TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/3 L521 2227016-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.03.2020
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Entscheidungsdatum

03.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z7

Spruch

L521 2227016-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Mag. Gerhard-Josef Seidl, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Radetzkystraße 6, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.11.2019, Zl. 1252606008-191174335, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Verhängung eines befristeten Einreiseverbotes zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt I. zu lauten hat: „Gemäß § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG 2005 iVm § 9 BFA-VG wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung erlassen.“

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheids wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass das wider die beschwerdeführende Partei ausgesprochene Einreiseverbot auf die Dauer von einem Jahr herabgesetzt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am XXXX in der Stadt XXXX der türkischen Provinz XXXX geboren. Der Beschwerdeführer lebt gegenwärtig in der Türkei in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX und ist dort als Verkaufsberater beim türkischen Unternehmen XXXX beschäftigt.

Am 16.11.2019 reiste der Beschwerdeführer von der Bundesrepublik Deutschland kommend auf dem Landweg mit einem in München angemieteten Kraftfahrzeug in das Bundesgebiet ein. Zuvor reiste er unter Verwendung eines ihm vom deutschen Generalkonsulat in Istanbul ausgestellten Besuchs-/Geschäftsvisums mehrmals rechtmäßig in die Bundesrepublik Deutschland ein und kehrte mehrmals in den Herkunftsstaat zurück.

2. Am 18.11.2019 wurde der Beschwerdeführer gemeinsam mit weiteren Arbeitnehmern der XXXX in Markgrafneusiedl und Grund unzureichender Sicherung der Ladung einer Verkehrskontrolle unterzogen. Da sich sämtliche Insassen mit türkischen Reisepässen und ihnen ausgestellten Besuchs-/Geschäftsvisa auswiesen, verständigten die einschreitenden Beamten die Finanzpolizei.

Seitens der einschreitenden Organe der Finanzpolizei wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer ohne Bewilligung und ohne beim zuständigen Sozialversicherungsträger als Dienstnehmer angemeldet zu sein, einer unselbständigen Beschäftigung im Bundesgebiete nachgehen würde. Der Beschwerdeführer wurde im Anschluss nach einer Kontaktaufnahme der einschreitenden Organe der Finanzpolizei mit dem belangten Bundesamt gemäß § 34 Abs. 3 Z. 1 BFA-VG festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum Hernalser Gürtel verbracht.

3. Mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 19.11.2019 wurde der Beschwerdeführer einer Übertretung des § 120 Abs. 1a FPG 2005 iVm §§ 31 Abs. 1 Z. 3 und 31 Abs. 1a FPG 2005 für schuldig erkannt und wider den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von EUR 600,00 verhängt.

4. Mit dem in der Folge nach Einvernahm des Beschwerdeführers ergangenem und nunmehr in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.11.2019, Zl. 1252606008-191174335, wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt I.). Ferner wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II.) und wider den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 7 FPG 2005 ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde außerdem gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei bei einer unrechtmäßigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet betreten worden und habe sich demnach nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, weshalb eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sein. In diesem Zusammenhang sei amtswegig die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 zu prüfen, wobei die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen würden.

Der Beschwerdeführer sei „als Inhaber eines biometrischen mazedonischen Reisepasses“ (!) zwar zum Aufenthalt von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu touristischen Zwecken berechtigt. Da er den Aufenthalt im Bundesgebiet allerdings „zur Ausübung einer nicht genehmigten Tätigkeit“ genutzt habe, sei sein Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtmäßig.

In Ansehung des Beschwerdeführers sei deshalb außerdem § 53 Abs. 2 Z. 7 FPG 2005 erfüllt und ein Einreiseverbot zu erlassen. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sowie im Hinblick darauf, wie der Beschwerdeführer sein „Leben in Österreich insgesamt gestalten“ würde, sei die Annahme gerechtfertigt, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen würde.

5. Darüber hinaus wurde wider den Beschwerdeführer mit Mandatsbescheid vom 19.11.2019, Zl. 1252606008-191180254, gemäß § 76 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

6. Mit Verfahrensanordnungen vom 19.11.2019 wurde dem Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig eine Rechtsberatungsorganisation für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben und der Beschwerdeführer darüber in Kenntnis gesetzt, dass er zur Inanspruchnahme eines Rückkehrberatungsgesprächs verpflichtet sei.

