TE Lvwg Erkenntnis 2020/9/30 LVwG-2019/17/2110-3

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Veröffentlicht am 30.09.2020
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Entscheidungsdatum

30.09.2020

Index

41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

FrPolG 2005 §120 Abs1b
FrPolG 2005 §31 Abs1a
VStG §45 Abs1 Z2

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Landesverwaltungsgericht Tirol erkennt durch seine Richterin Dr.in Luchner über die Beschwerde der AA, Z, vertreten durch RA BB, Y, gegen das Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Tirol vom 08.08.2019, zu Zl ***

zu Recht:

1.       Der Beschwerde wird insofern Folge gegeben, als das erstinstanzliche Straferkenntnis behoben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG zur Einstellung gebracht wird.

2.       Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 B-VG unzulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

I.       Vorverfahren, Sachverhalt:

Mit dem erstinstanzlichen Straferkenntnis wurde der Beschuldigten spruchgemäß nachstehender Sachverhalt zur Last gelegt:

„1.     Datum/Zeit:           03.06.2019 (Datum der Rechtskraft der Rückkehrentscheidung)

         Ort/Meldeadresse:  Z, Adresse 1

Sie sind als Fremde (§ 2 Abs. 4 Z 1 FPG) aus von Ihnen zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich Ihrer Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachgekommen, nachdem eine

gegen Sie erlassene Rückkehrentscheidung (§ 52) rechtskräftig und durchsetzbar geworden ist und Sie ein Rückkehrberatungsgespräch gem. § 52a Abs. 2 BFA-VG in Anspruch genommen

haben. Sie halten sich daher seit dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Rückkehrentscheidung am

03.06.2019, bis zum heutigen Datum (08.08.2019) unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift(en) verletzt:

1. § 120 Abs. 1b i.V.m. § 31 Abs. 1a Fremdenpolizeigesetz

Wegen dieser Verwaltungsübertretung(en) wird (werden) über Sie folgende Strafe(n) verhängt:

Geldstrafe von

falls diese uneinbringlich ist, Ersatzfreiheitsstrafe von

Freiheitsstrafe von

Gemäß

1. € 5.000,00

14 Tage(n) 0 Stunde(n)

0 Minute(n)

 

§ 120 Abs. 1b

Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I

Nr. 100/2005 i.d.g.F.

Weitere Verfügungen (zB Verfallsausspruch, Anrechnung von Vorhaft):

Ferner haben Sie gemäß § 64 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 - VStG zu zahlen:

€ 500,00 als Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens, das sind 10 % der Strafe, jedoch mindestens € 10,00 für jedes Delikt (je ein Tag Freiheitsstrafe wird gleich € 100,00 angerechnet).

Der zu zahlende Gesamtbetrag (Strafe/Kosten/Barauslagen) beträgt daher

5.500,00“

Gegen dieses Straferkenntnis hat der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben und in dieser ausgeführt wie folgt:

„ln umseitiger Rechtssache erhebt die Beschwerdeführerin (Bf) innerhalb offener

Frist

Beschwerde

an das Landesverwaltungsgericht Tirol gegen das Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Tirol vom 08.08.2019, ***, zugestellt am 13.08.2019.

Die Bf fechtet das angefochtene Straferkenntnis in seinem gesamten Umfang an und macht als Beschwerdegründe Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend.

Die Bf wird durch das angefochtene Straferkenntnis in ihrem Recht nicht gemäß § 120 Abt 1 b FPG bestraft zu werden, verletzt. Weiters in ihrem Recht auf Durchführung eines den Verfahrensvorschriften entsprechenden Verfahrens.

1.) Gemäß § 120 Abs 1 b FPG setzt eine Strafbarkeit voraus, dass der Fremde aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich seiner Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachkommt.

In antizipierender Beweiswürdigung und reiner Willkür hat sich die belangte Behörde (bB) mit der Frage, ob die Bf aus von ihr zu vertretenden oder aus von ihr nicht zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich aus dem Bundesgebiet ausgereist ist, in keinster Weise auseinandergesetzt. Dies obwohl die Bf in ihren Stellungnahmen mehrere Gründe vorgebracht hat, warum ihr die unverzügliche Ausreise aus von ihr nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich war und weiterhin ist.

Die bB hat sich in keinster Weise damit auseinandergesetzt, wie die Bf ohne Reisedokument ausreisen soll.

