellen entstanden;
2.) indem sie am 21.05.2017 gegen die Wohnungseingangstüre der Wohnungsgenossenschaft einschlug;
3.) am 25. Mai 2017 den rechten Außenspiegel des Autos der Ehegattin beschädigte.
Die bP wurde wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB und der Sachbeschädigung gemäß § 125 StGB verurteilt. Als strafmildernd wurden das umfassende und reumütige Geständnis sowie die teilweise Schadensgutmachung und als erschwerend das Zusammentreffen mehrere Vergehen sowie eine einschlägige Vorstrafe gewertet.
Eine Diversion wurde nicht durchgeführt, da ein hoher Gesinnungsunwert (Verwerflichkeit der inneren Einstellung der bP) und Handlungsunwert gegeben war.
D) LG XXXX vom XXXX 2018, §§ 105 (1), 107 (1), 201 (1), 15, 105 (1), 83 (1) sowie 107 (1) und 107 (2) 1. Fall StGB, Freiheitsstrafe 3 Jahre;
zu LG XXXX RK 23.07.2018
Aus der Freiheitsstrafe entlassen am XXXX 2019, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
ausgesprochen durch:
LG XXXX
Nachtrag:
zu LG XXXX RK 23.07.2018
Aufhebung der Bewährungshilfe
ausgesprochen durch:
LG XXXX
Diesem Urteil liegt zugrunde, dass die bP ihre geschiedene Ehegattin
I.) am 30. Oktober 2017 gefährlich mit dem Tode bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem die bP ihr gegenüber telefonisch äußerte, dass sie sie umbringen werde und sie nicht mehr leben lasse;
II.) mit Gewalt bzw. durch gefährliche Drohung zu nachstehenden Handlungen, Duldungen bzw. Unterlassungen genötigt (Punkt 1.a, b und 2.) bzw. zu nötigen versuchte (Punkt 1. c), und zwar
1.) am 28. Oktober 2017
a) zur Aufgabe ihrer beruflichen Pläne als Kellnerin und zur Duldung einer gemeinsamen Autofahrt von der BP-Tankstelle zu einem Parkplatz auf einem Betriebsgelände, indem sie ihr — sitzend auf der Fahrerseite ihres PKWs und sie auf der Beifahrerseite — zahlreiche Schläge gegen den Oberkörper und die Beine versetzte, sie in den Würgegriff nahm und anschließend mit ihrem PKW losfuhr;
b) zur Duldung der gemeinsamen Weiterfahrt von dem zu 1.) angeführten Parkplatz zu einem Waldstück, indem sie ihr weitere Schläge versetzte und die schließlich aus dem Auto geflüchtete geschiedene Ehegattin am Hals packte und zurück ins Auto zerrte;
c) zur Herausgabe ihres Handys, indem sie ihr nach dem Anhalten des PKWs im zu 2.) angeführten Waldstuck Schläge versetzte und sie am Hals würgte, wobei es der bP jedoch nicht gelang, das Handy zu erhalten;
2.) an einem Tag im August 2017 zum Verbleiben in ihrer Wohnung, indem sie ihr ein Messer gegen den Hals hielt und dabei äußerte, dass sie und die Kinder nicht gehen dürften und bei der bP zu bleiben hätten;
III.) vorsätzlich am Körper verletzt, und zwar
a) durch die zu II.) 1.) a bis c beschriebenen Vorgehensweisen in Form von Prellungen der Hals- und der Brustwirbelsäule, des linken Oberarmes sowie der beiden Hüften und Oberschenkel mit Hämatomen;
b) in der Zeit zwischen 2010/2011 bis 21. März 2017 in Form von Hämatomen am Körper, indem die bP ihr Schläge gegen den Ober- und Unterkörper versetzte, sie würgte und an den Haaren riss;
IV.) mit Gewalt bzw. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89) zur Duldung des Beischlafes nötigte, und zwar
1.) an einem Tag im August 2017, indem die bP sie auf die Couch stieß, sie auszog, ihr ein Küchenmesser am Rücken ansetzte, ihr den Mund zuhielt und gewaltsam von hinten mit dem Penis in ihre Vagina eindrang;
2.) an einem Samstag im Sommer 2016, indem die bP ihr mehrere Schläge, teils mit der Faust teils mit der flachen Hand auf ihren Körper versetzte, heftig an ihren Haaren riss, sie aufs Bett stieß, ihr die Ober- und Unterbekleidung vom Leib riss, wobei die bP ihr T-Shirt völlig zerrissen und trotz anhaltender Gegenwehr gewaltsam mit dem Penis in ihre Vagina eindrang;
V.) in der Zeit zwischen 2010/2011 bis 21. März 2017 mehrfach gefährlich zumindest mit der Zufügung einer Körperverletzung bedrohte, um sie dadurch in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem die bP ankündigte, sie umzubringen;
Die bP hat hiedurch
zu I.) das Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 1. Fall StGB;
zu II.) 1.) a) bis b) und 2.) die Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB;
zu II.) 1.) c) das Vergehen der Nötigung nach den § 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB;
zu III.) die Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB;
zu IV.) die Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 StGB;
zu V.) die Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB
begangen und wurde unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB nach § 201 Abs 1 StGB zu einer
Freiheitsstrafe von 3 (drei) Jahren verurteilt.
