Entscheidungsdatum
24.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W173 2177369-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 8.6.2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF) reiste illegal in Österreich ein und stellte am 2.9.2014 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.
2. Bei der am 3.9.2014 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Niederösterreich gab der BF an, er sei am XXXX in Paktia, Afghanistan geboren, afghanischer Staatsangehöriger und Paschtune sunnitischen Glaubens. Er spreche muttersprachlich Paschtu und beherrsche auch Dari und ein wenig Englisch. Er habe vier Schwestern und einen Bruder ( XXXX ). Er habe 12 Jahre lang die Schule in Kabul besucht. Er sei mit XXXX verheiratet und habe mit ihr zwei Kinder. Er habe zuletzt im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der afghanischen Provinz Paktia gelebt, von wo aus er cirka 3 bis 3,5 Wochen nach Österreich geflohen sei, wo sich auch ein Cousin mütterlicherseits befinde. Er habe in Afghanistan nur als Schulwart und Reinigungskraft gearbeitet. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, vom Haqqani-Netzwerk wegen seiner beruflichen Tätigkeit mit dem Tod bedroht worden zu sein. Es handle sich um eine gegen Bildung eingestellte Gruppierung. Ihrer Meinung zufolge gelte es gegen die Ausländer zu kämpfen und das Land zu befreien. Er habe zwei Drohbriefe bekommen. Er sei zur Motivation der Kinder, in den Heiligen Krieg zu ziehen, aufgefordert worden. Da er dem nicht habe nachkommen wollen, sei er aus seiner Heimat geflüchtet. Bei einer Rückkehr befürchte er, getötet zu werden bzw. einer unmenschlichen Behandlung durch diese radikale Gruppierung ausgesetzt zu sein. Nach einer Rückübersetzung bestätigte der BF in der Niederschrift mit seiner Unterschrift keine Verständigungsprobleme gehabt zu haben.
3. Am 8.6.2016 wurde der belangten Behörde die Vollmachtsbekanntgabe des BF für den RA Dr. Mario Züger zugestellt.
4. Am 31.8.2016 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion Tirol, niederschriftlich einvernommen. Der BF bestätigte eingangs die Richtigkeit der Protokollierung im bisherigen Verfahren mit Ausnahme seines Geburtsdatums, wonach er nicht am XXXX , sondern am XXXX geboren sei. Vom BF wurde ein Konvolut an Unterlagen vorgelegt. Darunter befanden sich unter anderem Kursbesuchsbestätigungen, Empfehlungsschreiben, Arbeitsbestätigungen der österreichischen Gemeinde XXXX , zwei Drohbriefe (gerichtet an XXXX bzw. an XXXX , Sohn von XXXX ), ein Dienstausweis, eine Heiratsurkunde, Geburtsurkunden des BF und seiner Ehefrau sowie ein Zeugnis der Schule in Kabul. Der BF gab auch an, einen Führerschein aus Afghanistan zu besitzen.
Der BF führte weiter aus, im Rahmen der Erstbefragung am 3.9.2014 die Wahrheit zu den Gründen für seine Ausreise gesagt und keine anderen Gründe zu haben. Im Zuge der Datenaufnahme vor dem BFA gab er an, am XXXX in Paktia geboren zu sein. Von der Behörde wurde angemerkt, dass er den XXXX als sein Geburtsdatum sehe, da an jenem Tag seine Tazkira ausgestellt worden sei. Auch am vorgelegten Führerschein sei der XXXX vermerkt, sodass das Datum nicht geändert werde.
Der BF gab an, seine Mutter, seine Ehefrau, seine zwei Kinder würden bei seinem Onkel mütterlicherseits und eine verheiratete Schwester ebenfalls im Dorf XXXX , in der Provinz Paktia leben. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine weiteren drei verheirateten Schwestern würden in Kabul wohnen. Sein verheirateter Bruder XXXX lebe in Jalalabad. In Afghanistan würde sonst noch ein Onkel mütterlicherseits mit seiner Familie leben. Ein Cousin mütterlicherseits befinde sich noch in Österreich. Der BF habe zuletzt in XXXX , gelebt. Er habe von 1997 bis 2009 die Schule in Kabul besucht und abgeschlossen. Er habe keinen Militärdienst absolviert. Er spreche neben Paschtu, Dari sowie ein wenig Englisch auch Deutsch. Er sei vom 6.7.2011 bis zum 1.8.2014 Schulwart in der Schule im Dorf XXXX gewesen, wo es ca. 80 Häuser und eine Moschee namens XXXX gebe. Er sei dort geboren und aufgewachsen. Sein Vater sei Lehrer gewesen. Seine Familie habe dort ein Haus und landwirtschaftliche Grundstücke. Nach seinem Schulabschluss in Kabul sei er als Schulwart tätig gewesen. Sein Bruder sei Automechaniker in Jalalabad. Seine Frau, die er am 6.6.2009 in Kabul geheiratet habe, und seine zwei Kinder würden in XXXX bei seinem Onkel leben, der seine Felder bewirtschafte, wovon seine Ehefrau und seine Kinder leben würden. Kommuniziert werde mit ihnen über seinen Cousin per Internet. In Afghanistan kenne er sein Heimatdorf und Kabul. Auf Grund des Beschlusses seines Vaters habe er nicht in seinem Heimatdorf, sondern in Kabul die Schule besucht, wo er anfangs bei seinem Onkel väterlicherseits und später in einem von seinem Vater gemieteten Zimmer gelebt habe. Er sei mit den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten seines Landes sehr gut vertraut. Der Onkel mütterlicherseits habe seine Flucht organisiert und bezahlt.