7. Am 26.11.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist im Luftweg in die Türkei abgeschoben.

8. Gegen den dem Beschwerdeführer am 19.11.2019 eigenhändig zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom selben Tag richtet sich die im Wege seiner nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht am 17.12.2019 eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In der Beschwerde wird im Wesentlichen vorgebracht, der Beschwerdeführer habe sich aufgrund eines ihm von deutschen Behörden erteilten Besuchs-/Geschäftsvisums rechtmäßig seit dem 14.11.2019 im Schengenraum aufgehalten. Nach Verkaufsgesprächen in der Bundesrepublik Deutschland sei er mit weiteren Arbeitskollegen in das Bundesgebiet eingereist, um die Lieferung und den Aufbau einer Salattheke „zu überwachen“. Bei seiner Betretung am 18.11.2019 habe er sich bereits auf dem Rückweg in die Bundesrepublik Deutschland befunden, um das dort ausgeliehene Kraftfahrzeug zurückzugeben und in die Türkei zurückzukehren. Weitere Tätigkeiten im Bundesgebiet wären nicht beabsichtigt gewesen, zumal die Rückreise in die Türkei bereits organisiert gewesen sei. Sollte dem Beschwerdeführer im Bundesgebiet eine Rechtsverletzung unterlaufen sein, sei dies nicht vorsätzlich erfolgt. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme habe er im Wege seiner Bankomatkarte über Zugang zu zumindest EUR 6.676,00 gehabt und sich kooperativ verhalten.

Der Beschwerdeführer beantrage deshalb, die „Rechtswidrigkeit und Menschenrechtswidrigkeit der erlassenen Rückkehrentscheidung und Verhängung der Schubhaft über den Beschwerdeführer sowie dessen Abschiebung und Verhängung des Einreiseverbotes fest[zu]stellen und den bekämpften Bescheid auf[zu]heben“. Eventualiter wurde beantragt, die Rechtswidrigkeit der Rückkehrentscheidung und Verhängung der Schubhaft sowie der Abschiebung festzustellen und das Einreiseverbot auf 18 Monate herabzusetzen.

9. Die Beschwerdevorlage langte am 30.12.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

10. Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.01.2020, L521 2227016-1/5Z, wurde der Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes IV. des angefochtenen Bescheides Folge gegeben und Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Notwendigkeit der sofortigen Ausreise als gesetzliche Voraussetzung für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung erforderte nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Vorliegen besonderer Umstände, die mit den Voraussetzungen für die Aufenthaltsbeendigung als solche nicht gleichzusetzen sind. Derartige besondere Umstände habe das belangte Bundesamtes nicht aufgezeigt. Insbesondere treffe die Annahme des belangten Bundesamtes, der Beschwerdeführer werde im Fall eines weiteren Verbleibes im Bundesgebiet neuerlich einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen, der Lages des Falles nach nicht zu. Der Beschwerdeführer habe bei seiner Einvernahme dargelegt, dass sein Lebensmittelpunkt in der Türkei sei und er lediglich im Auftrag seines (türkischen) Arbeitgebers nach Verkaufsgesprächen in München in Wien Kühlmöbel geliefert und aufgestellt habe. Er wolle nun in die Türkei zurückkehren und mit den Behörden kooperieren.

Für die Annahme des belangten Bundesamtes, der Beschwerdeführer werde – anstatt selbst umgehend freiwillig in die Türkei zurückzukehren, wo er lebt und seinen Arbeitsplatz hat – im Fall einer aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde im Bundesgebiet verbleiben und neuerlich einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen, fehle jeder Anhaltspunkt. Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer über keine finanziellen Mittel für eine freiwillige Ausreise verfüge, sei aktenwidrig.

