TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/6 L501 2123130-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.03.2020
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Entscheidungsdatum

06.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L501 2123130-2/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch RAe Dr. Martin Dellasega & Dr. Max Kapferer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.08.2018, Zl. 15 - 1079264907/150908137, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wegen Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wird gemäß § 3 AsylG 2005 abgewiesen, im Übrigen wird der Beschwerde Folge gegeben und Herrn XXXX , geboren XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei stellte im Gefolge ihrer illegalen Einreise in das Bundesgebiet an 21.07.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich am 23.7.2015 gab die beschwerdeführende Partei an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehörige des Irak zu sein. Sie sei am XXXX in Bagdad geboren, Angehörige der arabischen Volksgruppe, Moslem der schiitischen Glaubensrichtung und verheiratet. Sie habe von 1990 bis 1996 in Bagdad die Grundschule besucht, von 1996 bis 1999 eine mittlere Schule. Ihre Eltern seien verstorben, ihre Gattin heiße XXXX und XXXX Jahre alt, ihr Sohn heiße XXXX und zwei Jahre alt. Sie habe noch zwei Schwestern, eine sei 34, eine 42 Jahre alt. Ihre Wohnsitzadresse gab sie mit XXXX an.

Befragt nach ihrer Ausreise führte die beschwerdeführende Partei aus, sie habe ihren Herkunftsstaat vor ca. zwei Wochen legal mit einem Flug von Bagdad aus Richtung Istanbul verlassen. Ausgereist sei sie mit einem vom Passamt Bagdad ausgestellten irakischen Reisepass. Sieben Tage später sei sie schlepperunterstützt nach Griechenland und schließlich nach Österreich gelangt, wo sie von der Polizei aufgegriffen worden sei. Den Entschluss, ihren Herkunftsstaat zu verlassen, habe sie ca. drei Wochen vor ihrer Abreise gefasst; sie habe im Irak als Soldatin für die Amerikaner bei der Terrorbekämpfung gearbeitet. Schiitische Milizen würden sie als Verräterin betrachten und wollten solche Leute wie sie töten. Die Frage, ob es konkrete Hinweise gebe, dass ihr bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe bzw. ob sie im Falle ihrer Rückkehr in ihren Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, verneinte sie.

Die mit 1.3.2016 erhobene Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 3 BVG wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.3.2016, L507 2123130-1/5, als unbegründet abgewiesen. Die dagegen eingebrachte Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 29.7.2016, Ra 2016/18/0078, zurückgewiesen.

Am 25.1.2018 wurde die beschwerdeführende Partei vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, im Beisein einer Dolmetscherin für Arabisch niederschriftlich einvernommen.

Zur Person und ihren Lebensumständen befragt, gab die beschwerdeführende Partei an, den Namen XXXX zu führen und am XXXX in Bagdad geboren zu sein; ihr Vater sei vor ihrer Geburt verstorben, sie sei bei ihrer als Reinigungskraft in einer Schule arbeitenden Mutter aufgewachsen. Ihre Schwestern seien 37 und 45 Jahre alt, eine sei verheiratet; sie habe seit Beginn ihrer Arbeit für die Amerikaner keinen Kontakt mehr zu ihnen. Im Herkunftsland würden noch zwei Onkel mütterlicherseits leben, beide seien verheiratet. Sie habe von 1991 bis 1997 in Bagdad die Grundschule besucht, von 1997 bis 1999 eine mittlere Schule. 2001 habe sie für sieben oder acht Monate außerhalb von Bagdad ihren Militärdienst abgeleistet, sie sei einfache Soldatin gewesen. Von 2004 bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2015 habe sie für die amerikanische Armee gearbeitet und ca. 2,5 Millionen Dinar (ca. 2000 US Dollar) ins Verdienen gebracht. Nachdem sie angefangen habe, bei den Amerikanern zu arbeiten, sei sie nicht mehr nach Hause gegangen, da sie von den Asa'ib Ahl al-Haqq und der Mahdi Armee verfolgt worden wäre. Sie habe mit ihrer Mutter nur noch telefoniert, ihre Schwestern hätten aus Angst vor den Milizen auch keinen telefonischen Kontakt mehr zu ihr gewollt. Sie habe ihre Mutter und ihre Schwestern finanziell unterstützt bis sie das Land verlassen habe. Sie habe das Geld ihrer Mutter gegeben, diese habe es den Schwestern weitergeleitet; dies sei so bis zum Tod der Mutter im Jahr 2013 gegangen. Danach habe sie die Schwestern nicht mehr unterstützt, da sie mangels Kontakt nicht gewusst habe, wo sie sich aufhalten. Sie habe bis heute weder Kontakt zu den Schwestern noch zu den Onkeln, sie wisse auch nicht, wovon ihre Angehörigen ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Ihre Familie verfüge über keine Besitztümer in ihrem Herkunftsland. Ihre Verwandten würden sie bei einer Heimkehr nicht freundlich empfangen, da sie im Rollstuhl sitze.