Über seinen Fluchtgrund befragt, führte er im Wesentlichen aus, in seinem Heimatdorf in der Schule als Schulwart gearbeitet zu haben. Zwei Leute ( XXXX aus seinem Heimatdorf und XXXX aus dem Dorf XXXX ), die der Gruppe Haqqani zuzuordnen seien, seien zu ihm gekommen und hätten ihm Fragen zur Schule gestellt und aufgefordert, sich ihnen anzuschließen und sie im Kampf gegen die Regierung und die Amerikaner zu unterstützen. Er habe gesagt, noch nie eine Waffe gehalten zu haben und nur seine Arbeit machen zu wollen. Als er eines Tages mit anderen Dorfburschen Volleyball gespielt habe, sei der XXXX -Anhänger aus dem Dorf XXXX zu ihm gekommen und habe ihn infolge mangelnder Unterstützung als Ungläubigen bezeichnet. Es sei zum Streit gekommen und der XXXX -Anhänger habe mit einer mitgeführten Pistole Schüsse abgefeuert, um ihm Angst einzujagen. Seine mit ihm spielenden Volleyballspieler seien dazwischen gegangen und hätten sie getrennt. Er sei nach Hause gegangen. Zwei Tage später habe er ihm den Drohbrief gegeben. Der BF habe Angst bekommen und sich mit seinem Onkel mütterlicherseits darüber beraten, der von schlechten Menschen gesprochen habe, die einen Lehrer aus XXXX getötet hätten. Als einige Tage später Kontrolleure in die Schule gekommen und Schulmaterial an die Schüler verteilt hätten, habe er Angst vor einem Anschlag der zwei Haqqani-Anhänger gehabt, die ihn angesprochen gehabt hätten. Nachdem die Kontrolleure wieder gegangen seien, hätten einige Tage später gegen 22:00 Uhr zwei bewaffnete Männer an Haustür geklopft, denen er geöffnet habe. Zur Frage, warum er der Aufforderung nicht nachgekommen sei, habe er sich auf das Fehlen einer Waffe, um die Kontrolleure anzugreifen und zu töten, ausgeredet. Sie hätten ihn aufgefordert, sich mit seinem Einkommen eine Handgranate zu besorgen, um die Kontrolleure damit anzugreifen. Aus Angst habe er akzeptiert. Er sollte von ihnen informiert werden, wann die Kontrolleure wiederkommen würden. Am 30.7.2014 sei ein zweiter Brief unten bei der Tür durchgeschoben worden, den seine Mutter entdeckt und ihm gebracht habe. Er habe nach dem Lesen des Briefes seinen Onkel kontaktiert. Dieser habe ihm gesagt, dass die Taliban ihn nicht in Ruhe lassen würden, bis sie ihr Ziel erreichen würden. Es sei besser, wenn er sich in Sicherheit bringe, bevor ihm etwas zustoße. Der BF habe am selben Tag abends sein Haus verlassen. Sein Cousin habe ihm bereits einen Schlepper organisiert. Er wisse nicht, wann die zwei Haqqani-Anhänger in die Schule gekommen seien oder er beim Volleyball mit Leuten aus dem Dorf belästigt worden wäre. Aber er wisse, dass er den 1.Brief am 1.3.1393 erhalten habe. Als er ihnen keine Auskunft gegeben habe, seien sie einfach ohne weiteres gegangen. Cirka am 7.3.1393 habe er den 2.Brief erhalten. Die Kontrolleure kämen im Auftrag der Regierung. Cirka 20 Tage nach dem 1.Brief seien die zwei bewaffneten Männer ins Haus des BF gekommen. Er habe sich nicht an die Behörden um Hilfe gewandt. Die Haqqani-Anhänger seien eine Talibangruppe, der er sich hätte anschließen sollen.
Bei einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Dass ganze Bezirke in die Hände der Taliban fielen, zeige, wie gefährlich die Lage dort sei. In einen anderen Landesteil habe er nicht ziehen können, da die Taliban überall seien und ihn daher überall gefunden hätten. In Österreich arbeite er 2 bis 3 Tage gemeinnützig bei der Gemeinde, besuche drei Mal wöchentlich den Deutschkurs und spiele im Verein Fußball. Er wolle einen Beruf erlernen und seine Arbeitslosigkeit beenden. Er lebe von der Grundversorgung. Er sei gegenüber niemandem unterhaltspflichtig. Er sei Mitglied beim Fußballverein. Er habe in Österreich keine Verwandten. Er wolle in Österreich bleiben und seine Familie nachholen. Er möchte hier eine bessere Zukunft. Nach einer Rückübersetzung bestätigte der BF die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift mit seiner Unterschrift.
5. Mit Schreiben vom 8.4.2017 wurde die Vollmachtsauflösung durch Rechtsanwalt Dr. Mario Züger mitgeteilt.
6. Im Rahmen des Parteiengehörs gab der BF am 5.10.2017 bekannt, dass sich seine Integration in Österreich weiter verfestigt habe. Er habe am 5.4.2017 einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 erfolgreich abgeschlossen, wofür er ein Zertifikat vom 5.4.2017 vorlegte. Weiters waren der Stellungnahme mehrere Empfehlungsschreiben zu seiner Rolle im Sportverein, Sport- und XXXX , zu seiner Tätigkeit in der Gemeinde XXXX , Tätigkeit beim Internationalen Team Austria, sowie eine Vollmacht für den Diakonie Flüchtlingsdienst angeschlossen.
7. Mit Bescheid vom 17.10.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt III.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Im Bescheid traf die Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Die vom BF vorgebrachten Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig. Es habe keine Bedrohung durch die Taliban festgestellt werden können. Die Sicherheitslage in Kabul sei relativ sicher und die Stadt könne vom BF ohne eine besondere Gefährdung erreicht werden. Es habe nicht festgestellt werden können, dass dem BF im Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlichen entzogen gewesen wäre, oder dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende (oder medizinische) Notlage gedrängt würde. Eine Rückkehr nach Kabul sei dem BF daher zumutbar. Der BF habe keinen Familienbezug in Österreich. Er besuche einen Deutschkurs, gehe gemeinnützigen Tätigkeiten nach und spiele Fußball. Er verfüge über ein Zertifikat A2 für die deutsche Sprache. Er sei mittellos und von staatlicher Unterstützung abhängig. Umstände, die auf ein schützenswertes Privatleben in Österreich hinweisen würden, hätten nicht festgestellt werden können.
