TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/4 L519 2203552-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2020
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Entscheidungsdatum

04.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L519 2203552-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2018, Zl. 831673802-180064232, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 9 Abs. 1, Abs. 4 und der §§ 8 Abs. 4 und 57 sowie 10 Abs. 1 Ziffer 5 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 4 und Abs. 9, § 55 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (idF auch BF) reiste am 13.11.2013 illegal in das Bundesgebiet der Republik Österreich ein und brachte einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Im Rahmen der Erstbefragung führte er aus, dass er von Mitgliedern der Al-Qaida entführt und erst nach Bezahlung eines Lösegeldes freigelassen worden sei. Da er einen der Entführer erkannt habe, habe er diesen angezeigt und sei dieser in der Folge zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Der BF habe aufgrund seiner durch die Entführung bedingten Traumatisierung den Irak nach Syrien verlassen. Nachdem sich die Lage in Syrien aber verschlechtert habe, sei er im Mai 2013 wieder in den Irak zurückgekehrt. Danach sei er aufgrund seiner damaligen Anzeige von der Al-Qaida gesucht bzw. mit dem Tod bedroht worden.

Im Zuge der Einvernahme vor der belangten Behörde (idF bB) erweiterte der BF sein Vorbringen (Drohungen nach Rückkehr 2013 in den Irak, keine Arbeit als Sunnit) und legte nachstehende Dokumente zum Nachweis der Identität und des Vorbringens im Original vor:

?        Personalausweis

?        Staatsbürgerschaftsnachweis

?        UNHCR Refugee Certificate

?        Behördliche Schreiben aus dem Jahr 2008 und vom XXXX .2013

2. Der Antrag des BF wurde von der belangten Behörde mit Bescheid vom 10.02.2014 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III).

3. Gegen den Spruchpunkt I des dem BF am 12.02.2014 zugestellten Bescheides vom 10.02.2014 wurde mit Schriftsatz vom 20.02.2014 innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

4. Mit Beschluss des BVwG vom 31.03.2014, GZ. L502 2004013-1/6E, wurde der angefochtene Bescheid vom 10.02.2014 in Spruchpunkt I aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

5. Am 21.10.2014 wurde eine weitere Einvernahme des BF vor dem BFA durchgeführt.

Am 17.11.2014 wurde eine amtswegige Übersetzung der vom BF vorgelegten Dokumente veranlasst, die am 09.12.2014 beim BFA einlangte.

6. Mit Bescheid vom 04.02.2015 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 13.11.2013 neuerlich hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG abgewiesen.

Gegen den dem BF am 06.02.2015 zugestellten Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 04.02.2015 wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

7. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (auch: BVwG) vom 25.08.2016 wurde die Beschwerde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen und die Revision für nicht zulässig erklärt.

Beweiswürdigend wurde unter anderem ausgeführt:

Der Beweiswürdigung der belangten Behörde folgend war der gg. Entscheidung des BVwG die Feststellung zu Grunde zu legen, dass der BF im Jahr 2007 aus finanziellen Gründen entführt wurde. Darüber hinaus gehende angebliche Drohungen bzw. Drohschreiben vermochte er mit seinem Vorbringen jedoch nicht glaubhaft zu machen.

In der Zusammenschau der verschiedenen Aussagen des BF vor der Behörde und der von ihm vorgelegten Beweismittel war zu den Feststellungen oben zu gelangen, dass er mehrere Monate nach seiner Freilassung im Jahr 2007 aufgrund von generellen Sicherheitsüberlegungen aus dem Syrien verzog um sich im Wesentlichen in den Jahren bis 2013 dort aufzuhalten bzw. wiederholt auch von dort in den Irak zu pendeln, ehe er wegen einer verschlechterten Sicherheitslage in Syrien im Mai 2013 endgültig in seine Heimatstadt im Irak zurückkehrte, von wo er schließlich im Oktober 2013 in Richtung Europa aufbrach, während er seine Familienangehörigen in seiner engeren Heimat zurückließ.

Dieses Gesamtbild ergab sich insbesondere schlüssig aus den Umständen der vom UNHCR in Damaskus im Jahr 2009 dokumentierten Einreise des BF nach Syrien am XXXX 2007, der Geburt seiner beiden Kinder 2009 in Syrien bzw. 2011 im Irak und der behaupteten Heirat des BF im Irak im Jahr 2008 sowie der Aussagen des BF über seine wirtschaftlichen Aktivitäten in diesem Zeitraum im Irak.

In diesem Zusammenhang war der belangten Behörde darin zu folgen, dass diese Umstände gegen die vom BF behaupteter Weise bis 2013 andauernde Bedrohung durch Dritte in seiner Heimat wegen der Vorfälle im Jahr 2007 bzw. einer angeblich daraus entstandenen Aufforderung an ihn „seine frühere Anzeige gegen den Täter zurückzuziehen“ sprachen, wäre doch plausibler Weise anzunehmen, dass gerade eine solche Bedrohungslage gegen diesen Lebenswandel des BF zwischen 2007 und 2013 gesprochen hätte. Nicht zuletzt hat die Behörde zu Recht auch darauf verwiesen, dass es im letzten Halbjahr des Aufenthalts des BF in der Heimat seiner Aussage zufolge auch zu keinen Problemen für ihn gekommen sei.

Der belangten Behörde war auch darin zu folgen, dass die genannte Aufforderung an ihn „seine frühere Anzeige gegen den Täter zurückzuziehen“ schon per se sinnwidrig wäre, da es ohnehin schon 2008 zu einer Festnahme und langjährigen Verurteilung des Täters aus 2007 gekommen war.

Wie die belangte Behörde weiter nachvollziehbar darstellte, hat der BF auch kein glaubhaftes Vorbringen hinsichtlich der angeblich an ihn gerichteten Drohbriefe und Drohungen erstattet, zumal sich dieses im Lichte seiner einzelnen Aussagen als in sich mehrfach, insbesondere in zeitlicher Hinsicht, widersprüchlich und zudem als nur sehr vage darstellte.

In Übereinstimmung mit dem Bundesamt war auch zu konstatieren, dass die vom BF behauptete Bedrohung vor der Ausreise im Oktober 2013, welche seiner Aussage auch eine für seine nahen Angehörigen dargestellt habe, vom Umstand konterkariert wurde, dass er eben diese in der engeren Heimat zurückließ anstatt sie ebenso in Sicherheit zu bringen.

Die vom BF behauptete Bedrohungssituation vor der Ausreise stellte sich sohin insgesamt als unschlüssig und lebensfremd dar, woran auch die Vorlage von Beweismitteln aus 2013 nichts zu ändern vermochte. Dies zum einen deshalb, weil sich der diesen Beweismitteln zugrunde liegende Sachverhalt schon im Lichte der Erwägungen oben als nicht glaubhaft darstellte. Zum anderen ist im Hinblick auf die Echtheit und Richtigkeit von behaupteter Weise von irakischen Behörden stammenden Urkunden grundsätzlich stets größte Skepsis angebracht, zumal derlei Urkunden, sei es als Totalfälschung oder sei es als bloß mit unrichtigem Inhalt versehen, notorischer Weise im Irak gegen Bezahlung erhältlich sind, wie dies auch wiederkehrend in den Lageberichten des Deutschen Auswärtigen Amtes zum Irak festgehalten wird. Ist ein behaupteter Sachverhalt sohin schon angesichts der Aussagen des Antragstellers dazu nicht glaubhaft geworden, so vermögen auch dahingehend vorgelegte Urkunden alleine durch deren Vorlage nicht zu einer gegenteiligen Annahme gelangen zu lassen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie einer Überprüfung vor Ort durch die österr. Behörden nicht zugänglich sind.

2.4.4. In der Beschwerde des BF wurde lediglich kursorisch ausgeführt, dass der BF eine Verfolgung aus religiösen Gründen bzw. wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dargelegt habe. Er sei Sunnit und sei er unter von ihm näher beschriebenen Umständen aus asylrelevanten Gründen verfolgt worden. Die Behörde habe es jedoch verabsäumt, sich mit der konkreten Situation des BF und der aktuellen allgemeinen Situation im Irak ausreichend auseinanderzusetzen.

Mit dieser oberflächlichen Argumentation gelang es dem BF jedoch nicht, die Beweiswürdigung des Bundesamtes substantiell zu erschüttern bzw. das erkennende Gericht eventuell zu einer abweichenden Gesamteinschätzung gelangen zu lassen.