Die Bf hat stets angegeben, dass sie russische Staatsbürgerin ist, dass sie über keinen Reisepass und keine sonstigen Dokumente verfügt. Sie kann auch mit ihrer Mutter keinen Kontakt mehr herstellen, sodass ihr diese bei der Beschaffung eines Reisedokuments nicht behilflich sein kann.

2.) Die Bf ist Mutter des am 31.08.2016 in Österreich geborenen CC. Das Kind ist noch keine zwei Jahre alt und völlig von der Mutter abhängig. Eine Trennung von Mutter und Kind würde jedenfalls gegen das Kindeswohl verstoßen.

Das Kind verfügt über keinen Reisepass, zumal weder seine Mutter noch der Vater über Reisepässe verfügen.

Ohne Reisepässe der Eltern ist es auch nicht möglich für das Kind einen armenischen Reisepass ausstellen zu lassen.

Eine Ausreise ohne den zweijährigen Sohn ist weder der Bf noch dem Sohn zumutbar. Daher ist die unterbliebene Ausreise auch aus diesem Grund nicht nach § 120 Abs 1b FPG strafbar.

3.) Ein weiterer Grund dafür, dass die Bf nicht ausreist, ist ihre neuerliche Schwangerschaft. Sie war am xx.xx.xxxx im 4. Monat schwanger, derzeit ist sie im 7. Monat schwanger.

Eine Ausreise der Bf nach Armenien in ein Land, welches ihr wie die dort gesprochene Sprache völlig fremd ist, wo sie niemanden kennt und wo sie keine Unterstützung erfahren würde, würde für sie Obdachlosigkeit und damit eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit für sich, für den Sohn CC und das ungeborene Kind bedeuten.

Hätte sich die belangte Behörde mit diesen ihr bekannten Argumenten auseinandergesetzt, hätte sie zu dem einzig möglichen Ergebnis gelangen müssen, dass die Bf ohne Reisepass, ohne Mitnahme ihres Kleinkindes und im 7. Monat schwanger nicht aus Österreich ausreisen kann.

Aufgrund dieser Feststellung hätte die bB davon ausgehen müssen, dass die Bf aus von ihr nicht zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich aus dem Bundesgebiet ausreisen konnte, und hätte sie das Verwaltungsstrafverfahren einstellen müssen.

4.) Das Straferkenntnis ist auch allein deshalb rechtswidrig und falsch, da das Erkenntnis des BVwG vom 31.05.2019 am 03.06.2019 um 07:54 Uhr per WEB-ERV den Vertretern bereitgestellt wurde.

Eine Strafbarkeit nach § 120 Abs 1b FPG setzt voraus, dass der Fremde unverzüglich seiner Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachkommt.

Am 03.06.2019 von 0:00 Uhr bis 07:53 Uhr hat es keine Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet gegeben. Diese hat erst mit 07:54 Uhr begonnen, wobei um diese Uhrzeit die Kanzlei der Vertreter noch nicht geöffnet hat und die Bf zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis vom Erkenntnis erlangen konnte.

Ab dem Zeitpunkt der Kenntnis muss ihr ein angemessener Zeitraum von mindestens 14 Tagen zugebilligt werden, zumal sie ja mit einem 2-jährigen Kind und damals im 4. Monat schwanger ausreisen musste.

Gestützt auf obiges Vorbringen werden daher gestellt nachfolgende

Beschwerdeanträge:

Das Landesverwaltungsgericht Tirol wolle eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen, der Beschwerde Folge geben und den angefochtenen Bescheid aufheben und das Verwaltungsstrafverfahren einstellen,

in eventu den angefochtenen Bescheid aufheben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückverweisen.

Y, am 17.08.2019                                                                       für AA“

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verwaltungsstrafakt sowie durch Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung, zu der die Beschwerdeführerin sowie ihr Ehemann und die beiden Kinder erschienen sind.

Aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens steht nachstehender Sachverhalt als bewiesen fest:

Die Beschwerdeführerin ist am xx.xx.xxxx geboren. Den Angaben entsprechend ist sie russische Staatsangehörige und hat das dem BFA auch mitgeteilt. Sie hat einen russischen Pass in Kopie vorgelegt.

Sie ist jesidischen Glaubens und mit ihrem Ehemann auch nach jesidischem Glauben verheiratet.