8. Mit Verfahrensanordnung vom 18.10.2017 wurde dem BF die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.
9. Mit Schreiben vom 16.11.2017 erhob der BF, zu diesem Zeitpunkt vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides vom 17.10.2017 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften. Die belangte Behörde habe ihre umfassende Ermittlungspflicht im gegenständlichen Asylverfahren verletzt, da eine ausführliche Auseinandersetzung mit der vom BF geltend gemachten Verfolgungsgefahr durch das Haqqani-Netzwerkes, welches in enger Verbindung zu den Taliban und Al-Quaida stehe, nicht vorgenommen worden sei. Insbesondere seien Ermittlungen zur Problematik der Verfolgung von Personen, die aufgrund ihrer unterstellten politischen Gesinnung in den Fokus der Terrormiliz geraten seien, verabsäumt worden. Hinsichtlich des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative verkenne die Behörde die prekäre Sicherheitslage in der Hauptstadt Kabul und lasse eine auf den Einzelfall abgestellte Ermittlung zur Situation des BF im Fall seiner Rückkehr außer Acht. Kabul sei nicht als sichere Stadt zu qualifizieren. Dies ergebe sich aus verschiedenen Berichten. Die Länderfeststellungen seien nicht vollständig und würden die tatsächlichen Gegebenheiten im Land selbst verkennen. Der BF wäre bei einer Rückkehr mit kriegsähnlichen Zuständen konfrontiert. Auch habe die Behörde es unterlassen, sich mit der Verfolgung durch die Taliban aufgrund der Zwangsrekrutierung auseinanderzusetzen. Der BF habe zwei Drohbriefe der Haqanni bzw. Taliban in Vorlage gebracht, mit denen sich die belangte Behörde weder in den Feststellungen noch in ihrer Beweiswürdigung auseinandergesetzt habe. Die Beweiswürdigung der Behörde, wonach das Vorbringen des BF vage, wenig detailreich, oberflächlich und widersprüchlich sowie in einer Gesamtbetrachtung absolut nicht nachvollziehbar und lebensfremd sei, sei unschlüssig und verletze § 60 AVG. Bei Durchführung eines mängelfreien Verfahrens und richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem BF der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen. Er habe glaubhaft dargelegt, dass ihm Verfolgung in Form seiner Tötung oder zumindest schwere Verletzung iSd GFK durch die Haqanni bzw. Taliban aufgrund seiner politischen bzw. religiös (unterstellten) Gesinnung drohe. Bereits in der Erstbefragung habe der BF durchaus in einem Kontext mit dem weiteren Fluchtvorbringen Unterdrückung und Vereinnahmung durch die Miliz in seiner Provinz ins Treffen geführt. Der BF habe seine Fluchtgeschichte mit vielen Details ausgefüllt und ein nachvollziehbares und widerspruchsfreies Bild der von ihm erfahrenen Geschehnisse gezeichnet, das den Länderberichten entspreche. Es seien gegen den BF Drohakte gesetzt worden, sodass Schutzbedarf bestehe. Er gehöre zur sozialen Gruppe der von Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männern. Auch hätte die Behörde dem BF aufgrund der allgemein schlechten Menschenrechts- und Sicherheitslage in ganz Afghanistan zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen. Der verheiratet BF sei Vater von zwei Kindern, dessen Familie in der volatilen Provinz Paktia lebe. Weiters verfüge der BF über sehr gute Deutschkenntnisse (A2) und sei bemüht die Prüfung für Niveau B1 alsbald abzulegen. Er habe einen großen, ihn unterstützenden Bekanntenkreis. Er habe ein weitläufiges soziales Netz in Österreich. Er arbeite täglich gemeinnützig für die Gemeinde XXXX und sei ein wertvolles Mitglied es Fußballvereins der Gemeinde. Er sei strafrechtliche unbescholten und es sei davon auszugehen, dass er sich auch weiterhin in die österreichische Gesellschaft integrieren und rasch selbsterhaltungsfähig sein werde. Der Beschwerde wurde Empfehlungsschreiben, eine Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 und eine Vollmacht für die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe angeschlossen.
10. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 22.11.2017 von der belangten Behörde vorgelegt.
11. Am 24.7.2018 übermittelte der BF einen „Antrag auf Saisonbewilligung“ welcher seitens des AMS abgewiesen worden sei. Dies beweise das stetige Bemühungen des BF, eine Arbeitsstelle zu finden. Am 2.7.2019 übermittelte der BF einen Bescheid des AMS vom 28.6.2019, in dem ihm gemäß AuslBG eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Abwäscher/in vom 28.6.2019 bis zum 31.10.2019 für eine Ganztagsbeschäftigung im Ausmaß von 48 Stunden pro Woche bei der XXXX erteilt wurde.
12. Am 23.9.2019 übermittelte der BF eine Vollmachtsbekanntgabe für den MigrantInnenverein St. Marx und dessen Obmann Dr. Lennart Binder LL.M.
13. Mit Schriftsatz vom 24.1.2020 brachte der BF einen Fristsetzungsantrag sowie ein Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe für Gebühren ein. In der Folge wurde pandemiebedingt vom Verwaltungsgerichtshof die Entscheidungsfrist erstreckt.
14. Am 8.6.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung und einem Dolmetscher für die Sprache Paschtu durch. Der BF bestätigte eingangs mit Ausnahme des Datums des ersten Drohbriefes, der nicht am 1.3.1393, sondern am 1.4.1393 erstellt worden sei, die Korrektheit der Protokollierung seiner bisherigen Einvernahmen.