Sie habe bei der Erstbefragung an 23.07.2015 der Wahrheit entsprechende Angaben getätigt. Es seien aber drei Dinge falsch protokolliert worden, und zwar hätte sie vor der Ausreise nicht bei ihrer Mutter genächtigt, sondern sei in der Militärbasis gewesen, auch sei sie nicht verheiratet und habe kein Kind.

Nach Abschluss ihrer Schulausbildung und Beendigung des Militärdienstes habe sie weiter für das irakische Militär gearbeitet. Das irakische Militär habe mit dem amerikanischen kooperiert, sie sei von beiden trainiert worden. Sie sei bei den Marines gewesen und an verschiedenen Waffen ausgebildet worden, und zwar Pistolen - Wiltor, M4 – Gewehr, PKS – Demitrov (automatische Gewehre). Sie habe ihre Grundausbildung, in der sie fahren, schießen, durchsuchen, festnehmen und schwimmen gelernt habe, 2004 in XXXX von Bagdad absolviert. Nach Beendigung der Grundausbildung sei sie einfacher Soldat mit einem Streifen gewesen und einer für die Terrorbekämpfung zuständigen Einheit mit dem Namen „schmutzige Einheit“ angehört. Als Mitglied der Spezialeinheit sei sie Fahrerin gewesen, habe Hausdurchsuchungen durchgeführt und Terroristen festgenommen, auf diese geschossen und auch getötet. Ihr unmittelbarer Vorgesetzte habe XXXX geheißen, er sei 2008 nach Amerika gegangen. Sie sei immer in Militärbasen stationiert gewesen, wie in der XXXX am Flughafen Bagdad. Sie habe den Special Forces zur Terrorbekämpfung angehört; diese Einheit habe nur schwere Aufträge - wie etwa auch die Cobra - bekommen. Sie habe den Dienstgrad eines Sergeanten erreicht, fünf Streifen. Auf die Frage, warum sie Berufssoldatin geworden sei, erklärte die beschwerdeführende Partei, es habe keine andere Arbeit gegeben, man habe entweder Soldat werden oder den Milizen beitreten können. Von 2004 bis ihrem Unfall im Jahr 2006 habe sie immer wieder für drei Monate eine Spezialausbildung absolviert.

Ende 2006 habe sie einen Dienstunfall gehabt, es sei auf sie geschossen worden, auch sei eine Autobombe explodiert. Sie habe Verletzungen an den Beinen davongetragen, im Krankenhaus seien ihr die Beine teilweise amputiert worden. Sie verwende Prothesen, sitze aber auch im Rollstuhl. Standardbewaffnung sei eine Wiltor und eine PKS gewesen; im Zuge des Unfalls habe sie die ihr anvertraute - für die Übernahme habe sie unterschrieben - PKS des Militärs verloren. Wenn man im Irak eine Waffe verliere, müsse man eine Geldstrafe bezahlen; diese haben in ihrem Fall ca. 13 000 US Dollar betragen, es seien noch ca. 10 000 US Dollar offen. Ihr sei die Ableistung in Raten von ihrem Lohn gestattet worden. Solange sie im Irak gewesen sei, sei die Bezahlung der Strafe nicht vordringlich gewesen, sie habe aufgrund ihrer Behinderung Zeit für die Bezahlung der Restforderung bekommen.