2.4.5. Hinsichtlich der vagen Behauptung, dass er aus religiösen Gründen eine Verfolgung im Irak befürchte, ist festzuhalten, dass dieser per se schon unsubstantiiert vorgetragenen Behauptung nicht zuletzt die länderkundlichen Informationen der belangten Behörde gegenüber standen, denen keine stichhaltigen Hinweise auf eine allfällige sogen. Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak zu entnehmen waren. Dafür, dass der BF schon wegen seiner Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft ein Opfer individueller Verfolgung geworden wäre oder pro futuro werden sollte, waren auch aus dem Vorbringen des BF selbst keine stichhaltigen Hinweise zu gewinnen.

Rechtlich führte das BVwG unter anderem aus:

1.2. Die belangte Behörde kam - wie oben bereits ausgeführt wurde - zu Recht zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage war mit seinem Vorbringen glaubhaft zu machen, dass er der von ihm behaupteten individuellen Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt war oder für den Fall der Rückkehr ausgesetzt wäre.

1.3. Ungeachtet der Feststellung der mangelnden Glaubhaftmachung einer bis 2013 andauernden Bedrohung durch Dritte war darüber hinaus aus dem Vorbringen des BF zu seinen Antragsgründen zu gewinnen, dass er schon im Jahr 2007 einer aus bloßen finanziellen Gründen erfolgten und auch auf finanzielle Weise wieder beendeten Entführung ausgesetzt war und sodann vermeinte, er sei im Jahr 2013 von diesen Tätern neuerlich bedroht worden. In diesem Sinne mutmaßte er zwar, dass sowohl die früheren Täter als auch die ihn später behaupteter Weise bedrohenden Personen der „Al Kaida“ angehören würden, jedoch brachte er diese Bedrohung nie mit einer ihm allenfalls unterstellten politischen Gesinnung oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nationalität, Religionsgemeinschaft oder sozialen Gruppe in Zusammenhang.

Aus diesem Vorbringen war sohin – würde man dieses als wahr unterstellen - schon nicht zu gewinnen, dass die teils tatsächlichen und teils vermeintlichen Verfolgungshandlungen einen Anknüpfungspunkt zu den in der GFK bzw. der europäischen Statusrichtlinie genannten Verfolgungsmotiven bieten würden, weshalb dem Vorbringen auch in dieser Hinsicht keine Asylrelevanz zuzubilligen gewesen wäre.

Darüber hinaus ist im Hinblick auf die behauptete Verfolgung durch Privatpersonen festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgungsgefahr nur dann Asylrelevanz zukommt, wenn der Staat zum einen nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH vom 28. Oktober 2009, Zl. 2006/01/0793).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.3.1995, 95/19/0041; 27.6.1995, 94/20/0836; 23.7.1999, 99/20/0208; 21.9.2000, 99/20/0373; 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 12.9.2002, 99/20/0505; 17.9.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 mwN).

Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.2.2002, 99/20/0509 mwN; 20.9.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.2.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.3.2000, 99/01/0256).

Diesbezüglich konnte der BF im gegenständlichen Fall jedoch auch nicht darlegen, dass er den Irak mangels staatlicher Schutzmechanismen gegenüber etwaigen privaten Bedrohungen verlassen hätte müssen. So legte er dar, dass er 2007 einer Entführung aus finanziellen Gründen ausgesetzt gewesen sei, diese Tat jedoch staatlich verfolgt und sanktioniert worden sei. Nicht zuletzt wäre auch – hier unter Außerachtlassung der Erwägungen oben zur Frage der Echtheit und Richtigkeit des Inhalts von vorgelegten behördlichen Schriftstücken aus dem Irak – aus der Urkundenvorlage des BF aus 2013 inhaltlich nichts anderes abzuleiten gewesen.

8. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.06.2018 wurde dem Beschwerdeführer die amtswegige Einleitung eines Aberkennungsverfahrens hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten zur Kenntnis gebracht, wurden ihm aktuelle Länderinformationen übermittelt und ihm Gehör zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat eingeräumt.

9. Der Beschwerdeführer –vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx – erstattete am 29.06.2018 eine schriftliche Stellungnahme und sprach sich gegen die Aberkennung des zuerkannten Status eines subsidiär Schutzberechtigten aus. Die Lage im Herkunftsstaat sei instabil, von einer Verbesserung der Lage könne nicht ausgegangen werden und sei die Verfolgungsgefahr des BF aktuell. Der Konflikt habe eine immer konfessionellere Dimension angenommen und müssten in Mosul Flüchtlinge unter schrecklichen Bedingungen leben. Es stünde keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Aus einem UNHCR Update zur Situation im Irak betreffend Mosul sowie einem Bericht zu den Wahlen im Irak wurde zitiert. Eingegangen wurde überdies auf die Berichte zu gefährdeten Berufsgruppen und die schiitischen Milizen, welche systematisch Menschenrechtsverletzungen begingen. Zudem würden die Familienangehörigen des BF (Gattin mit 3 Kindern, Eltern und vier Schwestern) in Österreich leben.

10. In der Folge langten ein Abschluss-Bericht des Bundeskriminalamtes an die Staatsanwaltschaft XXXX hinsichtlich des Verdachts der Schlepperei – kriminelle Vereinigung - gemäß § 114 FPG durch den BF in 26 Fällen sowie ein Beschluss betreffend die Verhängung der seit XXXX 2017 bestehenden Untersuchungshaft ein.

11. Das BFA holte eine Auskunft aus dem Sozialversicherungssystem ein.

12. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.02.2014 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und dem Beschwerdeführer die ihm erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 4 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, die Sicherheitslage im Irak habe sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten verbessert. Die Voraussetzungen, wie sie im Zeitpunkt der Gewährung des Subsidiären Schutzes vorgelegen hätten, wären nicht mehr gegeben. Dem BF sei aufgrund der instabilen Lage im Herkunftsland, insbesondere in XXXX Schutz gewährt worden.

Die Lage hätte sich nunmehr geändert, als es möglich wäre, eine innerstaatliche Fluchtalternative insbesondere in Bagdad anzunehmen. Gerade für Sunniten bestünden zahlreiche innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten und erweise sich die Lage in den kurdisch besiedelten Landesteilen als stabil und würden sowohl die mehrheitlich sunnitisch besiedelten Stadtbezirke in Bagdad als auch in Basra mögliche Fluchtalternativen darstellen. Es ergäbe sich aus den Länderberichten, dass zahlreiche Rückkehrwillige in das vom IS befreite Mosul zurückkehren und wäre es dem BF möglich, selbst nach XXXX zurückzukehren, da sich die Lage insofern gebessert habe, als die Provinz Salah ad-Din – speziell die Region XXXX – nunmehr Großteiles von der irakischen Regierung und nicht mehr vom IS kontrolliert werde. Bagdad, Mosul und XXXX sei auf dem Luftweg von Österreich aus erreichbar.

Eltern und Geschwister könnten den BF auch aus dem Ausland unterstützen und dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr in den Herkunftsstaat zumutbar und möglich. Schützenswerte private Bindungen im Bundesgebiet wären nicht feststellbar, sodass eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei.

13. Mit Verfahrensanordnungen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

14. Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In der Beschwerde wird ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. Über mehrere Seiten wird aus einer Entscheidung des BVwG zu Afghanistan zitiert und hätte sich im Irak die Lage im letzten Jahr keinesfalls verbessert. Eher wären die schiitischen Milizen und deren Einfluss noch größer geworden weshalb die Verfolgungsbefürchtung und die fehlende Existenzmöglichkeit noch akuter sei, zumal der BF auch schon einen beträchtlichen Zeitraum in Österreich verbracht habe. Den Länderfeststellungen wäre keinerlei Verbesserung der Situation im Irak zu entnehmen. Im vorliegenden Fall divergiere die Interpretation der behördlichen Kenntnisse durch den jeweils zuständigen Organwalter für die Entscheidungen.

15. Am 02.10.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung des BF gemeinsam mit seiner Ehegattin im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache und eines Rechtsvertreters durchgeführt.

Zu Beginn der Verhandlung brachten die befragten bP vor, bisher die Wahrheit gesagt zu haben und brachten keine Umstände vor, welche gegen die Annahme der Beweiskraft iSd § 15 AVG in Bezug auf die bisher durchgeführten Einvernahmen Zweifel aufkommen ließen.

Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis des BVwG vom selben Tag mündlich verkündet.

Die Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

Der BF wurde iSd § 29 Abs. 2 a VwGVG über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 zu verlangen bzw. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt, belehrt.

Nach Verkündung der Erkenntnisse wurde dem BF sowie deren rechtsfreundlicher Vertretung eine Ausfertigung der Niederschrift ausgefolgt.

Mit Schreiben vom 16.10.2018 wurde die Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger, Araber und Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung.

Der BF hat in XXXX in der Provinz Salah Al-Din die Schule besucht und hielt sich dort unmittelbar vor seiner Ausreise auf. Er war dort als Kraftfahrer und Automechaniker beschäftigt.

Im November 2007 verließ er den Irak nach Syrien um in den Folgejahren bis 2013 fallweise wieder in den Irak zurückkehren. Nicht genau feststellbar war, über welche Zeitspannen er sich in diesem Zeitraum jeweils in Syrien bzw. im Irak aufhielt. Feststellbar war, dass er im August 2008 in seiner Heimatstadt XXXX seine Gattin ehelichte und seine beiden Kinder aus dieser Ehe 2009 in Syrien bzw. 2011 in XXXX geboren wurden. Am XXXX 2009 wurde er vom UNHCR in Damaskus, Syrien, registriert. Ab Mai 2013 hielt er sich wiederum in XXXX auf, ehe er im Oktober 2013 in die Türkei ausreiste.

In XXXX leben noch vier Schwestern des BF. Eine Schwester arbeitet auf der Universität, die anderen Schwestern sind verheiratet und werden von ihren arbeitenden Männern versorgt.

Die Eltern des BF reisten im Juli 2015 in Österreich ein und haben subsidiären Schutz erhalten. Die Ehegattin und drei Kinder des BF reisten am XXXX 2015 im Rahmen der Familienzusammenführung in Österreich ein. Deren Anträge auf internationalen Schutz wurden mit Entscheidungen vom selben Tag (02.10.2018) als unbegründet abgewiesen. Auch zwei Schwestern des BF sind zwischenzeitlich nach Österreich gereist, eine Schwester hat subsidiären Schutz erhalten, der Antrag auf internationalen Schutz der zweiten Schwester wurde abgewiesen. Cousins leben ebenfalls in Österreich. Zwei Tanten und ein Onkel leben innerhalb der EU und telefoniert der BF mit diesen regelmäßig.

Der BF ist körperlich gesund und arbeitsfähig. Seine Identität steht fest. Er ist strafrechtlich unbescholten.

Der BF ist in Österreich lediglich für eine Woche einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen und bezog Leistungen der Grundversorgung für Asylwerber.

Der BF befand sich seit XXXX 2017 in U-Haft wegen des Verdachtes auf Schlepperei in 26 Fällen (Beschluss des LG für Strafsachen XXXX ) (Er wurde mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX , Zl. 96 S Hv 63/18i vom 06.12.2018 wegen des Verbrechens der Schlepperei nach §§ 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 1, Z 2, Z 3, Abs. 4 erster und zweiter Fall FPG, § 15 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 ½ Jahren verurteilt. Am 06.02.2020 wurde der BF aus der Haft entlassen.) Er wurde im Gefängnis von seinen Verwandten aber nicht seiner Ehegattin besucht.

Dem BF wurde mit Bescheid vom 10.02.2014 die subsidiäre Schutzberechtigung erteilt. Mit Bescheiden vom 05.02.2015 und 22.02.2017 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung verlängert, da das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung angenommen wurde.

1.2. Der BF wurde im Jänner 2007 aus finanziellen Motiven von Unbekannten in seiner Heimatstadt entführt und nach ca. drei Wochen gegen die Zahlung von Lösegeld wieder freigelassen. Der/die Täter wurde/n in der Folge ausgeforscht und strafgerichtlich verurteilt.

Bereits vom BVwG wurde in der Entscheidung vom 25.08.2016 festgestellt, dass nicht feststellbar war, dass der BF im Zusammenhang mit der genannten Entführung im Jahr 2007 bis zur Ausreise aus dem Irak im Jahr 2013 einer von ihm behaupteten Bedrohung durch Dritte ausgesetzt war oder er einer solchen im Gefolge einer Rückkehr in den Irak ausgesetzt wäre. Auch eine anderweitige individuelle Bedrohung oder Verfolgung des BF durch Dritte oder durch staatliche Organe vor der Ausreise oder im Gefolge einer Rückkehr in den Irak wurde nicht festgestellt.

Dem Beschwerdeführer steht im Falle einer Rückkehr in den Irak – sollte er eine Rückkehr in die Stadt XXXX nicht in Erwägung ziehen – auch eine zumutbare und taugliche innerstaatliche Aufenthaltsalternative in einem sunnitischen Viertel in XXXX oder in der Stadt Mosul zur Verfügung. Er hat dort nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt zu rechnen und verfügt dort über eine gesicherte Existenzgrundlage.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit Schulbildung sowie mit im Herkunftsstaat erworbener Berufserfahrung. Der Beschwerdeführer verfügt über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft sowie durch Sozialleistungen des irakischen Lebensmittelverteilungssystems PDS (Public Distribution System). Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

1.3. Zur aktuellen Lage im Irak wird auf die länderkundlichen Feststellungen der belangten Behörde im bekämpften Bescheid verwiesen, die auch der gegenständlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde gelegt werden.

1.       Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen

KI vom 18.5.2018: Parlamentswahlen

Relevant für den Abschnitt Politische Lage

Am 12.5.2018 wurden im Irak Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent – die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist (Spiegel Online 17.5.2018). Auf zweitem Platz liegt, nach ersten Ergebnissen, das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt im Zwischenergebnis nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018).

Obwohl die Wahlkommission die Resultate der Wahl zunächst schon am 14.5.2018 veröffentlichen wollte, liegt bis dato kein offizielles Endergebnis vor (Spiegel Online 17.5.2018). Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herum handle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).

Quellen:

?        Neue Züricher Zeitung (15.5.2018): Der Überraschungssieger in der Parlamentswahl öffnet neue Horizonte für den Irak, https://www.nzz.ch/international/irak-ueberraschender-wahlsieg-bei-parlamentswahl-oeffnet-horizonte-ld.1386066, Zugriff 18.5.2018

?        Die Presse (13.5.2018): Irak-Wahl: Niedrigste Beteiligung seit Sturz Saddam Husseins, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5425941/IrakWahl_Niedrigste-Beteiligung-seit-Sturz-Saddam-Husseins, Zugriff 18.5.2018

?        Reuters (16.5.2018): Iraqi election commission says Kirkuk voting stations under siege, staff inside, https://www.reuters.com/article/us-iraq-election-kirkuk/iraqi-election-commission-says-kirkuk-voting-stations-under-siege-staff-inside-idUSKCN1IH1YA, Zugriff 18.5.2018

?        Der Spiegel Online (17.5.2018): Die Wandlung des “Mullah Atari“, http://www.spiegel.de/politik/ausland/irak-wahl-muqtada-al-sadrs-wandlung-von-hardliner-zum-versoehner-a-1207894.html, Zugriff 18.5.2018

?        The Washington Post (17.5.2018): During wait for Iraqi election results, political blocs scramble for influence, https://www.washingtonpost.com/world/during-wait-for-iraqi-election-results-foreign-states-scramble-for-influence/2018/05/17/a1d111d0-59da-11e8-9889-07bcc1327f4b_story.html?noredirect=on&utm_term=.beca16f25693, Zugriff 18.5.2018

KI vom 23.11.2017: Weitere Entwicklungen im Anschluss an das Kurdenreferendum, weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad. Relevant für die Abschnitte Sicherheitslage, politische Lage und Menschenrechtslage

Am 29.10.2017 erklärte Mas‘ud Barzani seinen Rücktritt als Präsident der kurdischen Region. Er lehnte in einem Brief an das kurdische Parlament eine Verlängerung seines Mandats über den 1.11.17 hinaus ab (IFK 6.11.2017). Barzani bleibt Vorsitzender der KDP (Kurdistan Democratic Party) und somit weiterhin ein wichtiger politischer Akteur. Die weiter andauernde Lähmung des kurdischen Regionalparlamentes versetzt die beiden Parteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans) weiterhin in die Lage, politische Entscheidungen ohne die Einbeziehung der Partei Goran oder anderer Parteien zu treffen (CR 14.11.2017).

Nach der Offensive der irakischen Armee und der PMF (Popular Mobilization Forces) in die von den Kurden kontrollierten Gebiete, besteht derzeit ein Waffenstillstand, es herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit, nicht nur bezüglich der weiteren Vorgehensweise der irakischen Regierung, sondern auch die wirtschaftliche Situation Kurdistans betreffend. Unterdessen gibt es neue Beweise dafür, dass im Zuge der Offensive in den vorwiegend kurdischen Gebieten Plünderungen, Brandstiftungen, Häuserzerstörungen und willkürliche Angriffe offenbar insbesondere von Seiten der PMF (auch von Seiten turkmenischer PMF-Milizen) stattfanden. Tausende haben dabei ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihre sonstigen Besitztümer verloren. (AI 24.10.2017; Bas 14.11.2017; HRW 20.10.2017).

