TE OGH 2020/9/1 10ObS97/20t

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Veröffentlicht am 01.09.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Schlor Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. April 2020, GZ 7 Rs 2/20w-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. Oktober 2019, GZ 22 Cgs 92/19g-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen Kostenbeitrag zu den Kosten des Revisionsverfahrens in Höhe von 209,38 EUR (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu leisten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Beobachtungszeitraum für die „Hälfteregelung“ (§ 255 Abs 2 3. Satz ASVG) mit dem Abschluss der ersten Berufsausbildung beginnt (Standpunkt der beklagten Partei) oder mit dem Abschluss einer kurz nach Eintritt ins Erwerbsleben absolvierten zweiten Berufsausbildung (Standpunkt des Klägers).

[2]            Der am 1. 3. 1990 geborene Kläger hat von September 2005 bis Februar 2009 den Beruf eines Elektroanlagentechnikers erlernt und war anschließend drei Monate als Elektroanlagentechniker tätig. Von September 2010 bis August 2013 absolvierte er die Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeitete danach 44 Versicherungsmonate als Gesundheits- und Krankenpfleger und fünf Versicherungsmonate als Stationsgehilfe.

[3]       Am 12. 7. 2018 beantragte er die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension.

[4]       Der Kläger ist aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen derzeit weder in der Lage, den Beruf des Elektroanlagentechnikers auszuüben noch jenen des Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegers. Trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen sind ihm aber noch einfache Hilfsarbeiten und Angestelltentätigkeiten möglich.

[5]       Mit Bescheid vom 4. 2. 2019 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

[6]       Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab und stellte fest, dass kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. Da zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre lägen, müsse zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für 12 Pflichtversicherungsmonate eine berufsschutzerhaltende Tätigkeit ausgeübt worden sein. Im Beobachtungszeitraum vom Abschluss der ersten Berufsausbildung bis zum Stichtag (1. 8. 2018), der 114 Kalendermonate umfasse, lägen jedoch nicht die erforderlichen 57, sondern insgesamt nur 47 qualifizierte Versicherungsmonate vor. Bezogen auf den Abschluss der ersten Berufsausbildung erreiche der Kläger daher nicht die nötige Anzahl von qualifizierten Versicherungsmonaten. Dass in dem – 59 Kalendermonate umfassenden – Zeitraum ab dem Abschluss der zweiten Ausbildung bis zum Stichtag 44 Versicherungsmonate liegen (bezogen auf 59 Kalendermonate somit mehr als die Hälfte), sei nicht maßgeblich. Dem Kläger komme kein Berufsschutz zu.

[7]       Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Der Beobachtungszeitraum (15 Kalenderjahre oder die sogenannte „Hälfteregelung“) sei vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit) zu rechnen, nach der der Kläger ins Berufsleben eingetreten sei. Beim Kläger sei der Beginn des Beobachtungszeitraums daher mit Abschluss der ersten Ausbildung anzunehmen. Die von ihm absolvierte zweite Ausbildung führe bei Beurteilung des Berufsschutzes nicht zur Verkürzung des Beobachtungszeitraums.

[8]       Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob auch bei einer bereits kurz nach Eintritt in das Erwerbsleben absolvierten zweiten Ausbildung auf den Beobachtungszeitraum ab Abschluss der ersten Ausbildung abzustellen sei.

Rechtliche Beurteilung

[9]       Die Revision des Klägers ist zur Klarstellung zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.

[10]     Der Revisionswerber macht zusammengefasst geltend, das Gesetz nehme nicht Rücksicht darauf, wann die Ausbildung absolviert worden sei und auch nicht darauf, ob eine oder mehrere Ausbildungen abgeschlossen worden seien. Ließe man ihm keinen Berufsschutz zukommen, wäre der Erwerb des Berufsschutzes für sein zukünftiges Berufsleben erschwert.

[11]     Dazu ist auszuführen:

[12]     1.1 Berufsschutz gemäß § 255 Abs 1 ASVG liegt vor, wenn der Versicherte innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellter oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt hat. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 oder als Angestellter vorliegen (§ 255 Abs 2 ASVG).

[13]     1.2 Als Ende der Ausbildung gelten der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul- oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter (§ 255 Abs 2a ASVG).