Der BF gab an, als XXXX im Jahr XXXX im Dorf XXXX , Bezirk XXXX in der Provinz Paktia geboren zu sein, wobei er das Geburtsdatum XXXX akzeptiere. Er sei Paschtune und sunnitischer Moslem. Er spreche neben Paschtu auch Dari. Er könne auch ein wenig Englisch und Deutsch. Die arabische Schrift könne er lesen, verstehe aber deren Bedeutung nicht. Er habe im Alter von cirka 7 Jahren begonnen, die Schule in seinem Heimatdorf zu besuchen und die ersten 11 Jahre seiner 12-jährigen Schulausbildung in seinem Heimatdorf, wo er geboren sei, absolviert. Er habe von seiner Geburt bis zur Ausreise im Heimatdorf mit Ausnahme des einen Jahres, das er in Kabul, wo er die Schule im Herbst 2009 abgeschlossen habe, verbracht habe, gelebt. Er habe es so gewollt, da man mit einem Schulabschluss in Kabul bessere Chancen habe. Es genüge, die letzte Klasse in Kabul zu besuchen und im Abschlusszeugnis nur Kabul aufscheine, um als Absolvent einer Schule in Kabul zu gelten. Danach sei er in sein Heimatdorf, wo seine Familie lebe, zurückgekehrt, weil er dort eine Arbeitsstelle bekommen habe. Er habe in seinem Heimatdorf als Schulwart gearbeitet. Er habe im Heimatdorf Freunde gehabt, mit denen er zurzeit keinen Kontakt mehr habe. Er sei auch ein- bis zweimal täglich in die Moschee im Heimatdorf gegangen. Der Kontakt zwischen den Dorfbewohnern war sehr gut und eng.
In seinem Heimatdorf hätten die Einwohner immer in Angst gelebt, da ständig irgendjemand erschossen worden sei. Es habe Unruhe und keine Sicherheit gegeben, weil die Taliban präsent gewesen seien. Die einheimischen, täglich herumspazierenden Taliban, die er gekannt habe, hätten eine spezifische traditionelle afghanische Kleidung mit bunten Jacken getragen. Sie hätten lange Bärte und Haare getragen und sich von den anderen Dorfbewohnern unterschieden. Habe jemand etwas gegen den Willen bzw. die Regeln der Taliban gesagt oder deren Regeln nicht akzeptiert, sei er am nächsten Tag weg gewesen. Es habe immer wieder Tote gegeben, weil die Taliban sehr brutal mit den Leuten umgegangen seien. Dies habe auch für die einheimischen Taliban vom Dorf gegolten, die sehr brutal gewesen seien. Sei eine Regel oder Anordnung von den Taliban nicht befolgt worden, habe man am nächsten Tag sofort seine Leiche irgendwo am Berg gefunden, wobei die Person vorher gefoltert worden sei. Das habe alles zur Abschreckung gedient, damit die anderen sofort die Anordnungen der Taliban befolgen würden. Es habe keine abgeschwächte Form der Taliban gegeben. Der BF stellte klar, dass sowohl die einheimischen Taliban als auch die aus anderen Dörfern stammenden Taliban eine derartige Brutalität aufweisen würden und eigene Gesetze hätten. Wenn ein Befehl der Taliban nicht befolgt worden sei, sei man sofort getötet worden. Die Taliban seien sehr gefährlich, streng und unmenschlich gegenüber den Menschen. Speziell in seinem Heimatdorf würden sie der Gruppe Haqqani und der Daesh angehören und seien ebenso brutal wie von ihm vorher beschrieben. Die Taliban würden die englische Sprache überhaupt nicht verwenden, zumal sie gegen die Amerikaner kämpfen würden, und daher auf die englische Sprache weder schriftliche noch mündlichen zurückgreifen würden. Sie würden in Paschtu kommunizieren. In einem Drohbrief würde von den Taliban nicht die englische Sprache verwendet werden, zumal ihnen diese Sprache zu wider sei. Er habe noch nie einen englischen Satz in einem Drohbrief der Taliban gesehen. Er habe von den Taliban zwei Drohbriefe erhalten.
Zur Berufsausbildung führte der BF aus, über keine solche zu verfügen. Er sei nach seinem Schulabschluss 2009 nach ein paar Tagen ins Dorf zurückgekehrt und habe als Schulwart zu arbeiten begonnen. Auf die Frage der Richterin, wann das gewesen sei, behauptete der BF nach seiner Rückkehr ins Heimatdorf zwei Jahre lang auf dem eigenen Grundstück gearbeitet zu haben und danach einen Job als Schulwart gefunden zu haben. Er besitze im Heimatdorf ein eigenes Haus und ein von seinem Vater geerbtes Grundstück, wo er Kartoffel, Weizen und Mais angebaut habe. Nach zwei Jahren seien einige Lehrer der Dorfschule an ihn herangetreten und hätten ihm die Arbeit als Schulwart angeboten. Vorher habe es nicht eine solche Arbeitsstelle als Schulwart gegeben. Sie hätten ihm dem aus seinem Heimatdorf stammenden Schuldirektor empfohlen, der als normaler Dorfbürger dem liberalen Lager angehört und sich sowohl mit den Taliban als auch mit der Regierung arrangiert habe. Der BF betonte, sowohl mit dem Schuldirektor als auch den Lehrern ein Vertrauensverhältnis gehabt zu haben. Er sei Schulwart in der Volksschule des Heimatdorfes gewesen, in der die Burschen und Mädchen gemeinsam sieben Jahre – damit bis zu einem Alter von 13 Jahren - unterrichtet worden seien. Nach Ansicht des BF habe es sich dabei um kleine Kinder gehandelt. Das habe die Taliban nicht gestört.
Es hätten alle gewusst, dass die Taliban gegen Bildung in öffentlichen Schulen. Die Taliban seien auch gegen den Unterricht in der englischen Sprache gewesen. Die Lage in der Schule sei sehr beängstigend gewesen. Die Lehrer hätten Angst gehabt. Insgesamt sei aber die Lage entspannt gewesen, da die einheimischen Taliban nicht so genau hingeschaut und die Schule akzeptiert hätten. Bei den „nicht-einheimischen“ Taliban, die am Tag nicht so präsent gewesen seien, vermute er, dass sei davon gewusst hätten. Bei einer Volksschule sei man aber ohnehin nicht so streng gewesen, da es sich um Kinder gehandelt habe. Zwar würden die Taliban auch Kinder rekrutieren. In der Volksschule, in der er als Schulwart gearbeitete habe, seien die Kinder noch sehr klein gewesen, sodass sie für die Taliban nicht interessant gewesen seien. Erst im Alter von 15 Jahren wären Kinder für die Taliban von Interesse. Während seiner Schulwarttätigkeit seien die kleinen Kinder nur bis zur 7. Klasse unterrichtet worden.