Am 03.06.2019 (Datum der Rechtskraft der Rückkehrentscheidung laut Straferkenntnis vom 08.08.2019) hatte sie weder einen Pass noch ein Ausreisedokument für ihr erstgeborenes Kind. Zwischenzeitlich hat sie einen russischen Pass erhalten, der dem BFA vorgelegt wurde. Die Beschwerdeführerin wohnt mit ihrem Mann in Z. Beide Kinder besitzen immer noch keinen Pass. Dies auch deshalb, weil auch der Ehemann noch keinen Pass besitzt und ohne die Vorlage der Pässe der Eltern auch für die Kinder kein armenischer Pass ausgestellt wird.

Der Ehemann hat eine Rot-Weiß-Rot-Karte plus und ist seit 17 Jahren in Österreich. Er ist Leiter der Feinkostabteilung bei DD in der Adresse 2 in Y.

Das Ehepaar konnte nicht nach zivilem Recht heiraten, weil die entsprechenden Unterlagen für eine zivile Eheschließung nicht vorhanden gewesen sind.

Der Pass der Beschwerdeführerin ist ihr von der Mutter erst im Jahr 2020 und dort im Februar übersandt worden.

Die Beschwerdeführerin lebt seit 2016 in Österreich. Das erste Kind wurde am xx.xx.xxxx in Österreich geboren, das zweite Kind am xx.xx.xxxx.

Dieser Sachverhalt stützt sich im Wesentlichen auf die Angaben im erstinstanzlichen Akt, die Einvernahme der Beschwerdeführerin und des Zeugen, ihres Ehemannes. Dieser bestätigte im die Angaben der Beschwerdeführerin. Er konkretisierte, dass er nicht seit 17 Jahren sondern seit 15 Jahren, nämlich seit 2005 in Österreich lebt.

II.      Rechtliche Bestimmungen:

Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei. Die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG) idF BGBl I Nr 27/2020.

„§ 120

Rechtswidrige Einreise und rechtswidriger Aufenthalt

(…)

(1b) Wer als Fremder aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht unverzüglich seiner Pflicht zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachkommt, nachdem eine gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung rechtskräftig und durchsetzbar geworden ist, und ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG in Anspruch genommen oder bis zum Eintritt der Rechtskraft und Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht in Anspruch genommen hat, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis 15 000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen. Als Tatort gilt der Ort der Betretung oder des letzten bekannten Aufenthaltes, bei Betretung in einem öffentlichen Beförderungsmittel die nächstgelegene Ausstiegsstelle, an der das Verlassen des öffentlichen Beförderungsmittels gemäß dem Fahrplan des Beförderungsunternehmens möglich ist.

(…)

§ 31

5. Abschnitt

Voraussetzung für den rechtmäßigen Aufenthalt und die rechtmäßige Ausreise

Voraussetzung für den rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet

(1) Fremde halten sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf,

1. wenn sie rechtmäßig eingereist sind und während des Aufenthalts im Bundesgebiet die Befristungen oder Bedingungen des Einreisetitels oder des visumfreien Aufenthaltes oder die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, Bundesgesetz oder Verordnung bestimmte Aufenthaltsdauer nicht überschritten haben;

(…)

(1a) Liegt kein Fall des Abs. 1 vor, halten sich Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf; dies insbesondere, wenn sie

1.  auf Grund eines Rückübernahmeabkommens (§ 19 Abs. 4) oder internationaler Gepflogenheiten rückgenommen werden mussten,

2.  auf Grund einer Durchbeförderungserklärung, sonstiger zwischenstaatlicher Abkommen oder auf Ersuchen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union um Durchbeförderung (§ 45b Abs. 1) oder auf Grund einer Durchlieferungsbewilligung gemäß § 47 ARHG oder § 35 des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), BGBl. I Nr. 36/2004, eingereist sind,

3.  geduldet sind (§ 46a) oder

4.  eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 erhalten haben.

    (Anm.: Abs. 2 und 3 aufgehoben durch Art. 2 Z 48, BGBl. I Nr. 145/2017)

(…)

Art 8 EMRK

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“

III.     Rechtliche Erwägungen:

Zu dem in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Art 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurde also unter dem Blickwinkel des Art 8 EMRK zu schützende Beziehungen neben den zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern zu bejahenden Familienleben bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EMRK 07.12.1981, B9071/80, X-Schweiz, EUGRZ 1983, 19) zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B8986/80) und zwischen Onkel bzw Tante und Neffen bzw Nichten (EKMR 19.07.1968, 31.10.1967, EKMR 05.07.1979, B8353/78, ua) anerkannt sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere defakto Beziehungen ein; maßgeblich ist beispielsweise das Zusammenlebens eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (VwGH 08.09.2010, 2008/01/0551; EGMR 22.07.2010, B.B. und JS/Prag; 13.06.1979, MARCKX/B).

Umgelegt auf den konkreten Sachverhalt ergibt sich folgendes zu berücksichtigende:

Die Beschwerdeführerin lebt seit dem Jahr 2016 in Österreich. Sie ist mit dem Ehemann nach jesidischem Glauben verheiratet ist. Sie hat zwei Kinder mit ihm. Das erste Kind wurde am xx.xx.xxxx in Österreich geboren, das zweite Kind am xx.xx.xxxx. Im gegenständlichen Fall muss daher von einem Familienleben im Sinne der Spruchpraxis des EGMR gesprochen werden. Zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Straferkenntnisses war die BF durch eine religiöse Ehe mit dem Ehegatten verbunden und hat zum damaligen Zeitpunkt zweifellos bereits das zweite Kind mit ihrem Mann erwarte. Dieses wurde am 28.10.2019 geboren. Das erstinstanzliche Straferkenntnis ist am 08.08.2019 ergangen.

Die Beschwerdeführerin lebt auch heute noch mit ihren beiden Kindern und ihren Mann zusammen. Anlässlich der öffentlichen und mündlichen Verhandlung konnte auch ein durchaus liebevoller und vertrauter Umgang zwischen den Eheleuten und ihren Kindern beobachtet werden.

Die Beschwerdeführerin ist unbescholten. Es liegen keine weiteren Anzeigen gegen sie vor. Ihr Ehemann hat die Rot-Weiß-Rot-Karte plus inne und lebt seit 15 Jahren in Österreich. Es ist grundsätzlich richtig, dass dem öffentlichen Interesse eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestung von Personen, die sich bisher bloß aufgrund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK), ein hoher Stellenwert zukommt.

Im vorliegenden Fall überwiegen jedoch die privaten und vor allem familiären Interessen der Beschwerdeführerin und ihrem Verbleib in Österreich gegenüber den (unbestreitbar) öffentlichen Interessen einer Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie darin manifestieren, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines antragsverbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zum Umgehen der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf.

Die erkennende Richterin übersieht zudem auch nicht, dass sich die Beschwerdeführerin erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in Österreich aufhält. Diesem Faktum ist aber die intensive familiäre Bindung der Beschwerdeführerin zu ihrem Mann und ihren beiden Kindern gegenüberzustellen. Sie ist mit einem armenischen Staatsangehörigen nach jesidischem Glauben verheiratet und lebt mit ihm und den zwei gemeinsamen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Dem Kindeswohl wird somit zugleich mit dem in Art 8 Abs 2 EMRK verankerten Schutz der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer (siehe auch Art 2 Abs 1 BVG Kinderrechte und Art 24 GRC) entsprechend Rechnung getragen.

Schon zum Zeitpunkt der asylrechtlichen Entscheidung hätte man eine Abwägung nach Art 8 EMRK zu Gunsten der Beschwerdeführerin vornehmen müssen. Es ist sohin im gegenständlichen Fall vom Vorliegen eines Strafausschließungsgrundes gemäß § 6 VStG auszugehen.

Die gegenständliche Verwaltungsübertretung ist der Beschwerdeführerin subjektiv nicht vorwerfbar. Auch die Feststellung der Identität der Beschwerdeführerin durch Vorlage des Passes hat sich geklärt und ist nicht geeignet ein Verschulden der Beschwerdeführerin ins Treffen führen zu können. Hätte sie die nötigen Dokumente rechtzeitig vorweisen können, bzw. wäre sie in der Lage gewesen ihren Mann mit schon zeitlich früher zivilrechtlich zu ehelichen, hätte dies ihren rechtlichen Status in Österreich als verheiratete, schwangere Frau zum Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Straferkenntnisses zweifelsohne verbessert und ihr das gegenständliche Verfahren unter Umständen erspart.

