TE Vwgh Erkenntnis 2020/9/29 Ro 2020/21/0012

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Veröffentlicht am 29.09.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl
BFA-VG 2014 §22a Abs4
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Mai 2020, G314 2227732-5/2E, betreffend Überprüfung der Fortsetzung einer Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG (mitbeteiligte Partei: YB, derzeit unbekannten Aufenthalts), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein auch unter Aliasidentitäten aufgetretener algerischer Staatsangehöriger, wurde im Anschluss an die Anhaltung in Strafhaft am 30. September 2019 aufgrund des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom selben Tag gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG zur Sicherung des Verfahrens über einen am 27. August 2019 gestellten Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in Schubhaft genommen.

2        Der erwähnte Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Beschwerdeweg ergangenen rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 28. Oktober 2019 vollinhaltlich abgewiesen und unter einem wurde gegen den Mitbeteiligten - verbunden mit der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Algerien - eine Rückkehrentscheidung samt einem mit zehn Jahren befristeten Einreiseverbot erlassen. Hierauf leitete das BFA ein Verfahren zur Erlangung eines Ersatzreisedokumentes ein.

3        Mit Erkenntnissen vom 27. Jänner 2020, vom 21. Februar 2020, vom 18. März 2020 und vom 16. April 2020 stellte das BVwG jeweils gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der genannten Entscheidungen die für die Fortsetzung der Schubhaft gegen den Mitbeteiligten maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.

4        Am 14. Mai 2020 sendete das BFA dem BVwG mit Bezug auf den Mitbeteiligten eine Email mit dem Inhalt, dass „anbei ... die 5. Vorlage zur Verlängerung der Schubhaft gem. § 76 Abs. 2 Z 2 FPG i.V.m. § 22a Aba. 4 BFA-VG übermittelt“ werde. Ergänzend wurde noch angemerkt, dass sich der „physische Akt (DEF u. SIM)“ bereits beim BVwG befinde.

5        Hierauf erging das angefochtene Erkenntnis des BVwG vom 15. Mai 2020, mit dem festgestellt wurde, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft gegen den Mitbeteiligten maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorlägen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft nicht verhältnismäßig sei. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die ordentliche Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens durch das BVwG - eine Revisionsbeantwortung wurde von Seiten des Mitbeteiligten nicht erstattet - und Vorlage der Akten erwogen hat:

7        Im vorliegenden Fall geht es um die nach einer vier Monate überschreitenden Dauer der Schubhaft alle vier Wochen vorzunehmende Überprüfung der Zulässigkeit der Fortsetzung dieser Anhaltung durch das BVwG nach der Bestimmung des § 22a Abs. 4 BFA-VG, die wie folgt lautet (siehe zu ihrer historischen Entwicklung auch VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0099, Rn. 8 bis 12):

„§ 22a (1) bis (3) ...

(4) Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfen. Das Bundesamt hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem Bundesverwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das Bundesamt hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung hat zu entfallen, soweit eine Beschwerde gemäß Abs. 1 bereits eingebracht wurde.“

8        Das BVwG ging bei der Wiedergabe des Verfahrensgangs davon aus, das BFA habe die Gründe, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig sei, nicht dargelegt und „keine Bestandteile von Verwaltungsakten“ vorgelegt. Daraus folgerte es im Rahmen der rechtlichen Beurteilung, das BFA sei den im zweiten und vierten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG normierten Vorgaben nicht nachgekommen. Vollständige Verwaltungsakten, die dem BVwG eine „fundierte Überprüfung“ der (Zulässigkeit der) Aufrechterhaltung der Schubhaft innerhalb der dafür vorgegebenen Frist ermöglicht hätten, seien trotz der diesbezüglichen gesetzlichen Verpflichtung nicht vorgelegt worden. Es genüge nicht, auf früher vorgelegte Akten zu verweisen. Außerdem habe das BFA nicht dargelegt, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft weiterhin notwendig und verhältnismäßig sei. Insbesondere sei nicht erläutert worden, ob und aus welchen Gründen davon auszugehen sei, dass für den Mitbeteiligten in absehbarer Zeit ein Ersatzreisedokument ausgestellt und seine Abschiebung dann - auch vor dem Hintergrund der weltweiten Reisebeschränkungen angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie - tatsächlich durchgeführt werden könne. Die „lapidare E-Mail vom 14.05.2020“ könne die nach dem vierten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG verlangte Stellungnahme nicht ersetzen, zumal dem BVwG eine aktuelle Entscheidungsgrundlage für die Schubhaftprüfung fehle.

9        Daher sei - so begründete das BVwG seine Entscheidung weiter - die Entwicklung seit der letzten Schubhaftüberprüfung mit Erkenntnis vom 16. April 2020 nicht bekannt. Weder könne eingeschätzt werden, ob beim Mitbeteiligten nach wie vor Fluchtgefahr anzunehmen sei, noch, ob begründete Aussicht auf die Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes bestehe und die Abschiebung danach zeitnah bewerkstelligt werden könne. Es könne vom BVwG auch nicht beurteilt werden, ob der Zweck der Schubhaft nunmehr allenfalls durch gelindere Mittel erreicht werden könne. Da das Interesse des Mitbeteiligten umso schwerer wiege je länger die Schubhaft andauere und er derzeit bereits deutlich länger als sechs Monate in Schubhaft angehalten werde, sei ohne zusätzliche Informationen davon auszugehen, dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft jetzt nicht mehr verhältnismäßig sei und die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorlägen, obwohl wegen der Straffälligkeit des Mitbeteiligten das Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besonders groß sei.