Sein Vater ( XXXX ) sei Lehrer im Dorf XXXX gewesen und habe zusätzlich in der Landwirtschaft gearbeitet. Er sei mit 80 Jahren krankheitsbedingt gestorben. Seine als Hausfrau tätige Mutter, mit der er noch immer in Kontakt sei, wohne im Heimatdorf und sei immer zu Hause, wo man sicher sei. Nur für Männer, die in der Nationalarmee oder in der Schule tätig seien, sei es sehr gefährlich im Heimatdorf.
Seit der BF Afghanistan verlassen habe, kümmere sich sein Onkel mütterlicherseits um seine Familie (Ehefrau, Sohn und Mutter) im Heimatdorf. Er habe 2009 geheiratet und habe mit seiner Ehefrau zwei Kinder gehabt, wobei seine Tochter verstorben sei. Sein im Heimatdorf lebender Onkel mütterlicherseits besitze mehrere Grundstücke und lebe davon. Sein finanzieller Hintergrund sei als mittelmäßig einzustufen. Seiner Familie, mit der der BF in Kontakt stehe, gehe es gut. Seine Schwestern seien bereits verheiratet und sein 39-jähriger Bruder habe in Jalalabad gearbeitet. Sein Bruder sei 2017 – wie der BF von seiner Familie erfahren habe - wegen der Drohungen der Taliban, die seinen Bruder seinetwegen dort aufgesucht und nach dem BF gefragt hätten, nach Pakistan geflohen. Seine weiteren zwei Onkeln mütterlicherseits würden in Kabul bzw. im Heimatdorf leben. Tanten habe er keine.
Der BF gab an, nach Erhalt des 2. Drohbriefes 2014 am selben Tag vom Heimatdorf aus cirka drei bis vier Wochen nach Österreich geflohen zu sein. Er sei von zwei aus seinem Dorf stammende Personen ( XXXX und XXXX ), die Talibanmitglieder gewesen seien, gewarnt, bedroht und sekkiert worden. Sie hätten ihn zu den Lehrern ausfragen wollen. Er habe immer geantwortet, ein normaler Bürger zu sein und damit nichts zu tun haben zu wollen. Nach einiger Zeit seien diese beiden Talibananhänger zu ihm gekommen, als er im Dorf Volleyball gespielt habe und hätten einen Konflikt provoziert. Einigen Tagen danach sei er mit einem Drohbrief bedroht worden. Er sollte den vom Unterrichtsministerium aus dem Bezirk Gardez in die Schule kommenden Hauptkontrolleure töten. Komme er dem nicht nach, warte das Todesurteil auf ihn. Dazu zitierte der BF aus dem 1.Drohbrief, der von den Taliban stammen würde. Es habe dem nicht nachkommen wollen. Der Hauptkontrolleur sei zwar in der Schule gewesen, sei aber anschließend wieder zurückgefahren. Nach cirka 20 Tage hätten gegen 22:00 Uhr zwei unbekannte Männer an seine Haustür geklopft. Diese zwei bewaffneten, langbärtigen und aggressiven Männer hätten ihn als Abtrünnigen beschimpft und gefragt, warum er dem Befehl des Emirats nicht nachgekommen sei. Bei der nächsten Anwesenheit der Kontrolleure aus dem Bezirk Gardez müsse er dem Befehl nachkommen. Sie würden ihm mitteilen, wann die Kontrolleure kommen würden. Er müsse sich selbst eine Mine bzw. Handgranate besorgen. Danach habe der BF seinen Onkel mütterlicherseits kontaktiert, der davon ausgegangen sei, es handle sich um den Taliban, der auch den Lehrer XXXX ermordet habe, und der BF dasselbe Schicksal erleiden werde. Es habe Sorge und Angst vorgeherrscht. Acht oder neun Tage später habe er den 2.Drohbrief erhalten, in dem er wieder als Abtrünniger bezeichnet worden sei, der alles wieder gut machen könne, wenn er den Befehlen gehorche und den Kontrolleur töte. Diesen bei der Hauseingangstür reingeworfen 2.Brief habe seine Mutter gefunden und ihm in der Früh gezeigt. Der Inhalt dieses 2.Briefes sei ungefähr ident mit dem des 1.Briefes gewesen. Aber er sei präzise mit dem Tod bedroht worden, wonach er auf die schwarze Talibanliste komme und ihn die Gruppe Haqqani als Abtrünnigen und Befehlsverweigerer vernichten bzw. töten würde. Er habe seinen Onkel mütterlicherseits informiert und es sei ihnen der Ernst der Sache klar gewesen. Am selben Tag um ca. 22:00 Uhr habe er daraufhin sein Heimatdorf verlassen und sei geflüchtet. Die Reise habe sein Onkel mütterlicherseits organisiert, der wahrscheinlich schon nach dem ersten Brief mit jemanden gesprochen habe.
Es sei ihm nicht mehr genau in Erinnerung, wann die zwei einheimischen Taliban erstmals an ihn herangetreten seien. Es sei ca. eine Woche vor dem am 22.6.2014 erhaltenen 1.Drohbrief gewesen. Eine Woche vor dem 1. Drohbrief sei der Streit beim Volleyballspiel gewesen, das Ende Frühling stattgefunden habe. Es habe sich um die beiden ihm bekannten einheimischen Taliban aus seinem Heimatdorf gehandelt, die die Informationen über die Lehrer und Schüler verlangt hätten. Sie seien beim Volleyballspiel plötzlich gekommen und fast handgreiflich geworden. Sie hätten ihn namentlich aus dem Volleyballspiel herausgeholt, beschimpft und als Abtrünnigen bezeichnet, da er in der Schule arbeite. Die anderen Volleyballspieler seien dazwischen gegangen und hätten sie getrennt. Es sei ihnen klar gewesen, dass der BF keinen Konflikt mit den Taliban haben dürfe. Zwei Tage vor dem Vorfall beim Volleyballspiel hätten diese beiden Taliban die Informationen über die Lehrer vor dem Schuleingangsflur vom BF verlangt. Sie seien dabei mit einer Pistole, die sie versteckt hätten, aufgetreten. Der BF habe als einfacher Schulwart die Informationen verweigert. Ohne Drohung seien diese beiden Taliban dann weggegangen. Er habe zwar den Direktor und die anderen Lehrer davon informiert. Diese hätten aber vor ihm keine Reaktion gezeigt und wahrscheinlich das Ganze nicht so ernst genommen.
