TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/30 L519 2144289-1

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Veröffentlicht am 30.01.2020
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Entscheidungsdatum

30.01.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L519 2144285-1/21E

L519 2144283-1/17E

L519 2144290-1/15E

L519 2144289-1/15E

L519 2144287-1/15E

L519 2144291-1/14E

schriftliche ausfertigung des mündlich verkündeten erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX (BF1), 2. XXXX , geb XXXX (BF2), 3. XXXX , geb. XXXX (BF3), 4. XXXX , geb XXXX (BF4), 5. XXXX , geb. XXXX (BF5) und 6. XXXX , geb. XXXX (BF6), sämtliche StA Irak, die BF3 bis BF6 vertreten durch die Mutter und gesetzliche vertreterin XXXX , sämtliche vertreten durch RA Dr. VELIK, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 9.12.2016, Zlen. 1. 1092083503-151607909, 2. 1092084010-151607933, 3. 1092085802-151607968, 4. 1092086004-151607976, 5. 1092086309-151607992 und 6. 1129619605-161250226, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bezeichnet), Staatsangehörige des Irak, brachten nach nicht rechtmäßiger Einreise am 23.9.2015 bei der belangten Behörde Anträge auf internationalen Schutz ein.

Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF1 im Wesentlichen vor, dass er im Irak bedroht worden sei und deshalb mit seiner Familie bereits 9 Jahre in Syrien gelebt habe. Er habe Syrien wegen des Krieges verlassen. Die BF2 gab an, wegen der Sicherheitslage ausgereist zu sein. Die Töchter hätten 1 Jahr lang nicht in die Schule gehen können, da es immer wieder Entführungen gab. Für die mj. BF3 bis BF6 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Beim BFA brachte der BF1 zum Fluchtgrund zusammengefasst vor, dass ihn im Irak 2006 eine Person namens XXXX XXXX mit dem Umbringen bedroht habe, weshalb er mit seiner Familie seit 2006 in Syrien gelebt habe. XXXX hatte seinen Sohn und den BF1 Benzin kaufen für eine Feier geschickt. Bei der Rückfahrt gerieten sie in einen Schusswechsel zwischen Amerikanern und einer terroristischen Gruppe. Dabei kam der Sohn von XXXX ums Leben, welcher wiederum dem BF1 die Schuld am Tod seines Sohnes gab. Für diesen Vorfall habe es auch mehrere Zeugen gegeben. XXXX habe der Polizei jedoch erzählt, dass der BF1 seinen Sohn getötet habe, worauf dieser festgenommen wurde und 2 Monate im Gefängnis zubrachte. Bei der Haftprüfung stellte sich heraus, dass die Schüsse aus weiter Entfernung abgegeben wurden, während der BF1 mit dem Sohn von XXXX im Auto war. Auch Zeugen hätten das bestätigt und der BF1 sei freigelassen worden. Bei einem anschließenden Schlichtungstreffen zwischen den beiden Stämmen habe der BF auch Blutgeld bezahlt. Doch XXXX habe keine Ruhe gegeben und immer wieder Streit gesucht. Er sei Schiit und der BF1 Sunnit. Sein Stamm habe den BF1 wegen der schlechten Sicherheitslage auch nicht mehr schützen können. Jemand habe dem BF1 erzählt, dass Angehörige des XXXX stammes die Angewohnheit haben, Blutgeld zu kassieren und die betroffene Person dann trotzdem zu töten. Freunde von XXXX hätten dem BF1 gedroht, ihn zu töten oder eine seiner Töchter zu entführen. Der BF1 habe dann den Hausstand und das Auto verkauft und sei mit seiner Familie nach Syrien.

Die BF2 gab im Wesentlichen dasselbe wie der BF1 an und behauptete, sie und ihre Kinder hätten in Syrien 2 oder 3 Jahre nach der Flucht Anträge auf internationalen Schutz gestellt, welche immer noch anhängig seien. Weiter gab sie an, dass es an diesem Tag keine Feier gegeben habe, sondern die Schiiten den Märtyrer gefeiert hätten. Im Übrigen bezogen sich sämtliche BF auf den Fluchtgrund des BF1.

I.2. Der Anträge der BF1 bis BF6 auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheiden der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status von Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gem. § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurden Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung der BF1 bis BF6 in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen.

I.2.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde nach Wiedergabe des Fluchtvorbringens der BF im Wesentlichen aus:

Den BF sei nicht gelungen, ein fundiertes und substantiiertes Vorbringen rund um etwaige Fluchtgründe im Herkunftsland darzulegen. Die BF haben beim BFA ein abstraktes und irrelevantes Vorbringen zum Fluchtgrund dargelegt.

Die BF hätten nach ihren Angaben ihr Heimatland bereits 2006 verlassen, da der BF1 aufgrund einer Bluchtrache wegen seines sunnitischen Glaubens verfolgt würde. Im Rahmen der Einvernahme des BF1 sei es immer wieder zu Ungereimtheiten gekommen, welche zur Unglaubwürdigkeit führten. Zum einen erscheine es eigenartig, dass der BF1 keine genauen Angaben hinsichtlich des Zeitpunktes seiner Bedrohung nennen konnte. Erst auf mehrmaliges Nachfragen gab er an, es habe sich um den Jahrestag eines schiitischen Märtyrers gehandelt. Es erscheine daher sehr eigenartig, dass sich der BF1 nicht erinnern konnte, wann er seine Heimat verlassen musste. Zum einen erscheine es äußerst unglaubwürdig, dass BF1 und BF2 bereits bei den Angaben zu den fluchtauslösenden Gründen widersprüchliche Angaben machten. So gab der BF1 zunächst an, dass bei seinen Nachbarn eine Feier stattgefunden hat, dann wiederum gab er an, dass es sich um die Hochzeit des Nachbarsohnes gehandelt habe. Hingegen gab die BF2 an, dass an diesem Tag nichts Besonderes gewesen sei.

Weiter seien auch die Angaben des BF1 zur Schießerei nicht nachvollziehbar. So gab der BF1 an, dass er die Gefahr rechtzeitig erkannt habe und sein Auto verlassen habe. Es erscheint völlig unrealistisch, inmitten eines intensiven Schusswechsels diesen rechtzeitig zu erkennen, mit dem Auto stehen zu bleiben und zu flüchten, ohne irgendeine Verletzung davonzutragen. Genauso unverständlich ist die reaktion des BF1 unmittelbar nach der Flucht. Zum einen erscheint es merkwürdig, dass sich der BF1 bloß 25 Meter entfernt versteckte und zum anderen, dass er sich bereits nach 5 Minuten aus der Deckung wagte, obwohl er noch immer von einer Gefahr ausgehen musste. Viel schlimmer zu bewerten sei die Reaktion des BF1, als er im Schockzustand nach der Schießerei nach seinem Auto sehen wollte. Hätte der BF1 tatsächlich diese Schießerei erlebt, wäre viel eher Sorge um den Beifahrer zu erwarten oder die Furcht, es könnten noch weitere Schüsse fallen.

Eigenartig erscheint auch, dass trotz Aufnahme des Sachverhaltes durch die örtliche Polizei der BF für 2 Monate eingesperrt wurde. Vor allem sei durch viele Zeugen wie US-Soldaten oder v.a. durch den vom BF1 angegebenen Wassermelonenverkäufer der Polizei klar gewesen, dass der BF1 unschuldig war. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb der BF1 für einen relativ klaren Sachverhalt 2 Monate eingesperrt gewesen sein sollte, um danach als Unschuldiger entlassen zu werden.

Selbst das angegebene Schlichtungstreffen der Stämme sei für die belangte Behörde nicht nachvollziehbar. Selbst, wenn es tatsächlich stattgefunden haben sollte, sei wenig logisch, dass der BF1 7.000,- bis 8.000,- USD bezahlt haben sollte, da selbst der schiitische Stamm seines Nachbarn den BF1 für unschuldig hielt. Daher müsse davon ausgegangen werden, dass der BF1 bestenfalls von einer Eizelperson bedroht wird. Von den anderen schiitischen Stammesangehörigen, die den BF1 für unschuldig hielten, habe der BF1 somit nichts zu befürchten.

Ein weiteres Indiz dafür, dass der BF1 bestenfalls von einer Einzelperson und nicht aufgrund seiner Religion verfolgt wird, ergibt sich daraus, dass seine Mutter und sein Bruder Angst gehabt hätten und von XXXX nach XXXX gezogen sind, um diese Person nicht mehr wieder zu sehen. Vor allem gab der BF1 an, dass es Mutter und Geschwistern im Irak gut gehe.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der BF1 in seiner Einvernahme wenig bis gar keine Zeitangaben hinsichtlich Bedrohung oder Flucht vorgebracht hat. Hätte er die beschriebenen Ereignisse tatsächlich erlebt, müsste er zumindest in der Lage sein, anzugeben, um welche Jahreszeit es sich gehandelt hat. Auch erscheine es leichtsinnig und somit unglaubwürdig, dass der BF1 von Syrien aus Staatsbürgerschaftsnachweise und Personalausweise seiner Familie ausstellen lassen haben soll. Sollten der BF1 und seine Familie tatsächlich verfolgt sein, würden sie sich keine neuen Dokumente in XXXX ausstellen lassen und sich diese anschließend von einem angeblichen Nachbarn bringen zu lassen. Viel zu hoch wäre dabei das Risiko, im Fall tatsächlicher Verfolgung den Aufenthaltsort preiszugeben.

Die Ausführungen legen daher den Schluss nahe, dass die Fluchtgründe unglaubwürdig sind und nicht, wie von den BF behauptet, aufgrund einer konkreten Bedrohung oder Verfolgung stattgefunden haben. Da dem BF1 hinsichtlich der Fluchtgründe kein Glauben geschenkt wurde, habe auch für die restlichen Familienmitglieder keine Bedrohung abgeleitet werden können.

I.2.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

I.2.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam.

Es hätten sich weiter keine Hinweise für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK (§§ 55, 10 Abs. 2 AsylG 2005) dar.

I.3. Gegen diese Bescheide wurde mit in den Akten ersichtlichen Schriftsätzen innerhalb offener Frist Beschwerden erhoben.

Im Wesentlichen wurde neben Wiederholungen und allgemeinen Ausführungen vorgebracht, dass das Verfahren mangelhaft sei, unrichtige Feststellungen getroffen wurden und der Sachverhalt rechtlich unrichtig beurteilt wurde. Die irakischen Behörden seien nicht schutzfähig und schutzwillig. Die Beweiswürdigung sei bei näherer Betrachtung nicht stichhaltig. Die BF hätten den Sachverhalt ausführlich und konkret geschildert. Geringfügige Diskrepanzen seien bei der Schilderung von traumatischen Erlebnissen durchaus möglich. Außerdem diene die Erstbefragung in erster Linie der Abklärung von Identität und Fluchtweg, sodass die dortigen Angaben zum Fluchtgrund nicht überbewertet werden dürfen. Es sei der Eindruck entstanden, dass die belangte Behörde lediglich ihre vorgefasste Meinung in die Beweiswürdigung einbrachte. Die BF seien als Sunniten auch in anderen Landesteilen nicht sicher, was durch die Länderberichte bestätigt werde. Demnach sei auch die Justiz beinahe vollständig unter schiitischer Kontrolle. Die irakische Regierung sei auch nicht in der Lage, gegen die schiitischen Milizen vorzugehen.

Verwiesen werde auf eine Analyse von Stratfor vom 25.4.2016 zum IS, kurdischen Peshmerga, wachsenden schiitischen Einfluss und zur Rolle der sunnitischen Milizen.

Den BF wäre aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage im Irak zumindest subsidiärer Schutz zuzusprechen gewesen. Die BF könnten im Irak nicht mehr leben. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, dass die BF im Irak völlig entwurzelt sind, da sie bereits 10 Jahre in Syrien gelebt haben. Eine Rückkehr sei daher existenzbedrohend. Außerdem liege ein schützenswertes Privat- und Familienleben der BF in Österreich vor.

I.4. Für den 5.2.2018 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

I.5. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

II.1.1. Die Beschwerdeführer:

Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um irakische Staatsangehörige, welche zur Volksgruppe der Araber gehören und sich zum sunnitischen Islam bekennen. Die BF sind damit Drittstaatsangehörige. Sie sprechen Arabisch auf muttersprachlichem Niveau.

Der BF1 und die BF2 sind ein gesundes, arbeitsfähiges Ehepaar, die BF3 bis BF6 sind deren gemeinsame, gesunde Kinder. Sämtliche BF haben im Irak eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage.

Die BF stammen aus XXXX . Der BF1 hat insgesamt 9 Jahre Schule besucht und anschließend eine Ausbildung als feuerwehrmann für Flugzeuge gemacht. Zuletzt hat er im Irak als Taxifahrer gearbeitet. Die BF2 hat 12 Jahre die Schule besucht und hat keine Berufsausbildung.

Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Irak wegen ihres sunnitischen Religionsbekenntnisses von staatlichen oder nichtstaatlichen Organen verfolgt würden. Weiter kann nicht festgestellt werden, dass die BF von 2006 bis 2015 in Syrien gelebt hätten.

In XXXX leben die Mutter und 3 Geschwister des BF1 sowie die Mutter und 8 Geschwister der BF2.

In Österreich haben die BF keine über ihre Kernfamilie hinausgehenden Verwandten. Die BF beziehen Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF1 arbeitet gemeinnützig in einem Altenheim. Sie sind nicht Mitglied bei einem österreichischen Verein oder einer österreichischen Organisation. Die BF1 und BF2 besuchen keine Schule oder sonstige Bildungseinrichtung. Der BF1 hat laut eigener Angabe die A1-Prüfung abgelegt, konnte aber kein Sprachdiplom vorlegen. Die BF2 hat bislang keinen Deutschkurs besucht.

Die BF3 bis BF5 besuchen in Österreich die Schule und sprechen neben deutsch auch arabisch.

Die strafmündigen BF sind in Österreich strafrechtlich bislang unbescholten.

Die Identität der BF steht nicht fest.

Die BF1 bis BF5 reisten legal aus dem Irak aus und unrechtmäßig in die Europäische Union und in weiterer Folge in das österreichische Bundesgebiet ein. Der BF6 wurde in Österreich geboren.

Die BF hielten sich lediglich aufgrund der Bestimmungen des Asylgesetzes vorübergehend legal in Österreich auf und besteht kein Aufenthaltsrecht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Irak:

Zur asyl- und abschieberelevanten Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:

Die folgende Karte von liveuamap zeigt die Einteilung des Irak in offiziell von der irakischen Zentralregierung kontrollierte Gouvernements (in rosa), die autonome Region Kurdistan (KRI) (in gelb) und Gebiete unter der weitgehenden Kontrolle von Gruppen des Islamischen Staates (IS) (in grau). Die Symbole kennzeichnen dabei Orte und Arten von sicherheitsrelevanten Vorfällen, wie Luftschläge, Schusswechsel/-attentate, Sprengstoffanschläge/Explosionen, Granatbeschuss, u.v.m.

Quelle: Liveuamap - Live Universal Awareness Map (1.10.2019): Map of Iraq, https://iraq.liveuamap.com/en/time/01.10.2019, Zugriff 1.10.2019

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im

Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).

Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die

Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum

Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 7.8.2019). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED

2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Am 7.7.2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der USgeführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal

9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von

Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).

Die folgende Grafik von Iraq Body Count (IBC) stellt die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar (IBC 9.2019).

Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019

Die folgende Tabelle des IBC gibt die Zahlen der Todesopfer an. Für Juli 2019 sind 145 zivile Todesopfer im Irak ausgewiesen. Im August 2019 wurden von IBC 93 getötete Zivilisten im Irak dokumentiert und für September 151 (IBC 9.2019).

Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den Gesamtirak im Lauf des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 83 Tote und 119 Verletzten verzeichnet. 18 Tote gingen auf Leichenfunde von Opfern des IS im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im Juli auf 65 reduziert werden kann. Es war der zweite Monat in Folge, in dem die Vorfallzahlen wieder zurückgingen. Dieser Rückgang wird einerseits auf eine großangelegte Militäraktion der Regierung in vier Gouvernements zurückgeführt [Anm.: „Operation Will of Victory“; Anbar, Salah ad Din, Ninewa und Diyala, siehe oben], wobei die Vorfallzahlen auch in Gouvernements zurückgingen, die nicht von der Offensive betroffen waren. Der Rückgang an sicherheitsrelevanten Vorfällen wird auch mit einem neuerlichen verstärkten Fokus des IS auf Syrien erklärt (Joel Wing 5.8.2019).

Im August 2019 verzeichnete Joel Wing 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 103 Toten und 141 Verletzten. Zehn Tote gingen auf Leichenfunde von Jesiden im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der Todesfälle im August auf 93 angepasst werden kann. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um einen Angriff einer pro-iranischen PMF auf eine Sicherheitseinheit von British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld bei Basra (Joel Wing 9.9.2019).

Im September 2019 wurden von Joel Wing für den Gesamtirak 123 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019). .

Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar,

Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen

Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian

29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019).

BAGDAD

Der IS versucht weiterhin seine Aktivitäten in Bagdad zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Fast alle Aktivitäten des IS im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019). Im Juli gelang es dem IS zwei Selbstmordattentate im Gouvernement auszuführen, weswegen Bagdad die Opferstatistik des Irak in diesem Monat anführte (Joel Wing 5.8.2019). Sowohl am 7. als auch am

16.      September wurden jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Während der Proteste im Südirak im Oktober 2019 , von denen auch Bagdad betroffen war, stoppte der IS seine Angriffe im Gouvernement (Joel Wing 16.10.2019).

Im Juli 2019 wurden vom Irak-Experten Joel Wing im Gouvernement Bagdad 15

sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 27 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 14 Vorfälle erfasst, mit neun Toten und elf Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verwundeten (Joel Wing

16.10.2019).

Quellen:

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middleeast-2-october-2019/, Zugriff 7.10.2019

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (4.9.2019): Regional Overview – Middle East 4 September 2019, https://www.acleddata.com/2019/09/04/regional-overviewmiddle-east-4-september-2019/, Zugriff 2.10.2019

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (17.7.2019): Regional Overview – Middle East 17 July 2019, https://www.acleddata.com/2019/07/17/regional-overview-middleeast-17-july-2019/, Zugriff 2.10.2019

-        Al Jazeera (25.10.2019): Dozens killed as fierce anti-government protests sweep Iraq, https:// www.aljazeera.com/news/2019/10/dozens-killed-fierce-anti-government-demonstrationssweep-iraq-191025171801458.html, Zugriff 28.10.2019

-        Al Jazeera (5.10.2019): Iraq PM lifts Baghdad curfew, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/iraq-pm-lifts-baghdad-curfew-

191005070529047.html, Zugriff 28.10.2019

-        Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone190924052551906.html, Zugriff 2.10.2019

-        Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https:// www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border190825184711737.html, Zugriff 28.10.2019

-        Al Mada (2.10.2019): ????? ???????? ????? ??? ????? ???                                       („Proteste werden zu Kriegsgebieten“), https://almadapaper.net/view.php?cat=221822, Zugriff 4.10.2019

-        Al Monitor (12.7.2019): Iran shells Iraqi Kurdistan Region, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/07/iraq-iran-kurdistan-turkey.html, Zugriff 2.10.2019

-        Anadolu Agency (13.7.2019): Turkey launches counter-terror Operation Claw-2 in N.Iraq, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-launches-counter-terror-operation-claw-2-in-niraq/ 1530592, Zugriff 2.10.2019

-        BBC News (28.10.2019): Iraq protests: Upsurge in violence despite Baghdad curfew, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50225055?intlink_from_url=https:// www.bbc.com/news/topics/cvenzmgyljrt/iraq&link_location=live-reporting-story, Zugriff 28.10.2019

-        BBC News (4.10.2019): Iraq protests: 'No magic solution' to problems, PM says, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-49929280, Zugriff 4.10.2019

-        D&S - Difesa & Sicurezza (24.4.2019): Iraq, the ISF carry out a surprise anti-ISIS operation in Anbar, https://www.difesaesicurezza.com/en/defence-and-security/iraq-the-isf-carry-out-asurprise-anti-isis-operation-in-anbar/, Zugriff 11.10.2019

-        Diyaruna (7.10.2019): Iraq launches phase 6 of 'Will of Victory’, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/10/07/feature-02, Zugriff 18.10.2019

-        Diyaruna (7.8.2019): Iran-backed militias suppress Iraqi protests, https://diyaruna.com/en_GB/ articles/cnmi_di/features/2019/08/07/feature-01, Zugriff 2.10.2019

-        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.10.2019): Die Wut der Iraker auf die Regierung, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tote-bei-protesten-die-wut-der-iraker-auf-dieregierung-16415369.html, Zugriff 4.10.2019

-        France 24 (28.10.2019): Iraq protesters defy Baghdad curfew as violence rocks Shiite holy city, https://www.france24.com/en/20191029-iraq-protesters-defy-baghdad-curfew-as-violencerocks-shiite-holy-city, Zugriff 30.10.2019

-        IBC - Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019

-        ISW - Institute for the Study of War (22.10.2019): Iraq's Sustained Protests and Political Crisis, https://iswresearch.blogspot.com/2019/10/iraqs-sustained-protests-and-political.html, Zugriff 24.10.2019

-        Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-theirusual.html, Zugriff 17.10.2019

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.10.2019): Iraq’s October Protests Escalate And Grow, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/iraqs-october-protests-escalate-and-grow.html, Zugriff 4.10.2019

Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafaz?t) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da‘wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018). Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS 11.5.2018).

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante „Muhassasa“, das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 12.10.2018

-        Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 19.10.2018

-        BBC – British Broadcasting Corporation (9.12.2017): Iraq declares war with Islamic State is over, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-42291985, Zugriff 18.10.2018

-        BBC – British Broadcasting Corporation (3.10.2018): New Iraq President Barham Saleh names Adel Abdul Mahdi as PM, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-45722528, Zugriff 18.10.2018

-        CIA – Central Intelligence Agency (17.10.2018): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 19.10.2018

-        DW – Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 18.10.2018

-        Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 17.10.2018

-        The Guardian (3.10.2018): Iraqi president names Adel Abdul-Mahdi as next prime minister, https://www.theguardian.com/world/2018/oct/03/iraqi-president-names-adel-abdul-mahdi-as-next-prime-minister, Zugriff 18.10.2018

-        ICG – International Crisis Group (9.5.2018): Iraq’s Pre-election Optimism Includes a New Partnership with Saudi Arabia, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/iraqs-pre-election-optimism-includes-new-partnership-saudi-arabia, Zugriff 18.10.2018

-        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 17.10.2018

-        LSE – London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 18.10.2018

-        Reuters (15.9.2018): Iraq parliament elects Sunni lawmaker al-Halbousi as speaker, breaking deadlock, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics/iraq-parliament-elects-sunni-lawmaker-al-halbousi-as-speaker-breaking-deadlock-idUSKCN1LV0BH, Zugriff 18.10.2018

-        RoI – Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 18.10.2018

-        Der Standard (13.5.2018): Wahlen im Irak: Al-Abadi laut Kreisen in Führung, https://derstandard.at/2000079629773/Irakische-Parlamentswahl-ohne-groessere-Zder, Zugriff 2.11.2018

-        Der Standard (3.10.2018): Neue alte Gesichter für Iraks Topjobs, https://derstandard.at/2000088607743/Neue-alte-Gesichter-fuer-Iraks-Topjobs, Zugriff 19.10.2018

-        TA – Tagesanzeiger (12.5.2018): Im Bann des Misstrauens, https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/im-bann-des-misstrauens/story/29434606, Zugriff 18.10.2018

-        UNSC – United Nations Security Council (17.1.2018): Report of the Secretary-General pursuant to resolution 2367 (2017), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N1800449.pdf, Zugriff 19.10.2018

-        WZ – Wiener Zeitung (12.5.2018): Erste Wahl im Irak nach Sieg gegen IS stößt auf wenig Interesse, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/964399_Erste-Wahl-im-Irak-nach-Sieg-gegen-IS-stoesst-auf-wenig-Interesse.html, Zugriff 23.10.2018

Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi‘s Nasr („Victory“)-Allianz (LSE 7.2018).

Quelle: LSE – London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 2.11.2018

Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al-Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen, die daraufhin angeordnet wurde, ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ 9.10.2018). Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers, des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken – eine Entwicklung, die einen Bruch mit den üblichen, schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer, konfessioneller und ethnischer Linien, darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).

Quellen:

-        Al Jazeera (6.6.2018): Iraq orders recount of all 11 million votes from May 12 election, https://www.aljazeera.com/news/2018/06/iraq-orders-recount-11-million-votes-12-election-180606163950024.html, Zugriff 23.10.2018

-        Al-Monitor (23.8.2018): Many Iraqi legislators call for canceling election results, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/05/iraq-election-fraud.html, Zugriff 23.10.2018

-        The Arab Weekly (7.10.2018): Room for optimism in Iraq under new leadership, https://thearabweekly.com/room-optimism-iraq-under-new-leadership, Zugriff 23.10.2018

-        BP – Baghdad Post (17.12.2017): All Shia political parties have armed militias – Nujaba, https://www.thebaghdadpost.com/en/Story/21086/All-Shia-political-parties-have-armed-militias-Nujaba, Zugriff 22.10.2018

-        CGP – Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq‘s Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 22.10.2018

-        Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 17.10.2018

-        The Guardian (12.5.2018): Martyr or master? Future of anti-Isis militias splits Iraq ahead of elections, https://www.theguardian.com/world/2018/may/12/iraq-elections-become-battleground-iranian-influence, Zugriff 22.10.2018

-        HoC – House of Commons (12.6.2018): Briefing paper: Iraq and the 2018 election, researchbriefings.files.parliament.uk/documents/.../CBP-8337.pdf, Zugriff 22.10.2018

-        IRIS – Institute of Regional and International Studies (11.5.2018): Iraq Votes 2018: Election Mobilization Strategies, https://auis.edu.krd/iris/sites/default/files/IraqVotes2018_MobilizationStrategies1.pdf, Zugriff 2.11.2018

-        ISPI – Istituto per gli studi di politica internazionale (10.5.2018): After IS: The meaning of Iraq’s election for the Arab Sunni community, https://www.ispionline.it/sites/default/files/pubblicazioni/commentary_seloom_10.05.2018.pdf, Zugriff 22.10.2018

-        Joel Wing – Musings on Iraq (22.5.2018): Sadr-Communist Alliance And Iraq’s 2018 Elections Interview With Benedict Robin, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/05/sadr-communist-alliance-and-iraqs-2018.html, Zugriff 22.10.2018

-        KAS – Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 17.10.2018

-        LSE – London School of Economics and Political Science (4.6.2018): Iraq and its regions: The Future of the Kurdistan Region of Iraq after the Referendum, http://eprints.lse.ac.uk/88153/1/Sleiman%20Haidar_Kurdistan_Published_English.pdf, Zugriff 23.10.2018

-        LSE – London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 18.10.2018

-        MEMO – Middle East Monitor (16.1.2018): Iraq: 3 major Sunni provinces form alliance to run in elections, https://www.middleeastmonitor.com/20180116-iraq-3-major-sunni-provinces-form-alliance-to-run-in-elections/, Zugriff 22.10.2018

-        MEMO – Middle East Monitor (27.2.2018): Iraq Islamic party will not run in upcoming elections, https://www.middleeastmonitor.com/20180227-iraq-islamic-party-will-not-run-in-upcoming-elections/, Zugriff 22.10.2018

-        Niqash (7.7.2016): Too Many Contradictions: Why Iraq’s New Political Parties Law Can Never Work, http://www.niqash.org/en/articles/politics/5304/, Zugriff 22.10.2018

-        Niqash (5.4.2018): Formerly-Armed Angels? The Controversial Iraqi Militia That Now Prefers Social Work To Politics, http://www.niqash.org/en/articles/security/5873/, Zugriff 22.10.2018

-        Reuters (19.5.2018): Cleric Moqtada al-Sadr's bloc wins Iraq election, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election-results/cleric-moqtada-al-sadrs-bloc-wins-iraq-election-idUSKCN1IJ2X0, Zugriff 19.10.2018

-        Reuters (24.5.2018): Iraqi PM Abadi says election fraud allegations to be investigated, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election-fraud/iraqi-pm-abadi-says-election-fraud-allegations-to-be-investigated-idUSKCN1IP2Z2, Zugriff 23.10.2018

-        Reuters (10.8.2018): Recount shows Iraq's Sadr retains election victory, no major changes, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election/recount-shows-iraqs-sadr-retains-election-victory-no-major-changes-idUSKBN1KV041, Zugriff 19.10.2018

-        Der Standard (29.10.2017): Kurdenpräsident Barzani hinterlässt einen Trümmerhaufen, https://derstandard.at/2000066849335/Kurdenpraesident-Barzani-hinterlaesst-einen-Truemmerhaufen, Zugriff 22.10.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2016): Die »Volksmobilisierung« im Irak, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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