Im Rahmen der Entscheidungsgründe legte das Gericht zusammengefasst dar:
Zwischen der bP und der Gattin kam es unteranderem wegen der Eifersucht der bP und finanzieller Probleme immer wieder zu Streitigkeiten.
Die bP hat beginnend mit den Jahren 2010/2011 bis zur Scheidung am XXXX 2017 zumindest in 20 bis 30 Fällen die Ehegattin durch Schläge gegen den Ober- und Unterkörper, wodurch sie blaue Flecken erlitt, geschlagen. Die bP riss sie heftig an den Haaren und würgte sie, teilweise kam es auch zu Drohungen, die bP würde sie umbringen. Die Schläge fanden teilweise in der gemeinsamen Wohnung sowie teilweise im Haus der Eltern der bP statt.
Die bP hielt es zumindest ernstlich für möglich und nahm es auch billigend in Kauf, dadurch die Ehegattin am Körper in Form von Hämatomen zu verletzten. Bei der Drohung, sie Umzubringen, beabsichtigte die bP, die Ehegattin in begründete Furcht und Unruhe zu versetzen.
Im Sommer 2016 versetzte die bP ihr – da sie gemeinsame mit Verwandten ausgegangen war, womit die bP nicht einverstanden war - mehrere Schläge, teils mit der Faust teils mit der flachen Hand auf ihren Kopf und teilte ihr mit, dass sie nun Geschlechtsverkehr mit ihr haben will. Aufgrund ihrer Weigerung riss die bP die Ehegattin daraufhin heftig an ihren Haaren und stieß sie aufs Bett. Sie riss ihr die Ober- und Unterbekleidung vom Leib wobei sie ihr T-Shirt völlig zerriss und drang gewaltsam mit dem erigierten Penis in ihre Vagina ein. Die Ehegattin versuchte vergeblich sich dagegen zu wehren, indem sie ihren Unterleib wegzudrehen versuchte und die bP von sich wegstieß. Die bP ließ erst nach Vollziehung des vaginalen Geschlechtsverkehrs wieder von ihr ab. Es war deutlich erkennbar, dass die Ehegattin keinen Geschlechtsverkehr durchführen wollte und die bP setzte aus diesem Grund Gewalt ein, um den entgegenstehenden Willen zu beugen. Sie wusste, dass sie durch das Reißen an ihren Haaren, durch das aufs Bett Stoßen und Herunterreißen ihrer Kleidung Gewalt gegen sie ausübte und wollte dies auch.
Im August 2017 holte die bP nach Ehescheidung im März ein Fleischmesser im Rahmen eines Besuches mit den Kindern aus der Küche und hielt dieses gegen den Hals der geschiedenen Ehegattin (idF K). Die bP sperrte K in ihrer Wohnung ein. Nachdem die bP ca. zehn Minuten später in die Wohnung zurückkam, verlangte sie von K Geschlechtsverkehr, was von K abgelehnt wurde. Die bP nahm neuerlich das Messer, stieß K auf die Couch und begann, sie auszuziehen. K versuchte sich dagegen zu wehren, die bP setzte ihr das Messer am Rücken an, weshalb sie nicht mehr wagte, weiteren Widerstand zu leisten. K weinte und schrie, woraufhin die bP das Messer weglegte, ihr den Mund zuhielt und von hinten mit dem Penis in die Vagina eindrang.