Nach Vorhalt der Richterin zur Aussage des BF, die Taliban würden kurzen Prozess machen, gab der BF an, es habe sich ohnehin nur um einheimische Taliban aus seinem Dorf gehandelt, die nur Informationen zu sammeln hätten und damit zweitklassig seien. Solche zweitklassigen Taliban würden als Informanten agieren und nur Informationen weiterleiten. Es gebe auch andere Taliban, nämlich die Richter und die Vollstrecker. Cirka nach einer Woche sei der Vorfall beim Volleyballspielen gewesen, den die zweitklassigen Taliban angezettelt hätten. Auch nach dem Vorfall beim Volleyballspiel sei er nach Hause gegangen, habe die Sache nicht so ernst genommen und niemanden informiert. Die anderen Volleyballspieler hätten auch nichts mitbekommen. Die anderen Volleyballspieler hätten die Meinung vertreten, er solle keinen Streit mit den Taliban haben. Er habe dann auch von einer Information des Schuldirektors abgesehen. Er habe die meiste Angst vor den vorgesetzten erstklassigen Taliban, die in der Nacht kommen würden. Nur diese nachtaktiven Taliban seien gefährlich, die keine einheimischen Taliban seien. Diese nachtaktiven Taliban würden sehr brutal mit der Bevölkerung umgehen und in der Nacht von den Bergen herunterkommen.
Zwei Tage nach dem Volleyballvorfall sei der 1.Drohbrief, der in der Nacht von jemandem gebracht und eingeworfen worden sei, in der Früh am 1.4.1393 (22.6.2014) bei der Eingangstür durch seine Mutter gefunden worden.
Der 1.Drohbrief sei in den Schlitz hineingesteckt worden, damit er nicht hinunterfalle. Den 1.Drohbrief habe er gefunden und gelesen. Dieser 1.Drohbrief sei an ihn adressiert gewesen. Er sei darin mit dem Tod bedroht worden, wenn er dem nicht nachkommen. Auf Vorhalt der Kopie des 1.Drohbriefes (OZ 219) durch die Richterin bestätigte der BF, dass es sich dabei um den erhaltenen, mit 1.4.1393 datierten 1.Drohbrief handle. Auf Hinweis der Richterin, dass dieser 1.Drohbrief Ausdrücke in englischer Sprache führe, gab der BF an, dies vergessen zu haben. Als er den 1.Drohbrief gelesen habe und mit seinem Onkel mütterlicherseits darüber gesprochen habe, hätten beide den 1.Drohbrief nicht ernst genommen. Er habe ohnehin nichts dagegen machen können. Er habe zwar den Schuldirektor informiert. Der habe darin keine Involvierung seiner Person oder der Lehrer erkennen können und die Meinung vertreten, nur der BF selbst sei direkt bedroht worden. Der BF sei wieder seiner Tätigkeit als Schulwart nachgegangen. Ca. eine Woche nach Erhalt des 1.Drohbriefes seien die Kontrolleure in die Schule, in der er an der Eingangstür gestanden sei, hineingegangen und hätten den Schülern Schreibunterlagen gegeben. Diese Kontrolleure seien dann unbehelligt wieder weggefahren.
Der BF führte weiter aus, dass 20 Tage nach Erhalt des 1.Drohbriefes zu ihm nach Hause zwei ihm unbekannte Taliban gekommen seien. Sie hätten in der Nacht um 22:00 Uhr an die Tür seines Hauses geklopft und er habe ihnen geöffnet. Sie hätten ihn als Befehlsverweigerer beschuldigt. Dem habe er entgegengehalten, über keine Waffe zum Töten der Kontrolleure zu verfügen. Sie hätten ihm daraufhin gesagt, die Kontrolleure würden ein zweites Mal zur Schule kommen, sodass er sie mit einer Granate, die er sich auf eigene Kosten besorgen müsse, töten könne. Sie würden sich informieren, wann die Kontrolleure das 2.Mal von Gardez kommen würden, und ihn dann davon in Kenntnis setzen, wann die Kontrolleure wiederkommen würden. Der BF habe die Meinung vertreten, dass es dabei um einen Talibanbefehl gehandelt habe, den er hätte nachgehen müssen. Die Taliban würden den Leuten zum Töten meistens nichts aushändigen. Vielmehr müsste man als Befehlsempfänger selbst alles organisieren. Sie seien dann wieder gegangen.
Ca. 8 bis 9 Tage danach sei der 2.Drohbrief gekommen. Auf Vorhalt der Richterin von OZ 221 bestätigte der BF, dass es sich dabei um dem mit 8.5.1393 (30.7.2014) datierten 2.Drohbrief handle. Der BF führte dazu aus, dass diesen 2.Drohbrief seine Mutter gefunden und ihm gegeben habe. Er sei nach Durchsicht dieses Drohbriefes besorgt gewesen, habe Angst gehabt und zu seinem Onkel mütterlicherseits gegangen, der die Meinung vertreten habe, dass es ernst sei und gehandelt werden müsse. Dieser Onkel habe seine Reise organisiert, sodass er am selben Tag die Heimat verlasse habe.