10       Schließlich begründete das BVwG das Absehen von einer mündlichen Verhandlung noch mit dem Hinweis auf § 21 Abs. 7 BFA-VG, „weil der für die Schubhaftprüfung relevante Sachverhalt aus der Aktenlage geklärt werden konnte“. Da das BFA bei der Einleitung des gegenständlichen Verfahrens zur Schubhaftprüfung weder Verwaltungsakten vorgelegt noch eine begründete Stellungnahme erstattet habe, sei das BVwG nicht gehalten, eine Verhandlung durchzuführen, damit dies nachgeholt werden könne. Anhand der vorhandenen Informationen sei - so wiederholte das BVwG schon zuvor in diesem Sinn getroffene Feststellungen - nicht davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit mit der Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes für den Mitbeteiligten zu rechnen sei und er tatsächlich abgeschoben werden könne.

11       Den Ausspruch über die Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG begründete das BVwG damit, dass keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage vorliege, welche Konsequenzen eine Verletzung der im zweiten Satz und im vierten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG festgelegten Vorgaben nach sich ziehe.

12       Die Amtsrevision, in der zu ihrer Zulässigkeit in erster Linie auf diese Begründung des BVwG verwiesen wird, ist zur Klarstellung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit den sich nach den genannten Bestimmungen ergebenden Verpflichtungen für das BFA zulässig. Sie ist auch berechtigt, weil im Ergebnis zutreffend geltend gemacht wird, das BVwG hätte erst nach Durchführung eines Verbesserungsverfahrens entscheiden dürfen.

13       Das BFA ging in seiner Email vom 14. Mai 2020 davon aus, der „physische Akt (DEF und SIM)“ befinde sich bereits beim BVwG. In der Amtsrevision wird diesbezüglich geltend gemacht, der „physische Schubhaftakt“ - also der Akt des BFA betreffend die Erlassung einer Sicherungsmaßnahme („SIM“) - habe sich damals bereits beim BVwG befunden. In den vom BVwG dem Verwaltungsgerichtshof mit der Revision vorgelegten Akten befinden sich auch Kopien aus dem „SIM-Verfahren“, insbesondere der Festnahme- und Überstellungsauftrag vom 27. September 2019, ein Bericht vom 30. September 2019 über die Festnahme und Überstellung des Mitbeteiligten in das Anhaltezentrum Vordernberg und der Schubhaftbescheid vom selben Tag sowie Aktenvermerke vom 30. Oktober 2019, vom 22. November 2019 und vom 20. Dezember 2019 über die periodischen Schubhaftprüfungen durch das BFA nach § 80 Abs. 6 FPG.

14       Demnach ist davon auszugehen, dass zumindest Teile der Verwaltungsakten des BFA dem BVwG vor seiner Entscheidung vorgelegen sind, wobei es ausreichte, dass diese Verwaltungsakten bereits früher vorgelegt wurden und sich noch beim BVwG befanden. Das kommt nämlich im Ergebnis einer Aktenvorlage gleich, wenn darauf - wie hier - vom BFA ausdrücklich hingewiesen wird. In Verbindung mit der Email vom 14. Mai 2019 genügte das fallbezogen jedenfalls für die Einleitung des Verfahrens zur neuerlichen Überprüfung der Zulässigkeit der Schubhaft nach § 22a Abs. 4 FPG und bewirkte nach dem dritten Satz dieser Bestimmung, dass die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Mitbeteiligten eingebracht galt. Davon ist erkennbar auch das BVwG ausgegangen, hat es doch im vorliegenden Fall eine inhaltliche Entscheidung (über die fingierte Beschwerde) getroffen. Erachtet das BVwG aber die bereits vorhandenen oder vom BFA übermittelten Verwaltungsakten für unvollständig, so hat es vor seiner Entscheidung - möglichst auf einfache Art und Weise - dem BFA eine umgehende Ergänzung der fehlenden Aktenteile aufzutragen.

15       Nun wird nicht verkannt, dass das BVwG im vorliegenden Fall unter einem besonderen Zeitdruck stand. Aufgrund der dem Verwaltungsgerichtshof zur Verfügung stehenden Akten lässt sich - und zwar aus den Eintragungen im Zentralen Fremdenregister - nämlich erschließen, dass das Erkenntnis des BVwG vom 16. April 2020 noch am selben Tag erlassen wurde, sodass die vierwöchige Frist bis zur nächsten Schubhaftprüfung nach § 22a Abs. 4 BFA-VG am 14. Mai 2020 endete, somit am Tag der Übermittlung der erwähnten Email des BFA an das BVwG (vgl. dazu VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0163, Rn. 11). Auch wenn das BFA somit seiner sich aus dem zweiten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG ergebenden Pflicht zur vollständigen und rechtzeitigen Aktenvorlage zumindest eine Woche vor diesem Termin nicht entsprochen hatte, hätte das BVwG aber auch im vorliegenden Fall doch noch versuchen müssen, auf eine Vervollständigung der Entscheidungsgrundlagen zu dringen. Das gilt vor allem in Bezug auf die der genannten Email - laut Revision (arg.: „anbei“): erkennbar irrtümlich - nicht angeschlossene, nach dem vierten Satz des § 22a Abs. 4 BFA-VG jedoch verpflichtend zu erstattende Stellungnahme des BFA zu den Gründen für die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung in Schubhaft.

16       Beizupflichten ist dem BVwG lediglich darin, dass eine mündliche Verhandlung nicht (allein) deshalb anzuberaumen ist, um dem BFA (erstmals) Gelegenheit zu einer solchen Stellungnahme zu geben; sie ist nämlich bereits im Zuge der Aktenvorlage zu erstatten.

17       Das angefochtene Erkenntnis war jedoch schon aus den vorgenannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 29. September 2020

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020210012.J00

Im RIS seit

17.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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