Am 28 Oktober 2017 schlug die bP in deren Auto wahllos gegen die Beine und den Oberkörper von K, nahm sie in den Würgegriff und würgte sie. Durch die Schläge erlitt K Prellungen der Hals- und Brustwirbelsäule, des linken Oberarmes sowie der beiden Hüften und Oberschenkel mit Hämatomen. Dies da die K als Kellnerin arbeiten wollte und die bP auf die Kinder am Wochenende aufpassen hätte sollen.
Am 30. Oktober 2017 nahm die bP telefonisch Kontakt zu K auf, welche in die Wohnung ihrer Eltern geflohen war. Die bP bedrohte K mit dem Umbringen.
Erst durch Anraten eines befreundeten Polizisten wagte K Anzeige zu erstatten.
In der Hauptverhandlung am 29.01.2018 blieb die bP bei ihrer leugnenden Verantwortung und bekannte sich zu sämtlichen Anklagevorwürfen nicht schuldig. Es wurden unter anderem zahlreiche Zeugen einvernommen, Einsicht in die Krankengeschichte genommen, ein gerichtsmedizinisches sowie ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt und lagen Lichtbilder der Verletzungen vor.
Das Gericht kam in seiner Begründung zur Ansicht, dass es sich bei der leugnenden Verantwortung lediglich um eine Schutzbehauptung handelte. Die bP räumte lediglich eine große Eifersucht und Drohungen auch nach der Scheidung ein und dass sie mit der Arbeit der K als Kellnerin nicht einverstanden war. Die Verletzungen, die K nach dem Vorfall im Auto ihrer Mutter gezeigt habe, würden nicht von ihr stammen, sie vermute, es wäre der Vater gewesen. Die Falschaussage der K versuchte die bP damit zu begründen, dass sie K´s Vater kurz davor erzählt hat, dass sie ihn zweimal betrogen hat. Die bP gab auch an, dass es ihr nicht Recht war, dass die K fortgeht, da sie eine türkische Tradition hätten und es so etwas bei ihnen nicht gebe.
Den pauschalen, späteren Widerruf ihrer Angaben durch die K wertete das Gericht aufgrund ihrer Verfassung und dem Druck seitens dem Angeklagten und dessen Familie in Zusammenschau mit den Angaben vor der Polizei und den späteren Angaben in der Verhandlung sowie dem aussagepsychologischen Gutachten als nicht aussagekräftig. Zudem belegten die Aussagen der Mutter und des Vaters der K sowie die Krankenunterlagen die ursprünglichen Aussagen. Lichtbilder dokumentierten die Verletzungen. Schließlich gab auch die jüngere Tochter an, dass der Vater ein Messer in die Hand nahm, um „die Mama zu schneiden“. Die ältere Tochter befand sich gemäß Gutachten demgegenüber in einem Gewissenskonflikt, war offensichtlich auf die Vernehmung vorbereitet worden, befand sich zu dem Zeitpunkt schon in der Obhut der Großeltern väterlicherseits und konnte aus Überforderung nicht wahrheitsgetreu berichten.
Bei der Strafbemessung wertete das Gericht mildernd, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist (II.)1.)c), als erschwerend hingegen, das Zusammentreffen von zahlreichen Verbrechen und Vergehen, eine einschlägige Vorstrafe, den äußerst raschen Rückfall und den langen Tatzeitraum sowie, dass die bP Gewalt gegen eine mit ihr im Haushalt lebende Person ausübte. (§ 33 Abs. 3 Z 1 StGB).