Der BF gab weiter an, erst zwei bis drei Monate später wieder mit seiner Familie via Messanger Kontakt gehabt zu haben. Sie hätten ihn über ihren täglichen Kampf mit Angst und Unsicherheit informiert. Seit seiner Ausreise habe er immer wieder Kontakt zu seiner Familie. Die Taliban hätten nach ihm gefragt. Sie wären sogar in Jalalabad gewesen, wo sein Bruder lebe. Seine Personalien und die seiner Familie seien den Taliban bekannt. Genau wisse er nicht, wann die Taliban seinen Bruder kontaktiert hätten. Sie hätten seinen Bruder im Jahr 2017 kontaktiert. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Er sei auf der Todesliste der Taliban. Wenn er es bis in sein Heimatdorf schaffe, gebe es genug Informanten, die ihn verraten würden. Die Taliban hätten ihn in Afghanistan überall gefunden und getötet. Zudem sei die Sicherheitslage in Afghanistan sehr schlecht. Es herrsche überall Unruhe und Krieg vor. Er habe Angst um sein Leben.
In Österreich habe er Sprachkurse besucht. Die B1 Prüfung sei wegen Corona verschoben worden und er werde sie demnächst machen. Er habe vier Jahre lang gemeinnützig bei der Gemeinde gearbeitet. Sieben Monate habe er offiziell als Küchenhilfe gearbeitet. Er wolle in Zukunft eine Lehre als Koch absolvieren, weil ihm diese Tätigkeit gefalle. Er habe sich erkundigt und man müsse einen Schulabschluss machen. Die Lehre dauere drei Jahre lang. Der Sohn seiner Tante väterlicherseits – damit ein Cousin väterlicherseits - habe in Österreich gelebt und lebe nun in Deutschland.
Er habe in Österreich viele Freunde gefunden, davon viele Einheimische. Er spiele gern Fußball und sei auch im Fußballverein. Hinsichtlich der Länderberichte verweise er auf seine Beschwerde. Er habe seine Tochter verloren und habe daher nicht fließend bzw. schnell sprechen können, weil ihn dieser Tod schwer getroffen habe. Er möchte letztlich ein normales Leben führen und seine Familie in Sicherheit bringen. Er wolle dem Land dienen, das ihn bisher in allen Angelegenheiten unterstützt habe.
Auf Ersuchen der Rechtsvertretung des BF wurde zu den aktuellen Länderberichten zu Afghanistan eine Stellungnahmefrist von 14 Tagen eingeräumt.
Im Zuge der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 8.6.2020 wurden vom BF Empfehlungsschreiben, Lohnzettel zu seiner Tätigkeit als Saisonarbeiter bei der XXXX und eine Teilnahmebestätigung für den Deutschkurs auf dem Niveau B1 vorgelegt. Im Empfehlungsschreiben vom 14.5.2020 von XXXX (Deutschlehrerin) wurde darauf hingewiesen, dass der BF bereits die Probeprüfung zur B1-Prüfung bestanden habe. Auf Grund der Pandemie habe der BF bislang nicht zur Abschlussprüfung antreten können. Der BF wurde als äußerst fleißig, lernwillig, diszipliniert, pünktlich und verlässlich beschrieben. Dies bestätigte sie auch mit Schreiben vom 1.11.2017, in dem sie auf den regelmäßigen mit großem Interesse erfolgenden Besuch des Deutschkurses auf Niveau B1 durch den BF Bezug nahm. Herr XXXX (Leiter des Brillenfassungen erzeugenden Unternehmens XXXX mit 36 Mitarbeiter), der im mit 2.12.2019 datierten Schreiben angab, mit dem BF sehr eng bekannt zu sein, beschrieb den BF auf Grund seiner Tätigkeit in der Gemeinde XXXX als sehr fleißig, hilfsbereit, überaus freundlich und immer sehr engagiert. Der BF sei darüber hinaus als handwerklich sehr begabt und mit einer gesunden Neugier verbunden mit großem Tatendrang für neue Herausforderungen zu charakterisieren. Er wäre bereit, den BF auch in seinem Unternehmen anzustellen. Die hohe Integrationsbereitschaft des BF spreche gegen eine Abschiebung nach Afghanistan. Die Betreuung Tiroler Sozialer Dienst, bei der der BF in Betreuung stehe, bestätigte im Schreiben vom 2.6.2020, die Fähigkeit des BF, sich schnell einzufinden und sein Bemühen, sich mit den neuen Umständen vertraut zu machen. Der BF bereite sich auf die B1-Prüfung vor. Im Rahmen seiner gemeinnützigen Tätigkeit habe der BF zur vollsten Zufriedenheit die Arbeit verrichtet. Während seiner Arbeit als Saisonarbeiter im Gastgewerbe habe er sich als zuverlässiger und fleißiger Arbeiter erwiesen. Der BF sei bemüht, die österreichischen Werte und Traditionen zu lernen und einen aktiven Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten.