Es darf noch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs zur Frage des § 6 VStG hingewiesen werden, in welcher der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat (vgl dazu das zur Rechtslage des Fremdengesetzes 1992 ergangene Erkenntnis vom 06.11.1998, Zl 97/21/0085 und das Erkenntnis vom 19.11.2003, Zl 2001/21/0179) das bezüglich des Tatbestandes des (nunmehr alten) § 107 Abs 1 Z 4 FRG ein gesetzlicher Strafausschließungsgrund gemäß § 6 VStG angenommen werden müsse, wenn der im Verwaltungsstrafverfahren als Vorfrage zu prüfenden Zulässigkeit einer (hypothetischen) Ausweisung des Fremden eine zu seinen Gunsten ausfallende Interessensabwägung nach (nunmehr alten) § 37 FRG im Wege stehe.

Die Interessensabwägung im gegenständlichen Fall führt zweifelsohne im Ergebnis dazu, dass die privaten und vor allem familiären Interessen der Beschwerdeführerin und ihren Verbleib in Österreich gegenüber jenen betreffend die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung überwiegen. Dies insbesondere unter Berücksichtigung ihrer zwei sehr kleinen Kinder, die von der Mutter nicht getrennt werden sollten.

Es ist im vorliegenden Fall daher vom Vorliegen eines Strafausschließungsgrundes auszugehen und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 2 VStG zur Einstellung zu bringen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

IV.      Unzulässigkeit der ordentlichen Revision:

Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Soweit die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof in Wien für zulässig erklärt worden ist, kann innerhalb von sechs Wochen ab dem Tag der Zustellung dieser Entscheidung eine ordentliche Revision erhoben werden. Im Fall der Nichtzulassung der ordentlichen Revision kann innerhalb dieser Frist nur die außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden.

Wenn allerdings in einer Verwaltungsstrafsache oder in einer Finanzstrafsache eine Geldstrafe von bis zu Euro 750,00 und keine Freiheitsstrafe verhängt werden durfte und im Erkenntnis eine Geldstrafe von bis zu Euro 400,00 verhängt wurde, ist eine (ordentliche oder außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichthof wegen Verletzung in Rechten nicht zulässig.

Jedenfalls kann gegen diese Entscheidung binnen sechs Wochen ab der Zustellung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, Freyung 8, 1010 Wien, erhoben werden.

Die genannten Rechtsmittel sind von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt bzw einer bevollmächtigten Rechtsanwältin abzufassen und einzubringen und es ist eine Eingabegebühr von Euro 240,00 zu entrichten. Die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ist direkt bei diesem, die (ordentliche oder außerordentliche) Revision an den Verwaltungsgerichtshof ist beim Verwaltungsgericht einzubringen.

Es besteht die Möglichkeit, für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof und für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof Verfahrenshilfe zu beantragen. Verfahrenshilfe ist zur Gänze oder zum Teil zu bewilligen, wenn die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten bzw wenn die zur Führung des Verfahrens erforderlichen Mittel weder von der Partei noch von den an der Führung des Verfahrens wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

Für das Beschwerdeverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist der Antrag auf Verfahrenshilfe innerhalb der oben angeführten Frist beim Verfassungsgerichtshof einzubringen. Für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof ist der Antrag auf Verfahrenshilfe innerhalb der oben angeführten Frist im Fall der Zulassung der ordentlichen Revision beim Verwaltungsgericht einzubringen. Im Fall der Nichtzulassung der ordentlichen Revision ist der Antrag auf Verfahrenshilfe beim Verwaltungsgerichtshof einzubringen; dabei ist im Antrag an den Verwaltungsgerichtshof, soweit dies dem Antragsteller zumutbar ist, kurz zu begründen, warum entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.

Zudem besteht die Möglichkeit, auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu verzichten. Ein solcher Verzicht hat zur Folge, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht mehr erhoben werden können.

Hinweis:

Rechtskräftig verhängte Geldstrafen (sowie Verfahrenskostenbeiträge) sind bei der Behörde einzubezahlen (vgl § 54b Abs 1 VStG).

Landesverwaltungsgericht Tirol

Dr.in Luchner

(Richterin)

Schlagworte

Überwiegen privater Interessen;
Überwiegen familiärer Interessen;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGTI:2020:LVwG.2019.17.2110.3

Zuletzt aktualisiert am

27.10.2020
Quelle: Landesverwaltungsgericht Tirol LVwg Tirol, https://www.lvwg-tirol.gv.at
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