[14]     1.3 Zweck der Novellierung des § 255 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 war, künftig grundsätzlich nur eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs zu schützen, ausnahmsweise aber auch jüngeren Arbeitnehmern, die nicht die Möglichkeit hatten, 90 Versicherungsmonate in der qualifizierten Tätigkeit zu erwerben, im Wege des § 255 Abs 2 3. Satz ASVG die Gelegenheit zu bieten, Berufsschutz zu erlangen, wenn sie zumindest die Hälfte der Zeit in einer (oder mehreren) der erlernten qualifizierten Tätigkeiten gearbeitet haben (sogenannte „Hälfteregelung“).

[15]           2. Zur Berechnung des Beobachtungszeitraums ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass die „Beobachtungsjahre“ (15 Kalenderjahre oder „Hälfteregelung“) vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt, gerechnet werden sollen. Als Beispiel nennen die Materialien den Abschluss der Schlosserlehre mit 18 Jahren, daran anschließend die Ausübung einer einschlägigen Berufstätigkeit bis zum 25. Lebensjahr, dann die Absolvierung der Matura und eines Studiums bis zum 32. Lebensjahr und die Stellung des Pensionsantrags mit 35 Jahren. In diesem Fall laufe der Beobachtungszeitraum vom 20. bis zum 35. Lebensjahr. Für die Frage der Erfüllung der 7,5 Jahre einer entsprechenden Pflichtversicherung seien alle berufsschutzbegründenden Tätigkeiten (Facharbeiterzeiten, Zeiten als angestellter Maturant und als Akademiker) zusammenzurechnen (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 205).

[16]           3.1 § 255 Abs 2 3. Satz ASVG stellt eine spezielle Regelung für jene Versicherten dar, bei denen zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war. Nur in diesem Fall genügt ausnahmsweise das Vorliegen einer qualifizierten Erwerbstätigkeit zumindest in der Hälfte der Kalendermonate. Vor diesem Hintergrund ist bei wertender Betrachtung die Regelung des § 255 Abs 2 3. Satz ASVG als Ausnahmeregelung zur Grundregelung des § 255 Abs 2 2. Satz ASVG einschränkend auszulegen (vgl 10 ObS 50/12v, SSV-NF 26/33).

[17]           3.2 Die Anwendbarkeit der „Hälfteregelung“ nach § 255 Abs 2 3. Satz ASVG wurde daher verneint, wenn der Versicherte nachträglich eine (einzige) Lehrabschlussprüfung absolviert hat, der erstmalige Eintritt in das Berufsleben jedoch mehr als 15 Jahre vor dem Stichtag erfolgt ist (10 ObS 50/12v, SSV-NF 26/33 = DRdA 2013/11, 136 [krit Panhölzl]; krit Födermayer in SV-Komm [252. Lfg] § 255 ASVG Rz 116; bestätigend 10 ObS 86/16v, SSV-NF 30/48; RS0127798). Wie der Revisionswerber zutreffend vorbringt, ist diese Frage aber im vorliegenden Fall, in dem der Beobachtungszeitraum (jedenfalls) weniger als 15 Jahre umfasst, nicht zu lösen. Strittig ist allein der Beginn des Beobachtungszeitraums.

[18]     4.1 § 255 Abs 2a ASVG stellt seinem Wortlaut nach lediglich auf den Abschluss „einer“ Ausbildung und nicht auf den Abschluss der „ersten“ Ausbildung ab. Wie der Revisionswerber vorbringt, wäre nach dem Wortlaut des § 255 Abs 2a ASVG demnach auch eine Berechnung der Versicherungsmonate der qualifizierten Tätigkeit ab dem Abschluss der zweiten Ausbildung erfasst.

[19]     4.2 Zu berücksichtigen ist aber, dass die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 3. Satz ASVG als Ausnahmeregelung zur Grundregelung des § 255 Abs 2 2. Satz ASVG einschränkend auszulegen ist.  Zudem lässt sich den Gesetzesmaterialien eindeutig entnehmen, dass auch bei der „Hälfteregelung“ auf den Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung abzustellen ist, nach der die versicherte Person ins Berufsleben eingetreten ist. Bezogen auf diesen Zeitpunkt sind zwecks Beurteilung der Erfüllung der entsprechenden Pflichtversicherung alle berufsschutzbegründenden Tätigkeiten zusammenzurechnen.

[20]     5.1 Zutreffend sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass beim Kläger, der nach Abschluss der Lehre zum Elektroanlagentechniker in diesem Beruf (wenn auch nur kurze Zeit) tätig war, der Beobachtungszeitraum mit dem Ausbildungsabschluss im Beruf des Elektroanlagentechnikers beginnt und bis zum Stichtag läuft.

[21]           5.2 Den Beginn des Beobachtungszeitraums erst mit dem Abschluss der zweiten Berufsausbildung anzunehmen, wäre nicht nur mit dem Gesetzeszweck einer Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung von Berufsschutz unvereinbar und stünde im Widerspruch zu der aus den Gesetzesmaterialien ersichtlichen Absicht des Gesetzgebers, sondern wäre auch sachlich nicht zu rechtfertigen. Ließe man den Beobachtungszeitraum ab Abschluss der zweiten Berufsausbildung neu beginnen, wäre der Beobachtungszeitraum wesentlich verkürzt (im Fall des Klägers von 114 Kalendermonaten auf 59 Kalendermonate). Dem Kläger käme Berufsschutz schon dann zu, wenn er bis zum Stichtag bezogen auf diesen verkürzten Beobachtungszeitraum zumindest in der Hälfte der Kalendermonate (zumindest) aber 12 Monate im zweiten Beruf gearbeitet hat. Demgegenüber müssten Versicherte, die – wie vom Gesetzgeber als Regelfall ins Auge gefasst – mit etwa 18 Jahren eine (einzige) Berufsausbildung abgeschlossen haben, bei einem kürzeren als 15-jährigen (aber „ungeteilten“) Beobachtungszeitraum bis zum jeweiligen Stichtag zumindest in der Hälfte der Kalendermonate (zumindest aber 12 Monate) im erlernten Beruf tätig sein. Diese Auslegung würde einen Versicherten in der Situation des Klägers deutlich und in sachlich nicht begründbarer Weise begünstigen. Außerdem wäre der Kläger auch im Verhältnis zu Arbeitnehmern, die nicht schon kurz nach Eintritt ins Erwerbsleben, sondern erst im fortgeschrittenen Alter die zweite Ausbildung begonnen hatten (siehe RS0127798) bessergestellt.

[22]           6. Die Vorinstanzen sind somit zu Recht davon ausgegangen, dass zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 255 Abs 2 3. Satz ASVG der Beobachtungszeitraum mit dem ersten Ausbildungsabschluss des Klägers beginnt. Bis zum Stichtag umfasst dieser Zeitraum 114 Kalendermonate, in denen nicht die erforderlichen 57, sondern nur 47 qualifizierte Versicherungsmonate (drei Versicherungsmonate als Elektroanlagentechniker sowie 44 Versicherungsmonate als Gesundheits- und Krankenpfleger) liegen, sodass kein Berufsschutz gegeben ist.

[23]     7. Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

[24]     8. Zur Kostenentscheidung:

[25]     Unterliegt der Versicherte im gerichtlichen Verfahren zur Gänze, richtet sich sein Kostenersatzanspruch nach § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Nach dieser Bestimmung setzt ein Kostenersatzanspruch nach Billigkeit voraus, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten einen Kostenersatz nahelegen und auch tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten des Verfahrens vorliegen. Es ist Sache des Versicherten, Umstände, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen können, geltend zu machen, es sei denn, sie ergeben sich aus dem Akteninhalt (RS0085829 [T1]).

[26]     Wenngleich der Kläger in der Revision nicht vorgebracht hat, dass seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse einen Kostenersatzanspruch nahelegen, sind aus dem im Akt erliegenden Versicherungsdatenauszug ausreichende Anhaltspunkte ableitbar, sodass vom Erfordernis der Bescheinigung abgesehen werden kann (10 ObS 139/12g, SSV-NF 26/70 mwN).

[27]     Die rechtlichen Schwierigkeiten des Falls ergeben sich daraus, dass die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhing. Es entspricht daher der Billigkeit, dem zur Gänze unterlegenen Kläger die Hälfte der Kosten seines Vertreters im Revisionsverfahren zuzusprechen (RS0085871).

Textnummer

E129496

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00097.20T.0901.000

Im RIS seit

30.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.10.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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