15. Der Stellungnahme des BF vom 18.6.2020 zu den aktuellen Länderberichten war ein weiteres Empfehlungsschreiben von Herrn XXXX angeschlossen, das nunmehr mit 9.6.2020 datiert wurde und inhaltlich ident ist mit dem bereits im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten oben wiedergegebenem Schreiben vom 2.12.2019 von Herrn XXXX Zur Lage in Afghanistan wurde vom BF ausgeführt, dass die Corona-Virus-Epidemie in Afghanistan völlig außer Kontrolle sei. Es sei daher davon auszugehen, dass der BF bei einer Rückkehr in eine existentielle Notlage geraten würde. Von einer Verbesserung der allgemeinen Situation könne keine Rede sein, auch nicht in Kabul, wo es regelmäßig zu furchtbaren Anschlägen käme. Die Sicherheitslage habe eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren und sei ebenso katastrophal wie die Wirtschaftslage. Es fehle an einer effizienten Durchschlagskraft der Zentralbehörden. Nicht nur der LIB sondern auch UNHCR bestätige den internationalen Schutzbedarf des BF. Dies ergebe sich auch aus der Risikoprofilliste von UNHCR, die verdeutliche, dass sich der BF von der Masse der Bevölkerung abhebe. Dabei wurden u.a. die Gruppe der Regierungsmitglieder und Staatsbediensteten und der als „verwestlich“ wahrgenommenen Personen angeführt. Nach der UNHCR-RL wurde die Landwirtschaft in den Provinzen Herat und Balkh zusammenbrechen. Es wurden in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans seit Jahrzehnten schlimmste Dürre vorherrschen. Die Sicherheitslage in Kabul habe sich in den letzten Jahren verschlechtert. In der Provinz Balkh habe nach dem aktuellen UNAMA-Bericht (2.2019) die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zu 2017 um 76% erhöht. Es handle sich nicht mehr um eine ruhige Provinz. Es müsse auch berücksichtigt werden, ob der BF in den Städten aus wirtschaftlicher Sicht überleben könne und läge erschwerend auch eine bedenkliche Nahrungsmittelversorgung vor. Eine Erwerbsmöglichkeit für den BF, um ein angemessenes Leben sicherzustellen, sei nicht gegeben. Dort sei auch die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung bedenklich. Ebenso sei die Provinz Balkh/Mazar-e Sharif von der mangelhaften Nahrungsmittelversorgung schwer getroffen. Es herrsche Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif verbunden mit Landflucht vor. Auch der Arbeitsmarkt in Mazar-e Sharif gewährleiste nicht für den BF ein angemessenes Leben zu führen. Die Wohnsituation von Mazar-e Sharif sei vergleichbar bedenklich mit der Situation in Herat. Ein wirtschaftliches Überleben sei dort nicht möglich. Gemäß der UNHCR-RL komme Kabul nicht mehr als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage. Dies ergebe sich auch aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes. Es bestehe für den BF im Falle einer Rückkehr intensiv und realistisch die Gefahr, dass er in eine ausweglose Lage geraten und damit eine Verletzung der durch Art. 2 bzw. 3 EMRK geschützten Rechte vorliegen würde. Der BF habe in der Zeit in Österreich bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die Sprache erlernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei arbeitsfähig und arbeitswillig und keine Belastung für die Gebietskörperschaft. Er ersuche daher um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. allenfalls von subsidiärem Schutz bzw. die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären.
16. Zum aktuellen Länderbericht zu Afghanistan (Stand 29.6.2020) wurde vom Bundesverwaltungsgericht neuerlich mit Schreiben vom 13.7.2020 eine Stellungnahmefrist eingeräumt. Der BF sah von einer Stellungnahme ab.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des BF:
Der BF ist am XXXX in Afghanistan im Dorf XXXX in der Provinz Paktia geboren. Er ist afghanischer Staatsbürger und in seinem Heimatdorf im Kreis seiner Familie aufgewachsen. Er hat in Afghanistan bis zu seiner Ausreise nach Österreich gelebt. Nach einer illegalen Einreise in Österreich stellte er am 2.9.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF ist seit 2009 verheiratet. Er besitzt ein Haus und ein Grundstück in seinem Heimatdorf. Seine Ehefrau lebt mit dem rund neunjährigen gemeinsamen Sohn in seinem Heimatdorf in Afghanistan, wo auch sein Onkel mütterlicherseits lebt. Die Mutter des BF lebt ebenfalls im Heimatdorf. Der Vater des BF ist bereits verstorben. Der Familie des BF geht es gut. Der BF steht mit ihr in Kontakt. Weitere Verwandte des BF leben im Heimatdorf und Kabul. Ein Cousin des BF befand sich in Österreich und lebt mittlerweile in Deutschland.
Der BF ist Paschtune und sunnitischer Muslim. Neben seiner Muttersprache Paschtu spricht der BF Dari. Er verfügt auch über Englischkenntnisse und hat am 5.4.2017 eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 ablegen. Der BF besuchte im November 2017 und weiter im Mai 2020 einen Deutschkurs auf dem Niveau B1.
Der BF hat in Afghanistan eine 12-jährige Schulausbildung absolviert. Der BF verfügt über eine mehrjährige Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft. Er hat auch einen Führerschein.
Auf Grund der mit 28.6.2019 datierten Beschäftigungsbewilligung als Saisonarbeiter für eine Abwäschertätigkeit war der BF von 28.6.2019 bis 31.10.2019 als Abwäscher bei der XXXX angestellt. Er war auch von Dezember 2019 bis März 2020 bei dieser tätig.
Der BF leistete über mehrere Jahre immer wieder gemeinnützige Tätigkeiten in der österreichischen Gemeinde XXXX , wo er Aufräumungsarbeiten durchführte und bei der Müllabfuhr und im Wertstoffhofbetrieb arbeitet. Im Rahmen seiner Tätigkeit für die Gemeinde XXXX verlegte er auch Wasser- und Kanalleitungen und betreute den Recyclinghof und den Strauchschnittplatz. Er spielt Fußball und ist ein engagiertes Mitglied im örtlichen Sportverein.
Der BF möchte in Österreich eine Lehre als Koch beginnen. Dem BF wurde von XXXX am 2.12.2019 und am 9.6.2020 eine Einstellung im Unternehmen XXXX (Produktion von Brillenfassungen) in Aussicht gestellt.
Der BF ist ein 29-jähriger, junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er ist ein pünktlicher, zuverlässiger, fleißiger, teamfähiger, kooperativer und engagierter Arbeiter. Der BF ist darüber hinaus handwerklich sehr begabt und hat eine gesunde Neugier verbunden mit großem Tatendrang für neue Herausforderungen.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Dem BF ist eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Paktia nicht zumutbar. Ihm steht jedoch eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung.
Im Hinblick auf die Pandemie zum Corona-Virus SARS-CoV2 (COVID -19) ist festzuhalten, dass der BF ein junger Mann ohne schwerwiegender Erkrankung ist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen und der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Ein bei einer Überstellung des BF nach Afghanistan vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK liegt somit nicht vor.
1.2 Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF ist in Afghanistan keiner asylrelevanten persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt.
Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen (als Schulwart vom Haqqani-Netzwerk bzw. den Taliban bedroht und zu einem Attentat genötigt worden zu sein) ist unzutreffend.
1.3 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:
Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan; Stand: 29.6.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
1.3.2 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019, Letzte Information eingefügt am 18.5.2020)
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft