Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden sowie die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen L*****, in Pflege und Erziehung der Mutter N*****, vertreten durch Giesinger, Ender, Eberle & Partner, Rechtsanwälte in Feldkirch, wegen pflegschaftsgerichtlicher Genehmigung einer Klagsführung, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 5. Mai 2020, GZ 3 R 91/20k-8, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bludenz vom 3. April 2020, GZ 28 Pg 33/20t-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Der Minderjährige ist nicht österreichischer Staatsbürger und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er lebte mit seiner Mutter und dem am 21. 1. 2017 im Schigebiet S***** bei einem Rodelunfall tödlich verunglückten M***** im gemeinsamen Haushalt. Mit einer am 20. 1. 2020 beim Landesgericht Feldkirch eingebrachten Klage macht der Minderjährige Schadenersatzansprüche gegen die S***** GmbH geltend und begehrt den Zuspruch von Trauerschmerzengeld sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für sämtliche zukünftigen Schäden.
Am 13. 1. 2020 beantragte der durch seine Mutter vertretene Minderjährige die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Klagsführung. Eine Abklärung in Deutschland habe ergeben, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich sei. Aus Gründen prozessualer Vorsicht werde jedoch eine pflegschaftsbehördliche Genehmigung der Klagsführung oder die Mitteilung, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich sei, beantragt.
Das Erstgericht wies den Antrag auf pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Klagseinbringung zurück. Gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO seien für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Auch Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Vermögensverwaltung, so etwa auch Klagsgenehmigungen, fielen in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Bestehe – wie im vorliegenden Fall – Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat der Europäischen Union, richte sich die internationale Zuständigkeit nicht nach § 110 JN, sondern nach der Brüssel IIa-VO. In den Anwendungsbereich dieser Verordnung fielen gemäß deren Art 1 Abs 2 lit e auch Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber. Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO seien für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dadurch solle gewährleistet werden, dass das – zumindest in der Regel – sachnächste Gericht entscheidet.
Da in vergleichbaren Fällen zweitinstanzliche Gerichte teilweise die internationale Zuständigkeit der österreichischen Pflegschaftsgerichte gemäß § 110 Abs 1 Z 3 JN bejaht hätten, sei der ordentliche Revisionsrekurs zuzulassen.
Rechtliche Beurteilung
Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.
1.1. Die Brüssel IIa-VO regelt die internationale Zuständigkeit in Eheauflösungssachen und in Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung sowie die Anerkennung und allenfalls Vollstreckung der darüber in anderen Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen (Fucik in Fasching/Konecny2, EuEheKindVO Vor Art 1 Rz 1). Als Unionsrecht genießt die Brüssel IIa-VO Anwendungsvorrang vor dem rein nationalen Recht (Fucik aaO Vor Art 1 Rz 4; Kodek in Fasching/Konecny2 Vor Art 1 EuGVVO Rz 16). Im Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO wird entgegenstehendes nationales Recht verdrängt.
1.2. Nach Art 1 Abs 2 lit e leg cit fallen in den Anwendungsbereich der Verordnung „Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber“. Aus dieser Bestimmung wird in der Literatur überwiegend abgeleitet, dass die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts oder die Genehmigung einer Klagsführung von der Brüssel IIa-VO erfasst wird (Rauscher in Rauscher, EuZPR Art 1 Rz 33; Fucik aaO Rz 1 Rz 49). Die Klage selbst fällt demgegenüber unter die EuGVVO (Fucik aaO).
1.3. Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die internationale Unzuständigkeit ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen, weil es keine Heilung der internationalen Unzuständigkeit gibt (Art 17 Brüssel IIa-VO).
1.4. Die Regelung des § 110 JN ist im Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO demgegenüber lediglich subsidiär anzuwenden (Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 110 JN Rz 5; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 110 JN Rz 6; Fucik in Fasching/Konecny3 § 110 JN Rz 13).
2. An der Anwendung der Brüssel IIa-VO änderte sich auch nichts, wenn man in Übereinstimmung mit dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien (EFSlg 124.680) davon ausginge, dass die Verfolgung schadenersatzrechtlicher Ansprüche eines Minderjährigen sowohl dem Bereich des Obsorgerechts als auch jenem der Verwaltung des Kindesvermögens zuzurechnen sei. Vielmehr wären in beiden Fällen nicht österreichische, sondern deutsche Gerichte international zuständig.
3.1. Dem Revisionsrekurswerber ist einzuräumen, dass in einer Entscheidung des Landesgerichts Innsbruck (iFamZ 2009/136 [Fucik]) die internationale Pflegschaftszuständigkeit österreichischer Gerichte für ein in England lebendes Kind im Zusammenhang mit der Genehmigung einer Schadenersatzklage gegen einen österreichischen Haftpflichtversicherer bejaht wurde. Auf die Brüssel IIa-VO geht das Landesgericht Innsbruck in dieser Entscheidung jedoch nicht ein. Aus diesm Grund hat Fucik (aaO Vor Art 1 Rz 4) die Entscheidung kritisiert.
3.2. Nicht einschlägig ist auch die Argumentation des Revisionsrekurswerbers, die Brüssel IIa-VO sei auf bloße Vorfragebeurteilungen nicht anwendbar. Im vorliegenden Fall geht es nicht um eine Vorfragebeurteilung, sondern um eine Maßnahme im Zusammenhang mit Schutz und Verwaltung des Vermögens des Minderjährigen im Sinne des Art 1 Abs 2 lit e Brüssel IIa-VO. Vom zitierten Wortlaut sind auch außerstreitige einseitige Genehmigungsverfahren erfasst. Das Vorliegen eines „Streits“ ist – entgegen den Revisionsrekursausführungen – nicht erforderlich.
3.3. Auch nach Garber (in Gitschthaler, Internationales Familienrecht Art 1 Brüssel IIa-VO Rz 84) ist die Brüssel IIa-VO auf pflegschaftsgerichtliche Genehmigungen anzuwenden. Richtig ist, dass Garber sich in seiner Kommentierung nur auf die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung eines Rechtsgeschäfts bezieht. Für die hier zu beurteilende pflegschaftsgerichtliche Genehmigung einer Klagsführung kann jedoch nichts anderes gelten. Lediglich die Klage selbst fällt nicht in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO, sondern ist nach der EuGVVO zu beurteilen.
4. Zusammenfassend erweist sich die Entscheidung des Rekursgerichts daher als frei von Rechtsirrtum, sodass dem unbegründeten Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen war.
Textnummer
E129483European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00125.20F.0909.000Im RIS seit
30.10.2020Zuletzt aktualisiert am
20.07.2021