Das Gericht nahm in den weiteren Erläuterungen Bezug auf das bereits im Jahr 2017 ergangene Urteil wegen Übergriffen gegen die K. Diese Verurteilung veranlasste die bP demnach nicht, die Einstellung gegenüber der geschiedenen Gattin zu ändern und manifestiert sich in den Taten eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der körperlichen Integrität und der sexuellen Selbstbestimmung der Gattin bzw. geschiedenen Gattin. Es bedurfte nach Ansicht des Strafgerichts der gesetzten Sanktion, um der bP das Unrecht der Taten entsprechend vor Augen zu führen und die Wichtigkeit der geltenden Werte in Bezug auf die körperliche Integrität zu unterstreichen. In den letzten Jahren erfolgten Strafschärfungen sowohl gegen häusliche Gewalt als auch in Bezug auf sexuelle Delikte. Das bereits verspürte Haftübel entfachte keine ausreichende Wirkung um die bP vor weiteren Tathandlungen gegenüber ihrer geschiedenen Gattin abzuhalten.
Bereits von XXXX 2017 bis XXXX 2017 befand sich die bP in Haft. Am XXXX 2017 wurde sie neuerlich inhaftiert. Die bP wurde am XXXX 2019 bedingt aus der Haft entlassen unter der Weisung, sich sofort nach Haftende einer ambulanten Psychotherapie zu unterziehen.
Zudem liegen insgesamt 21 verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen zwischen 2013 und 2016, insbesondere im Zusammenhang mit Übertretungen nach dem KFG und der StVO sowie dem Pyrotechnikgesetz vor.
Es besteht gegen die bP seit XXXX 2017 ein vollstreckbares Waffenverbot gemäß § 12 Abs. 1 WaffG, welches von der LPD als zuständige Waffenbehörde über die bP verhängt wurde.
II.1.3. Die Lage im Herkunftsstaat im Herkunftsstaat Türkei
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat schließt sich das BVwG den Feststellungen der bB an.
Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen
KI vom 21.8.2019, Amtsenthebung pro-kurdischer Bürgermeister, Massenverhaftungen, Auflösung von Demonstrationen (relevant für die Abschnitte: 13.1. Opposition und 17.1. Kurden)
Die türkische Regierung hat drei pro-kurdische Bürgermeister abgesetzt. Die Bürgermeister von Diyarbakir, Mardin und Van im Südosten der Türkei, die der oppositionellen pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) angehören und bei den Kommunalwahlen im März in ihre Ämter gewählt worden sind, wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wird wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019, vgl. DW 20.8.2019). Innenminister Süleyman Soylu beschuldigte die Bürgermeister, die Gemeinden in eine vom Rest des Landes getrennte Verwaltungsstruktur umwandeln zu wollen und ehemalige Gemeindeangestellte wieder zu beschäftigen, die aufgrund ihres Engagements, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Beziehung zu einer terroristischen Vereinigung vormals bereits aus ihren Ämtern entfernt worden waren (HDN 20.8.2019). Die entlassenen Bürgermeister, wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019).
Türkische Sicherheitskräfte haben mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken Proteste gegen die Amtsenthebung der drei Bürgermeister im Südosten des Landes sowie in Istanbul verhindert bzw. aufgelöst. Laut Innenministerium wurden in Diyarbakir, Mardin, Van sowie in 26 weiteren Provinzen bei Razzien am 19.8.2019 418 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur PKK festgenommen (DW 20.8.2019, vgl. MEE 19.8.2019, Ahval 20.8.2019).
Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom 31. März in Frage stelle (Ahval 20.8.2019, vgl. CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Kritik kam auch vom ehemaligen AKP-Regierungschef, Ahmet Davuto?lu und dem CHP-Bürgermeister von Instanbul, Ekrem Imamo?lu (MEE 19.8.2019).