Auf die Frage, ob es eine Alternative zur Geldstrafe gebe, erklärte die beschwerdeführende Partei, dass ein Gesunder auch inhaftiert werden könne, bei Bezahlung der Strafe durch die Angehörigen dann wieder freikäme. Sei man jedoch verletzt, werde man nicht in Haft genommen. Der noch offene Betrag sei ihr zwar nicht erlassen worden, es sei immer gesagt worden, „o. k. lassen wir das so“. Auf die Frage, was sie nun konkret wegen der offenen Geldstrafe befürchte, gab sie an, dass sie festgenommen werde, als Deserteurin gelte und wegen der Geldstrafe ins Gefängnis käme. Auf Vorhalt, dass sie gerade ausgesagt habe, dass verletzte Menschen nicht inhaftiert werden würden, erklärte die beschwerdeführende Partei, dass verletzte Personen in der Basis nicht festgenommen oder ins Gefängnis kämen, geflüchtete Personen aber schon.

Bis zu ihrem Unfall im Jahr 2006 habe sie ca. 2000 US Dollar ins Verdienen gebracht, danach habe sie ca. 1000 US Dollar erhalten. Anfänglich habe sie das Geld von den Amerikanern bekommen, dann hätten die Iraker die Zahlungen unter amerikanischer Kontrolle vorgenommen. Es sei genau überprüft worden, ob die Soldaten das Geld erhielten, da viele Soldaten andere Soldaten für die Übernahme gefährliche Aufträge bezahlt hätten. Nach dem Unfall habe sie nichts mehr gearbeitet, sie habe manchmal bei den Trainingseinheiten der anderen mitgeholfen.

Ihr Unfall sei als Dienstunfall gewertet worden, deshalb habe sie 1000 US Dollar pro Monat bekommen habe. Wenn sie eine Familie gehabt hätte, dann hätte sie ein Haus und eine Rente erhalten. Sie habe nach dem Unfall in der Militärbasis XXXX gelebt. Solange die Amerikaner im Land gewesen seien, sei es ihr in der Militärbasis sehr gut gegangen, danach habe sie sich nicht mehr gut betreut gefühlt. Vor dem Abzug der Amerikaner sei ein Mann beauftragt gewesen, ihr mit dem Duschen und Essen holen zu helfen; danach habe sie in der Basis von niemanden mehr Hilfe erhalten, sie habe sich innerhalb der Basis gefangen gefühlt und habe sie nicht verlassen können. Die Basis sei bombardiert worden, Soldaten seien ums Leben gekommen, auch ihr Zimmer, in dem sie gewohnt habe, sei bombardiert worden. Hätte sie die Basis verlassen, wäre sie von den Milizen umgebracht worden. Ihr Chef, dieser habe für die Amerikaner gearbeitet, meinte, es sei besser, wenn sie das Land verließe. Ihr Chef sei ca. 2008 nach Amerika gegangen, da die Milizen seine Eltern umgebracht hätten. Sie sei nicht mitgegangen, weil sie ihre Mutter nicht im Stich lassen habe können. Sie habe sich um sie kümmern müssen.

Nachgefragt, warum es ihr bei einem Verdienst von 2000 US Dollar nicht möglich gewesen sei, die Geldstrafe von 13 000 US Dollar innerhalb von neun Jahren abzubezahlen, gab die beschwerdeführende Partei an, dass sie ihre Familie unterstützt habe, sich ihre Prothesen selber bezahlen habe müssen und auch ein Auto benötigt habe, damit sie sich bewegen könne. Auch habe ihr Chef gemeint, sie solle sich zunächst behandeln lassen und erst anschließend die Schulden tilgen, wenn sie aus der Türkei zurückgekehrt sei. Die im Jahr 2008 erhaltenen Prothesen seien nicht gut gewesen, sie sei deshalb von 2006 bis 2015 mehr oder weniger im Rollstuhl gesessen. Sie habe sich gute Prothesen in der Türkei herstellen lassen wollen, sei dann aber nicht mehr in den Irak zurückgekehrt. Sie habe auch in Österreich schlechte Prothesen bekommen, diese schmerzten, sie habe Druckstellen.

Auf die Frage, ob sie im Irak staatliche Entschädigungen bzw. Sozialleistungen erhielte, gab sie an, dass sie hierfür die Behörden außerhalb der Basis hätte kontaktieren müssen, sie die Basis aber nicht verlassen habe könne. Auch brauche man hierfür gute Beziehungen, sonst bekomme man nichts.