Laut den Vereinten Nationen (VN) kam es im Zuge der Offensive der irakischen Regierung zur Vertreibung von zehntausenden Menschen aus den sogenannten „umstrittenen Gebieten“. 180.000 Menschen sind (mit Stand 18.11.2017) nach wie vor vertrieben, 172.000 sind zurückgekehrt. Die meisten dieser Vertriebenen sind Kurden, aber auch Mitglieder anderer Minderheiten, einschließlich sunnitischer Araber und Turkmenen. Die meisten Vertriebenen lebten in den Städten Kirkuk, Daquq (Provinz Kirkuk), sowie Tuz Khurmatu (Rudaw 18.11.2017). Aus Furcht vor Repressalien kehren sie derzeit nicht in ihre Heimatgebiete zurück (Reuters 9.11.2017).

Am Abend des 12.11.2017 fand in der Grenzregion zwischen Iran und Irak ein Erdbeben der Stärke 7,3 statt. Im Irak war dabei die an der Grenze zum Iran befindliche Stadt Halabja (im Autonomen Kurdengebiet) am stärksten betroffen. Acht Menschen starben im Irak, mehr als 500 wurden verletzt und hunderte Familien wurden obdachlos. Zumindest drei Gesundheitszentren wurden beschädigt. Verglichen mit dem Iran war der Irak deutlich geringer von dem Erdbeben betroffen (UNFPA 19.11.2017).

Im Zuge der Rückeroberungen von IS-Gebieten (IS: sogenannter Islamischer Staat) werden weiterhin Massengräber gefunden. Zuletzt wurde in der Nähe der Militärbasis al-Bakara etwa drei Kilometer vor der Stadt Hawija ein Grab mit mindestens 400 Toten (mutmaßlichen IS-Opfern) entdeckt (MOI 3.11.2017; Standard 11.11.2017). Umgekehrt treten weitere Berichte von Racheakten von Seiten der Befreier zutage, laut Nahostexpertin Gudrun Harrer scheint der Zyklus der Gewalt mit dem Sieg über den IS nicht unterbrochen (Harrer 24.11.2017). Mehr als 3,1 Millionen Iraker (die überwältigende Mehrheit Sunniten) sind weiterhin Vertriebene. Weitere 2,3 Millionen sind in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Für den Wiederaufbau ihrer Städte erhielten die Sunniten nicht viel Hilfe von der Zentralregierung, die sich mehr auf die Bekämpfung/Zurückdrängung des IS und zuletzt der Kurden konzentrieren (NYTimes 26.10.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

(BBC 3.11.2017)

(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

(CR 14.11.2017)

Im Folgenden findet sich ein von derselben Quelle erstellter Überblick über die Entwicklung der Zahl der Vorfälle von Kalenderwoche 26 – 44 des Jahres 2017:

(CR 14.11.2017)

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das „dritt-unfriedlichste“ Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Bagdad:

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten “Bagdad-Belt”, der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den ‘Popular Mobilization Forces’ (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

Terrorattacken:

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene (‘body-born’ oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte (‘vehicle-borne’ oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen (‘under-vehicle-borne’ oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

Kidnappings und Entführungen:

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im ‘Bagdad Belt’ üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

Konfessionalismus und Diskriminierung:

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

Die ISF werden in Bagdad vom ‘Baghdad Operations Command’ (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu: über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).

Islamischer Staat (IS):

Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des ‘Bagdad-Belt’ sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).

In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf „unkonventionelle Attacken“ gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).

Popular Mobilization Forces (PMF):

[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]

Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. […] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des ‘Bagdad-Belt’, besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).

Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.

Quellen:

-        AA-Auswärtiges Amt (23.11.2017): Irak: Reisewarnungen, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738#content_1, Zugriff 23.11.2017

-        AI- Amnesty International (24.10.2017): Titel? https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/10/iraq-fresh-evidence-that-tens-of-thousands-forced-to-flee-tuz-khurmatu-amid-indiscriminate-attacks-lootings-and-arson/, Zugriff 22.11.2017

-        Bas - Basnews (14.11.2017): Over 1,500 Civilian Properties Damaged by Hashd al-Shaabi in Tuz KhurmatuFeatured, http://www.basnews.com/index.php/en/news/kurdistan/392677, Zugriff 22.11.2017

-        BBC (3.11.2017): Islamic State and the crisis in Iraq and Syria in maps, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-27838034, Zugriff 22.11.2017

-        BI – Business Insider (13.11.2017): Two suicide

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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