Da der Beschwerdeführer unwidersprochen über keine Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet verfüge und er lediglich über Veranlassung seines türkischen Arbeitgebers in das Bundesgebiet für kurzfristig zu verrichtende Arbeiten einreise und er ebenso unwidersprochen erst auf dem Rückweg in die Bundesrepublik Deutschland mit einem Mietwagen betreten wurde, gebiete sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes gerade nicht der Schluss, dass der Beschwerdeführer weiterhin einer unerlaubten Erwerbstätigkeit in Österreich nachgehen würde. Vielmehr sei nach der Lage des Falles davon auszugehen gewesen, dass der Beschwerdeführer freiwillig die Ausreise in den Herkunftsstaat antritt, um zu seiner Wohnung und zu seinem Arbeitsplatz zurückzukehren. Für gegenteilige Absichten bestünden keine belastbaren Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens.

Die Verwirklichung eines Verwaltungsstraftatbestandes alleine vermöge ebenfalls kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer raschen Außerlandesbringung zu rechtfertigen und es habe zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides auch keine rechtskräftige Bestrafung des Beschwerdeführers vorgelegen, da die Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich ebenfalls am 19.11.2019 erlassen worden sei.

Die vom belangten Bundesamt auf § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG gestützte Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde erweise sich samt der dazu herangezogenen Begründung als verfehlt und beruhe darüber hinaus noch auf einer aktenwidrigen Feststellung betreffend die angebliche Vermögenslosigkeit des Beschwerdeführers. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte, dass im gegenständlichen Fall einer der sonstigen Tatbestände des § 18 Abs. 1 oder 2 BFA-VG heranzuziehen sei. Vielmehr liege ein im Hinblick auf die Eignung der Vorgehensweise des belangten Bundesamtes, den gerichtlichen Rechtsschutz gegen den angefochtenen Bescheid durch eine übereilte Abschiebung des Beschwerdeführers noch vor dem Ablauf der Beschwerdefrist zu vereiteln, höchst bedenkliche und das erkennende Gericht missachtende Vorgehensweise vor.

11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.01.2020 wurde dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers der Verwaltungsstrafakt zur Wahrung des rechtlichen Gehörs übermittelt und die Abgabe einer Stellungnahme dazu freigestellt. Ferner wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, zur Frage Stellung zu nehmen, ob die erfolge Bestrafung wegen § 120 Abs. 1a FPG 2005 iVm §§ 31 Abs. 1 Z. 3 und 31 Abs. 1a FPG 2005 bestritten werden sowie ob die Beschwerde im Hinblick auf die bereits erfolge Abschiebung auch hinsichtlich der Rückkehrentscheidung aufrechterhalten werden.

12. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.01.2020, W117 2227091-1/2E, wurde der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.11.2019, Zl. 1252606008-191180254, sowie die Anhaltung vom 19.11.2019 bis 26.11.2019 in Schubhaft stattgegeben und der Schubhaftbescheid sowie die Anhaltung in Schubhaft vom 19.11.2019 bis 26.11.2019 für rechtswidrig erklärt, da in Ansehung des Beschwerdeführers nicht von Fluchtgefahr auszugehen gewesen sei.

13. Der Beschwerdeführer äußerte sich mit Eingabe vom 16.01.2020 zur Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.01.2020 und gab insbesondere bekannt, dass die Bestrafung des Beschwerdeführers nicht bestritten werde. Die Beschwerde werde im Hinblick auf das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.01.2020 aufrechterhalten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer XXXX ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX in der Stadt XXXX der türkischen Provinz XXXX geboren.

Der Beschwerdeführer lebt gegenwärtig in der Türkei in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX und ist dort als Verkaufsberater beim türkischen Unternehmen XXXX zu einem monatlichen Bruttolohn von 3.000,00 TL beschäftigt und sozialversichert. Der Beschwerdeführer verfügt in seinem Herkunftsstaat über eine gesicherte Existenzgrundlage Er ist ledig und hat keine Kinder.

1.2. Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

1.3. Der Beschwerdeführer verfügt über ein bis zum 06.11.2022 gültiges türkisches Reisedokument. Er erlangte am 29.08.2019 vom deutschen Generalkonsulat in Istanbul ein ab dem 09.09.2019 für zwei Jahres gültiges Besuchs-/Geschäftsvisum für den Schengenraum, wobei ihm eine Erwerbstätigkeit nicht gestattet wurde.

1.4. Der Beschwerdeführer begab sich zuletzt am 16.11.2019 mit zwei weiteren Dienstnehmern und dem Geschäftsleiter der XXXX , über Veranlassung seines Arbeitgebers zum Zweck der Lieferung und des Aufbaus einer Geschäftsausstattung (Salattheke, Tische, Sessel, Türen, Beleuchtungskörper, Besteck) bei der XXXX im Einkaufszentrum Huma Eleven in das Bundesgebiet ein. Zuvor war der Beschwerdeführer rechtmäßig in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und führte dort gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen bzw. dem Geschäftsleiter der XXXX Verkaufsgespräche.

Die gelieferte Geschäftsausstattung wurde vor Ort vom Beschwerdeführer und den weiteren Dienstnehmern und dem Geschäftsleiter der XXXX aufgebaut.

Am 18.11.2019 wurde der Beschwerdeführer mit weiteren Arbeitnehmern der XXXX in Markgrafneusiedl auf dem Rückweg von den vorstehend beschriebenen Arbeiten aufgrund unzureichender Sicherung der Ladung einer Verkehrskontrolle unterzogen. Da sich sämtliche Insassen mit türkischen Reisepässen und ihnen ausgestellten Besuchs-/Geschäftsvisa auswiesen, verständigten die einschreitenden Beamten die Finanzpolizei.

Seitens der einschreitenden Organe der Finanzpolizei wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer ohne Bewilligung und ohne beim zuständigen Sozialversicherungsträger als Dienstnehmer angemeldet zu sein, einer unselbständigen Beschäftigung im Bundesgebiete nachgehen würde. Es lagen weder Entsendebestätigungen gemäß § 18 AuslBG, noch Lohnunterlagen gemäß § 22 LDS-BG für den Beschwerdeführer vor.

Der Beschwerdeführer wurde im Anschluss nach einer Kontaktaufnahme der einschreitenden Organe der Finanzpolizei mit dem belangten Bundesamt gemäß § 34 Abs. 3 Z. 1 BFA-VG festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum Hernalser Gürtel verbracht.

Am 19.11.2019 wurde das dem Beschwerdeführer ausgestellte Besuchs-/Geschäftsvisum von der Landespolizeidirektion Niederösterreich annulliert, da die Informationen über den Zweck und die Bedingungen des beabsichtigten Aufenthaltes als nicht glaubhaft angesehen wurden. Der Beschwerdeführer erhob dagegen kein Rechtsmittel an das Bundesverwaltungsgericht.

Zum Zeitpunkt seiner Festnahme verfügte der Beschwerdeführer über eine Bankomatkarte und über Bargeld im Betrag von EUR 6.676,00.

1.5. Mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 19.11.2019 wurde der Beschwerdeführer einer Übertretung des § 120 Abs. 1a FPG 2005 iVm §§ 31 Abs. 1 Z. 3 und 31 Abs. 1a FPG 2005 für schuldig erkannt und wider den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von EUR 600,00 verhängt.

Demnach hat sich der Beschwerdeführer als Fremder (§ 2 Abs. 4 Z 1 FPG) am 18.11.2019 in Markgrafneusiedl nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, da er Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Visums war und einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, obwohl Fremde sich nur dann rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Visums sind bis zu dessen Ablauf, sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen. Es wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer einer unerlaubten Beschäftigung nachgegangen ist.

Die Strafverfügung der Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 19.11.2019 ist mangels rechtzeitiger Erhebung eines Einspruchs rechtswirksam. Die Geldstrafe von EUR 600,00 wurde vom Beschwerdeführer beglichen.

1.6. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich weder einen Antrag auf internationalen Schutz, noch beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz.

Er brachte nicht vor, nach einer Abschiebung in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt zu sein oder grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

1.7. Am 26.11.2019 wurde der Beschwerdeführer im Luftweg in die Türkei abgeschoben.

1.8. Der Beschwerdeführer hielt sich vom 16.11.2019 bis zur seiner Abschiebung am 26.11.2019 in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Er verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte und auch über keine sozialen Kontakte im Bundesgebiet und reiste in das Bundesgebiet lediglich aufgrund einer Anweisung seines Arbeitgebers zum Zweck der Lieferung und des Aufbaus einer Geschäftsausstattung ein. Der Beschwerdeführer beabsichtigte, nach Erledigung dieses Auftrages in die Türkei zurückzukehren und hat für den 18.11.2019 einen Flug von Wien nach Istanbul gebucht. Die Rückkehr in die Türkei wurde durch die Festnahme des Beschwerdeführers vereitelt.

Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet nicht legal erwerbstätig und es wurde ihm auch keine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in verbindlicher Weise zugesichert. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

1.9. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und bereits im angefochtenen Bescheid dem Beschwerdeführer vollständig offengelegten Quellen getroffen:

1.       Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem ?nce, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirta?, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten ?yi-Partei, Meral Ak?ener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen „Volksbündnis“, verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit „Rechtskraft“ zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).

2.       Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).

Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van – ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut To?rul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).

Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen „neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten „Gülen-Bewegung“, die nur in der Türkei unter der Bezeichnung „FETÖ“ als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

3.        Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte „im Namen der türkischen Nation“. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 „Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte“, HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdo?an Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führen zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 03.08.2018).

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen.

Oberste Instanz der Verwaltungsgerichte ist der Verwaltungsgerichtshof/Staatsrat (Dan??tay), die der Straf- und Zivilgerichte der Kassationsgerichtshof (Yarg?tay). Für alle Rechtswege war seit Jahren die effektive Einführung einer Zwischeninstanz vorgesehen, jedoch in der Praxis nicht umgesetzt worden. Aufgrund der großen Überlastung der obersten Instanzen wurde unmittelbar vor dem Putschversuch Ende Juni 2016 die seit mehreren Jahren geplante Zwischeninstanz in Form von Regionalgerichten eingeführt und die mittlere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde durch eine Gesetzesänderung vom 01.07.2016 entschieden, die Mitgliederzahl der beiden obersten Gerichtshöfe zu reduzieren. Die Frist zur Umsetzung wurde mit Notstandsdekret 696 vom 20.11.2017 bis 2022 verlängert. Am 25.07.2016 wurden anstelle der entlassenen Richter (mit Ausnahme der jeweiligen Gerichtspräsidenten) 267 neue Mitglieder für den Kassationsgerichtshof und 75 für den Verwaltungsgerichtshof gewählt. Mit Dekret Nr. 696 vom 20.11.2017 wurde jedoch der Kassationsgerichtshof mit 100 neuen Posten aufgestockt und der Verwaltungsgerichtshof mit 16. Diese müssen innerhalb von 6 Monaten nach Inkrafttreten (24.12.2017) des Notstandsdekretes besetzt werden. Vorwürfe, dass diese personellen Veränderungen zu einer Verschiebung der parteipolitischen Orientierung an den Gerichten genutzt wurden, erscheinen plausibel.

Die früheren „Staatssicherheitsgerichte“ (Devlet Güvenlik Mahkemesi – DGM) und die „Gerichte für schwere Straftaten mit Sonderbefugnis“ sind aufgelöst. Ihre sachliche Zuständigkeit haben regionale „Gerichte für schwere Straftaten“ (A??r Ceza Mahkemeleri) übernommen. Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden auch die Militärgerichte abgeschafft (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018). Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Mit dem 3. Justizreformpaket wurde die Möglichkeit zu deutlichen Strafmilderungen und Haftaussetzung für Nichtmitglieder einer Terrororganisation geschaffen und mit dem 4. Justizreformpaket die Doppelbestrafung nach ATG und StGB abgeschafft (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017). Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist zulässig, wenn er zumindest einmal vom Gericht angehört wurde. War das nicht möglich, kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen. Für Straftaten, die nicht von der Notstandsgesetzgebung berührt sind, gilt: Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 1 tStPO). In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage (jeweils um einen Tag) verlängert werden (Art. 91 Abs. 3 tStPO). Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden. Gemäß Änderungen im sog. Sicherheitspaket vom 27.03.2015 können die 24 Stunden bei Einzelpersonen beim Ertappen auf „frischer Tat“ beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration bis auf 48 Stunden ausgeweitet werden. Spätestens nach Ablauf dieser Frist und bei Kollektivvergehen innerhalb von vier Tagen müssen sie dem Richter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 4 tStPO) (AA 03.08.2018).

Die türkische Rechtsordnung garantiert die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein. Kritisch sind die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte. Nach offiziellen Angaben des türkischen Justizministeriums wurde 2016 über 12.199 Straftaten gemäß Artikel 7 Absatz 2 ATG (Propaganda für eine Terrororganisation) entschieden; davon erging 3.195 mal eine Freiheitsstrafe und 4.492 Freisprüche. Hinsichtlich des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation gemäß Artikel 7 Absatz 1 ATG beläuft sich die Zahl auf 155 Straftaten, wovon bis heute vier mit Freiheitsstrafe und elf mit Freispruch entschieden wurden. Neuere Zahlen stehen nicht zur Verfügung. Dem türkischen Parlament liegen derzeit Vorschläge zur Neufassung von Teilen der Anti-Terror-Gesetzgebung vor, die Teile der Bestimmungen des am 19.07.2018 aufgehobenen Notstands in türkisches Recht überführen würden. Ebenso problematisch wie die Frage nach der Definition des Terrorismusbegriffs ist jedoch die bereits jetzt sehr weite Auslegung des Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Offiziellen Zahlen zufolge wurden 2016 insgesamt 482 Verfahren wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB eingeleitet.

Das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden ist grundsätzlich gewährleistet. Für Personen, denen seit dem Putschversuch der Vorwurf einer Nähe zur Gülen-Bewegung und/oder der Beteiligung an dem Putschversuch gemacht wird, besteht das praktische Problem, dass sich – aus Angst selbst in Verdacht zu geraten oder wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile als vermeintliche „Gülenisten“ zu erleiden – kaum Anwälte bereit erklären, diese zu verteidigen. (AA 03.08.2018). Die Zustellung von Gerichtsurteilen an Rechtsanwälte ist möglich (AA 03.08.2018).

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).

4.       Sicherheitsbehörden

Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, die AKP-Regierung konnte seit Sommer 2011 bei einer Reihe von Entscheidungen das Primat der Politik unterstreichen. Von den „Säuberungen“ seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist das Militär besonders stark betroffen. Erstmals wurde das Militär unter zivile Aufsicht (des Verteidigungsministeriums) gestellt, seine Autonomie in personellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Fragen aufgehoben. Unmittelbar mit Annahme des Verfassungsreferendums vom April 2017 wurde die Militärgerichtsbarkeit in die zivile Gerichtbarkeit überführt. Auch das traditionelle Selbstverständnis des türkischen Militärs als Hüter der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 03.08.2018).

Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).

Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem Geheimdienst MiT MIT (Millî ?stihbarat Te?kilât?), erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MiT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MiT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MiT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MiT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017). Auch wurde eine neue Institution namens Nationales Geheimdienstkoordinierungskomitee (MIKK) ins Leben gerufen, das vom Präsidenten geleitet wird. Der Geheimdienst erhält erstmals das Recht, gegen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte nach Belieben zu ermitteln. Laut dem Dekret muss der Präsident künftig Ermittlungen gegen den Geheimdienstchef genehmigen (Focus 25.8.2017; vgl. AM 30.8.2017). Der Geheimdienst kann überdies zu jederzeit seine Mitarbeiter entlassen. Hierzu war bislang eine komplexe Prozedur von Nöten (AM 30.8.2017)

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).

Ende Juni 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das kämpfenden Soldaten Immunität gewährt. Gemäß dem vom Verteidigungsministerium vorgelegten Entwurf wird eine von den Sicherheitsdiensten begangene Straftat als "militärisches Verbrechen" angesehen und vor einem Militärgericht verhandelt. Die Ermittlungs- und Gerichtsprozesse gegen Kommandeure und den Generalstab benötigen die Erlaubnis des Premierministers. Darüber hinaus sind Armeekommandanten befugt, Durchsuchungen von Häusern, Arbeitsplätzen oder anderen privaten Räumen zu erlassen (MEE 25.6.2016).

5.       Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).

Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (iHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt die gegen Personen angewendet wurden, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (iHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (iHD 6.4.2018).

Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).

Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018).

Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).

6.       Allgemeine Menschenrechtslage

Die Türkei gehört dem Europarat an und ist Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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