Auf die Frage, wie sie zu ihrem Reisepass gekommen wäre, erklärte die beschwerdeführende Partei, ein paar Freunde hätten ihr beim Erreichen der zuständigen Behörde geholfen. Sie hätte die Freunde hierfür bezahlt, denn ohne Geld ginge so was nicht.

Sie sei damals noch nicht gesucht worden, erst jetzt, weil sie den Irak verlassen habe, werde sie gesucht. Zum Flughafen nach Bagdad sei sie mit dem Taxi gefahren. Sie habe das Taxi innerhalb der Basis bestiegen und am Flughafen wieder verlassen.

Mit dem hier angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten als auch einer subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in den Irak fest (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorbringen der bP im Hinblick auf den Ausreisegrund als nicht glaubhaft erachtet werde. Es könne nicht festgestellt werden, dass die bP vor ihrer Ausreise im Irak einer konkreten asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen sei oder eine solche im Fall ihrer Rückkehr zu befürchten habe.

Mit Verfahrensanordnung vom 16.08.2018 wurde der bP Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

In ihrer mit Schreiben vom 29.8.2018 erhobenen Beschwerde machte die beschwerdeführende Partei im Wesentlichen eine Verletzung der Ermittlungspflicht sowie eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Die Beweiswürdigung, warum eine Verfolgung als Soldatin wegen der Kooperation mit amerikanischen Soldaten durch schiitische Milizen unglaubwürdig sein soll, sei nicht nachvollziehbar. Die belangte Behörde führe lediglich zu den nicht asylrelevanten Aspekten bezüglich einer verlorenen Waffe und dem Vorfall 2006 aus, nicht aber zur wohlbegründeten Furcht vor der vorgebrachten Verfolgung durch schiitische Milizen aufgrund der Tätigkeit für die Amerikaner. Die Behörde habe keinerlei Feststellungen zur Höhe der staatlichen Unterstützung für Kriegsversehrte getroffen und ob die beschwerdeführende Partei tatsächlich darauf Anspruch habe. Es würden auch keine Feststellungen zum zerbombten Militärlager, indem die beschwerdeführende Partei Fall ihrer Rückkehr leben sollte, getroffen. Es werde nicht nur das konkrete Vorbringen der beschwerdeführenden Partei, sondern auch die Länderfeststellungen zum Irak ignoriert. Schiitische Milizen übten momentan die Staatsgewalt im Irak aus, machten sich Menschenrechtsverletzungen schuldig und verfolgten andere Schiiten, weswegen der beschwerdeführenden Partei aufgrund wohl begründeter Furcht vor staatlicher Verfolgung aufgrund unterstellter feindlicher politischer Gesinnung Asyl zuzuerkennen sei. Den Feststellungen folgend wäre auch mit außerordentlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK zu rechnen, weswegen mindestens subsidiärer Schutz zuzuerkennen wäre. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung stelle einen Eingriff in das Privatleben dar und hätte sich die belangte Behörde gegenständlich mit der Situation von Kriegsveteranen im Irak näher auseinandersetzen müssen. Die aktuellen Länderfeststellungen würden feststellen, dass Rückkehrer momentan keine Chancen hätten, sich eine Existenz aufzubauen. Umso schwerer sei eine Wiedereingliederung, wenn dem Betroffenen beide Beine amputiert worden seien und er auf ständige Hilfe Dritter angewiesen sei. Die Behörde habe Willkür geübt. Hätte die Behörde die vorgelegten Beweise berücksichtigt, hätte sie wegen der hervorragenden Integration, der Deutschkenntnisse, der sozialen Kontakte, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Unbescholtenheit und des Behördenverschuldens an der Aufenthaltsdauer zumindest einen humanitären Aufenthaltstitel zu erkennen müssen.