Quellen:
? Ahval (20.8.2019): Police intervene in protests in Kurdish-majority provinces, Istanbul over dismissed mayors, https://ahvalnews.com/dismissed-kurdish-mayors/police-intervene-protests-kurdish-majority-provinces-istanbul-over, Zugriff 21.8.2019
? CoE – Council of Europe (20.8.2019): Statement by the President of the Congress on the recent suspension of mayors in Turkey, https://www.coe.int/en/web/congress/-/statement-by-the-president-of-the-congress-on-the-recent-suspension-of-mayors-in-turkey, Zugriff 21.8.2019
? DW – Deutsche Welle (20.8.2019): Türkei unterbindet Proteste gegen Bürgermeister-Entlassung, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-unterbindet-proteste-gegen-b%C3%Bcrgermeister-entlassung/a-50102492, Zugriff 21.8.2019
? EU – European Union – External
Action (19.8.2019): Statement by the Spokesperson on the suspensions of elected mayors and detainment of hundreds of people in south-east Turkey, https://eeas.europa.eu/headquarters/headQuarters-homepage/66539/statement-spokesperson-suspensions-elected-mayors-and-detainment-hundreds-people-south-east_en, Zugriff 21.8.2019
? HDN – Hürriyet Daily News (20.8.2019): Turkey will not tolerate terrorism: Interior minister, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-will-not-tolerate-terrorism-interior-minister-145911, Zugriff 21.8.2019
? MME – Middle East Eye (19.8.2019): Three pro-Kurdish mayors replaced in southeastern Turkey, https://www.middleeasteye.net/news/three-pro-kurdish-mayors-replaced-southeastern-turkey, Zugriff 21.8.2019
? ZO - Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdo?an setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition, Zugriff 21.8.2019
KI vom 27.6.2019, neues Wehrgesetz (relevant für den Abschnitt: 10. Wehrdienst)
Am 25.6.2019 trat ein neues Wehrgesetz in Kraft. Die Wehrpflicht wird von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Gemäß dem neuen Gesetz müssen männliche türkische Staatsbürger im Alter von über 20 Jahren (bis 41) eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren. Von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes können sie sich unter Zahlung von 31.000 Lira (ca. 4.725 €) freikaufen. Männer, die gerade ihren Wehrdienst ableisten, haben die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Über 100.000 Soldaten werden nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes vorzeitig entlassen [da sie bereits sechs oder mehr Monate gedient haben], während etwa 460.000 Männer berechtigt sind sich frei zu kaufen.
Das Gesetz sieht überdies vor, dass Wehrpflichtige nach den sechs Monaten ihren Militärdienst freiwillig gegen ein monatliches Gehalt von 2.000 Lira verlängern können. Leisten die Betreffenden ihre zusätzlichen sechs Monate in den südöstlichen und östlichen Provinzen wie Gaziantep, ??rnak und Hakkari ab, erhalten sie zusätzlich monatlich 1.000 Lira. Der Staatspräsident ist befugt, die Dauer der Wehrpflicht zu ändern, wobei die gegebenen sechs Monate nicht unterschritten werden dürfen (HDN 25.6.2019, vgl. DS 25.6.2019, IPA News 26.6.2019).
Quellen:
? DS – Daily Sabah (25.6.2019): New military service law approved, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 27.6.2019
? HDN - Hürriyet Daily News (25.6.2019):
Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, https://www.dailysabah.com/turkey/2019/06/25/parliament-adopts-bill-reducing-conscription-making-paid-military-service-exemption-permanent, Zugriff 27.6.2019
? IPA News (26.6.2019): Parliament brings major changes for Turkey’s military service law, https://ipa.news/2019/06/26/parliament-brings-major-changes-for-turkeys-military-service-law/, Zugriff 27.6.2019
KI vom 24.6.2019, Wahlen in Istanbul, (relevant für die Abschnitte: 2. Politische Lage und 13.1.Opposition)
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdo?an mehrmals erklärt: wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (NZZ 23.6.2019).
Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl, wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees, annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019).
?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54% bzw. mit einem Vorsprung von fast 800.000 Stimmen auf den Kandidaten der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, der 45% erreichte (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019).
Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren), sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Quellen:
? Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613, Zugriff 24.6.2019
? FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 24.6.2019
? Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 24.6.2019
? Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https://derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 24.6.2019
? NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 24.9.2019
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte: 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).
Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.
Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.
Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)
Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).
Quellen:
? EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen, Zugriff 14.3.2019
? EP – European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019
? TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament’s Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;
die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.
In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirta?, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirta?, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdo?an, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirta? nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
? PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, ? der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen „Volksbündnis“, verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit „Rechtskraft“ zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
? AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018
? AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018
? EC – European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
? FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018
? HDN – Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018
? HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.