Am 24. September 2019 langte im Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerdeergänzung ein, in der vorgebracht wird, dass die beschwerdeführende Partei aufgrund ihrer massiven Verletzungen in die USA ausgeflogen und dort chirurgisch versorgt worden sei. Sie sei zwei Jahre in einem Militärspital in Florida behandelt und gepflegt worden. Als sie Ende 2008/Anfang 2009 wieder in den Irak zurückgekehrt sei, habe sie in einer Militäranlage in Bagdad gelebt. Als Mitglied einer Spezialeinheit sei die beschwerdeführende Partei mit hochtechnologischer Ausrüstung ausgestattet gewesen, woraus der hohe Gesamtwert der Bewaffnung, für deren Verlust sie aufkommen haben müsse, resultiere. Ab dem Zeitpunkt des Bombenanschlages sei es für die schiitische Miliz offenkundig gewesen, dass die beschwerdeführende Partei, die selbst Schiitin sei, für das US Militär kämpfe. Sie stünde und stehe daher bis heute auf der Abschussliste schiitischer Milizen. Ihre Familie habe aus Furcht vor Verfolgung den persönlichen Kontakt zu ihr abgebrochen. Während ihrer aktiven Militärzeit habe die beschwerdeführende Partei Geld für den Ankauf eines Autos gespart. Von einem Freund habe sie einen KIA kaufen wollen, hob ihre Ersparnisse von US Dollar 13 000 ab und gab diese dem Freund. Aufgrund des Unfalls konnte die beschwerdeführende Partei den Kauf nicht mehr zu Ende bringen und sei das Geld zwei Jahre über bei ihremFreund geblieben, der damit auch die Mutter der beschwerdeführende Partei versorgt habe. Dies auch während deren Aufenthalt in Amerika. Nach ihrer Rückkehr in den Irak habe sie aus Sicherheitsgründen ihre Mutter nicht besuchen können. 2013 sei sie für eine Woche in Hungerstreik getreten, danach habe sie das Militär in der Nacht zum Haus ihrer Mutter gefahren. Nach ihrem Besuch hätten vier Männer seine Mutter erschossen. Die Mutter sei in das Krankenhaus Bagdad gebracht worden, dieses Krankenhaus gehöre den schiitischen Milizen. Die vom Krankenhaus ausgestellte Todesbestätigung laute fälschlicherweise auf Diabetes, dies wegen den schiitischen Milizen. Die Schwestern der beschwerdeführende Partei seien mit zwei Männern verheiratet, die gleichfalls der Miliz angehörten. Da die beschwerdeführende Partei dem Feind (USA) geholfen habe, sei der Hass dieser Männer gegen sie derart, dass die Miliz die Schwiegermutter nicht verschont habe. Um vom Gehalt als Soldatin in Höhe von USD 1000 noch lebensfähig zu sein, sei bezüglich der Rückzahlung wegen den Waffen eine Ratenzahlung vereinbart worden. Aufgrund der Probleme mit den Beinprothesen habe die beschwerdeführende Partei von ihren Vorgesetzten die Bewilligung erhalten, in die Türkei auszureisen, um dort entsprechende Anpassungen an den Prothesen vornehmen zu lassen. Die beschwerdeführende Partei habe sich daraufhin einen Reisepass mit Visum für die Türkei besorgt und sei nach Istanbul geflogen. Dort habe sie sich entschlossen, nicht mehr in den Irak zurückzukehren sondern sei durch Schlepper nach Europa gelangt. Da sie hierfür keine Erlaubnis gehabt habe, würde sie bei einer Rückkehr in den Irak als Deserteurin betrachtet werden. Die beschwerdeführende Partei sei schwer traumatisiert und habe bereits mehrfach in der Psychiatrie der Uniklinik Innsbruck behandelt bzw. untergebracht werden müssen.

Am 03.22.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der bP, ihrer Rechtsvertretung, zwei Vertrauenspersonen sowie eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinfo vom 30.10.2019, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, zur Stellungnahme übergeben.

Mit Schreiben vom 24.2.2020 teilte die beschwerdeführende Partei mit, dass sich die Sicherheitslage seit dem 30.10.2019 gravierend verschlechtert habe. Folglich sei die beschwerdeführende Partei, die für die US-amerikanischen Truppen tätig gewesen sei, aufgrund der aktuellen Tätigkeit noch in einem weit stärkeren Ausmaß bedroht als bisher. Aus dem LIB gehe hervor, dass es dem irakischen Staat nicht möglich sei, das Gewaltmonopol des Staates sicher zu stellen. Insbesondere schiitische Milizen handelten eigenmächtig und seien nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar. Die beschwerdeführende Partei wäre daher im Falle einer Rückkehr in den Irak in asylrelevanter Art und Weise verfolgt und gefährdet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Die beschwerdeführende Partei führt den Namen XXXX , ist am XXXX in Bagdad geboren, Staatsangehörige des Irak, Angehörige der arabischen Volksgruppe sowie der schiitischen Glaubensrichtung. Ihr Vater verstarb vor ihrer Geburt, sie wuchs bei ihrer als Reinigungskraft in einer Schule arbeitenden Mutter auf. Die Familie verfügte über keine Besitztümer. Die bP besuchte von 1991 bis Juli 1997 in Bagdad die Grundschule, danach verrichtete sie Gelegenheitsarbeiten. Von 2001 bis zur Auflösung der Armee Saddam Husseins im Jahr 2003 war sie Militärangehörige. Ihre Mutter verstarb vor ihrer Ausreise in die Türkei; sie hat zwei Schwestern und zwei Onkel mütterlicherseits; der Kontakt kann allenfalls als spärlich angesehen werden. Von den Verwandten würde die bP bei einer Heimkehr aufgrund ihrer Behinderung nicht willkommen geheißen werden. Sie verfügt im Herkunftsstaat über keine gesicherte Existenzgrundlage.

Bei der bP besteht ein Zustand nach einer Autobombenexplosion mit beidseitiger Beinamputation, rechts Oberschenkel, links Unterschenkel, Kompartmentspaltungen beider Oberarme, Abdomen-OP, metallischen Restsplittern am ges. Körper. Von 24.08.2018 bis 26.08.2018 befand sie sich in der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck wegen akuter Selbstgefährdung. 2019 erlitt sie bei einem Sturz aus dem Rollstuhl eine distale Bizepssehnenruptur rechts. Die bP bewegt sich sowohl mit Hilfe eines Rollstuhles als auch mit Prothesen fort, wobei sie laut Arztbrief vom 11.11.2016 über eine vermehrte Sturzneigung aufgrund von Problemen mit dem rechten Prothesenknie berichtete.

Die bP hat in Österreich keine Verwandten, verfügt aber über normale soziale Kontakte und spricht Deutsch auf niedrigem Niveau. Sie hat keine Ausbildung absolviert und lebt in einer Flüchtlingsunterkunft von der Grundversorgung.

II.1.2. Zur Lage im Irak – Auszug aus dem im Zuge der mündlichen Verhandlung der bP bzw. dem RV übergebenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinfo vom 30.10.2019, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl:

1.       KI vom 30.10.2019, Sicherheitsupdate 3. Quartal 2019 und jüngste Ereignisse (relevant für Abschnitt 3. Sicherheitslage)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).

Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 7.8.2019). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Am 7.7.2019 begann die „Operation Will of Victory", an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US- geführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal 9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den Gesamtirak im Lauf des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 83 Tote und 119 Verletzten verzeichnet. 18 Tote gingen auf Leichenfunde von Opfern des IS im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im Juli auf 65 reduziert werden kann. Es war der zweite Monat in Folge, in dem die Vorfallzahlen wieder zurückgingen. Dieser Rückgang wird einerseits auf eine großangelegte Militäraktion der Regierung in vier Gouvernements zurückgeführt [Anm.: „Operation Will of Victory"; Anbar, Salah ad Din, Ninewa und Diyala, siehe oben], wobei die Vorfallzahlen auch in Gouvernements zurückgingen, die nicht von der Offensive betroffen waren. Der Rückgang an sicherheitsrelevanten Vorfällen wird auch mit einem neuerlichen verstärkten Fokus des IS auf Syrien erklärt (Joel Wing 5.8.2019).

Im August 2019 verzeichnete Joel Wing 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 103 Toten und 141 Verletzten. Zehn Tote gingen auf Leichenfunde von Jesiden im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der Todesfälle im August auf 93 angepasst werden kann. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um einen Angriff einer pro-iranischen PMF auf eine Sicherheitseinheit von British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld bei Basra (Joel Wing 9.9.2019).

Im September 2019 wurden von Joel Wing für den Gesamtirak 123 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019).

Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian 29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019).

BAGDAD

Der IS versucht weiterhin seine Aktivitäten in Bagdad zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Fast alle Aktivitäten des IS im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019). Im Juli gelang es dem IS zwei Selbstmordattentate im Gouvernement auszuführen, weswegen Bagdad die Opferstatistik des Irak in diesem Monat anführte (Joel Wing 5.8.2019). Sowohl am 7. als auch am 16. September wurden jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Während der Proteste im Südirak im Oktober 2019, von denen auch Bagdad betroffen war, stoppte der IS seine Angriffe im Gouvernement (Joel Wing 16.10.2019).

Im Juli 2019 wurden vom Irak-Experten Joel Wing im Gouvernement Bagdad 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 27 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 14 Vorfälle erfasst, mit neun Toten und elf Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verwundeten (Joel Wing 16.10.2019).

2.       Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da‘wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018). Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS 11.5.2018).

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante „Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

2.1.    Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS2.5.2018) .

Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran („Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al- Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen. die daraufhin angeordnet wurde. ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ 9.10.2018). Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers. des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken - eine Entwicklung. die einen Bruch mit den üblichen. schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer. konfessioneller und ethnischer Linien. darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).

2.2.    Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da‘wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

3.       Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich. seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde. verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv. die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018). Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich. das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten. zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten. Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018) .

3.1.    Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor. hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS

4.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018) Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018). Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

3.2.    Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen: vgl. Pkt. 1

3.3.    Sicherheitslage Bagdad

Die Provinz Bagdad ist die kleinste und am dichtesten bevölkerte Provinz des Irak, mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit der Provinz wird sowohl vom „Baghdad Operations Command" kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Im Jahr 2016 verzeichnete die Provinz Bagdad noch immer die höchste Zahl an Opfern im gesamten Land. Die Sicherheitslage verbesserte sich jedoch in Bagdad als die Schlacht um Mosul begann. Während Joel Wing im Januar 2016 in Bagdad noch durchschnittlich 11,6 Angriffe pro Tag verzeichnete, sank diese Zahl zwischen April und September 2017 auf durchschnittlich 3 Angriffe pro Tag (OFPRA 10.11.2017; vgl. Joel Wing 8.7.2017, Joel Wing 4.10.2017). Seit 2016 ist das Ausmaß der Gewalt in Bagdad allmählich zurückgegangen. Es gab einen Rückgang an IS- Aktivität, nach den Vorstößen der irakischen Truppen im Nordirak, obwohl der IS weiterhin regelmäßig Angriffe gegen militärische und zivile Ziele durchführt, insbesondere, aber nicht ausschließlich, in schiitischen Stadtvierteln. Darüber hinaus sind sunnitische Bewohner der Gefahr von Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt, einschließlich Entführungen und außergerichtlichen Hinrichtungen (OFPRA 10.11.2017).

Terroristische und politisch motivierte Gewalt setzte sich das ganze Jahr 2017 über fort. Bagdad war besonders betroffen. UNAMI berichtete, dass es von Januar bis Oktober 2017 in Bagdad fast täglich zu Angriffen mit improvisierten Sprengkörpern kam. Laut UNAMI zielten einige Angriffe auf Regierungsgebäude oder Checkpoints ab, die von Sicherheitskräften besetzt waren, während viele andere Angriffe auf Zivilisten gerichtet waren. Der IS führte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung durch, einschließlich Autobomben- und Selbstmordattentate (USDOS 20.4.2018).

Laut Joel Wing kam es im Januar 2018 noch zu durchschnittlich 3,3 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bagdad pro Tag, eine Zahl die bis Juni 2018 auf durchschnittlich 1,1 Vorfälle pro Tag sank (Joel Wing 3.7.2018). Seit Juni 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad langsam wieder auf 1,5 Vorfälle pro Tag im Juli, 1,8 Vorfälle pro Tag im August und 2,1 Vorfälle pro Tag im September gestiegen. Diese Angriffe bleiben Routine, wie Schießereien und improvisierte Sprengkörper und konzentrieren sich hauptsächlich auf die äußeren südlichen und nördlichen Gebiete der Provinz (Joel Wing 6.10.2018).

Insgesamt kam es im September 2018 in der Provinz Bagdad zu 65 sicherheitsrelevanten Vorfällen. Damit verzeichnete Bagdad die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im ganzen Land (Joel Wing 6.10.2018). Auch in der ersten und dritten Oktoberwoche 2018 führte Bagdad das Land in Bezug auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle an. Wenn man jedoch die Größe der Stadt bedenkt, sind Angriffe immer noch selten (Joel Wing 9.10.2018 und Joel Wing 30.10.2018).

In Bezug auf die Opferzahlen war Bagdad von Januar bis März 2018, im Mai 2018, sowie von Juli bis September 2018 die am schwersten betroffene Provinz im Land (UNAMI 1.2.2018; UNAMI 2.3.2018; UNAMI 4.4.2018; UNAMI 31.5.2018; UNAMI 1.8.2018; UNAMI 3.9.2018; UNAMI 1.10.2018). Im September 2018 verzeichnete UNAMI beispielsweise 101 zivile Opfer in Bagdad (31 Tote, 70 Verletzte) (UNAMI 1.10.2018).

4.       Rechtsschutz / Justizwesen

Die Bundesjustiz besteht aus dem Obersten Justizrat (Higher Judicial Council, HJC), dem Bundesgerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission und anderen Bundesgerichten, die durch das Gesetz geregelt werden. Das reguläre Strafjustizsystem besteht aus Ermittlungsgerichten, Gerichten der ersten Instanz, Berufungsgerichten, dem Kassationsgerichtshof und der Staatsanwaltschaft (LIFOS 8.5.2014). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.2.2018). Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.2.2018). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein. Darüber hinaus schwächen die Sicherheitslage und die politische Geschichte des Landes die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 20.4.2018). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.2.2018).

Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 16.1.2018).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.2.2018). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft (FH 16.1.2018). Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.2.2018).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Die Integritätskommission untersucht routinemäßig Richter wegen Korruptionsvorwürfen, aber einige Untersuchungen sind Berichten zufolge politisch motiviert. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente sowie der Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 20.4.2018). Nicht nur Polizei Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung gibt allen Bürgern das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess. Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen. Obwohl Ermittlungs-, Prozess- und Berufungsrichter im Allgemeinen versuchen, das Recht auf ein faires Verfahren durchzusetzen, ist der unzureichende Zugang der Angeklagten zu Verteidigern ein schwerwiegender Mangel im Verfahren. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 20.4.2018).

2017 endeten viele Schnellverfahren gegen Terrorverdächtige mit Todesurteilen. Zwischen Juli und August 2017 erließen die irakischen Behörden auch Haftbefehle gegen mindestens 15 Rechtsanwälte, die mutmaßliche IS-Mitglieder verteidigt hatten. Den Anwälten wurde vorgeworfen, sie stünden mit dem IS in Verbindung (AI 22.2.2018).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 20.4.2018).

5.       Sicherheitskräfte und Milizen

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle ausgeübt (USDOS 20.4.2018).

5.1.    Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces), und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.4.2018).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.2.2018).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums. Nach Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen findet Missbrauch vor allem während der Verhöre inhaftierter Personen im Rahmen der Untersuchungshaft statt. Probleme innerhalb der Provinzpolizei des Landes, einschließlich Korruption, bleiben weiterhin bestehen. Armee und Bundespolizei rekrutieren und entsenden bundesweit Soldaten und Polizisten. Dies führt zu Beschwerden lokaler Gemeinden bezüglich Diskriminierung aufgrund ethno-konfessioneller Unterschiede durch Mitglieder von Armee und Polizei. Die Sicherheitskräfte unternehmen nur begrenzte Anstrengungen, um gesellschaftliche Gewalt zu verhindern oder darauf zu reagieren (USDOS 20.4.2018).

5.2.    Volksmobilisierungseinheiten (PMF)

Der Name „Volksmobilisierungseinheiten“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 20.4.2018). Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.2.2018).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.2.2018). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten das Assad-Regime in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und der iranischen Revolutionsgarde. Ende 2017 war keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch Premierminister und ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben „iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderungen in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 20.4.2018).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF. Diese Meldungen haben sich mit dem Konflikt um die umstrittenen Gebiete zum Teil verschärft (AA 12.2.2018).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak" gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak" wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak" (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage"]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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