Entscheidungsdatum
13.03.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
L521 2173189-1/40E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Mag. Andreas Reichenbach, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Theobaldgasse 15, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.09.2017, Zl. 1082750001-151092755, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 27.05.2019 zu Recht erkannt:
A)
1. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
2. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt III. zu lauten hat:
„1. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wird XXXX gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.
2. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX ist gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer unzulässig. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX , der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.“
3. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids wird ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 14.08.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 15.08.2015 legte der Beschwerdeführer dar, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in XXXX im Gouvernement XXXX geboren habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, religionslos und ledig.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak zu Beginn des Monats August 2015 legal von seinem Heimatort ausgehend über Basra im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem kurzen Aufenthalt sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und dort nach seinem Aufgrund des Landes verwiesen worden. In der Folge sei er mit der Fähre auf das Festland gefahren und anschließend mit verschiedenen Verkehrsmitteln schlepperunterstützt nach Österreich verbracht worden, wo er von der Polizei aufgriffen worden sei.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, sein Großvater habe ihn zur Eheschließung mit seiner Cousine nötigen wollen. Da sein Großvater das Familienoberhaupt sei und er selbst die Eheschließung abgelehnt habe, habe er sich zur Flucht entschlossen. Sein Großvater habe ihn unter anderem geschlagen, um ihn zur Eheschließung zu nötigen. Im Fall einer Rückkehr würde er keine Aufnahme in die Familie finden und von den Schiiten unterdrückt werden, da er Journalismus studiert habe.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 27.04.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, die arabische Sprache zu verstehen. Zur Person befragt legte der Beschwerdeführer dar, seine Eltern und seine sieben Brüder würden auch gegenwärtig in XXXX im Gouvernement XXXX leben. Seine Eltern wären als Geschäftsleute erwerbstätig, er selbst habe studiert. Zu seiner Eheschließung sei er gezwungen worden. Die Familie sei schiitischen Glaubens, er selbst sei religionslos.
Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates gab der Beschwerdeführer an, aufgrund seiner Religionslosigkeit von Seiten des Stammesführers bedroht sei. Der Stammesführer sei sein Großvater. Er habe den Beschwerdeführer zur Eheschließung mit seiner dreizehnjährigen Cousine gezwungen, wobei die standesamtliche Eheschließung erst nach dem Abschluss des Studiums erfolgen solle. Von der Religion habe er sich im Alter von etwa 18 Jahren abgewandt, nachdem er sich religiös gebildet und erkannt habe, dass es „falsche Sachen in der Religion“ gäbe und „man einer Sage“ folge. Seiner Familie sei nicht bekannt, dass er sich von der Religion abgewandt habe, er habe sich zwar in sozialen Medien mit Bekannten darüber unterhalten, aber „nie etwas offiziell gemacht“.
Die Eheschließung sein dermaßen erfolgt, dass eine Sure aus dem Koran gelesen und innerhalb der Stammes bekannt gegeben worden sei, dass die Cousine für den Beschwerdeführer bestimmt sei. Er habe die Verbindung nicht ablehnen können, da sein Großvater ein Diktator sei. Einmal habe er angedeutet, dass er die Verbindung ablehne und sei daraufhin von seinem Großvater geschlagen worden.
3. Mit Schriftsatz vom 25.07.2017 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme und brachte Beweismittel in Vorlage.
4. Am 05.09.2017 wurde der Beschwerdeführer neuerlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen und dabei zu en vorgelegten Beweismitteln befragt.
5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.09.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
6. Mit Verfahrensanordnung vom 15.09.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
7. Gegen den dem Beschwerdeführer am 21.09.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eingebrachte, 41 Seiten umfassende Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise festzustellen, dass Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG 2005 vorliegen würden und dem Beschwerdeführer eine solche zu erteilten sei, hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG 2005 vorliegen würden und dem Beschwerdeführer eine solch zu erteilen sei. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach neuerlicher Darlegung des aus seiner Sicht maßgeblichen Sachverhaltes vor, er habe der konfessionellen Eheschließung mit seiner Cousine „rundheraus“ abgelehnt, sich jedoch der Gewalt und den Drohungen seines Großvaters gefügt. Der Großvater sei Stammesführer eines Stammes von über 40.000 Personen. Um die Familie nicht weiter zu gefährden, habe er den Irak verlassen. Darüber hinaus befürchte er im Rückkehrfall Verfolgung aufgrund seines Abfalls vom Islam.
Im Hinblick auf die behauptete Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert der Beschwerdeführer, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe es unterlassen, sich mit den vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismitteln auseinanderzusetzen und diese keiner Übersetzung zugeführt. Das belangte Bundesamt habe die angefochtene Entscheidung außerdem auf unvollständige Länderberichte gestützt und „wertete ihre eigenen Berichte nur unvollständig aus“. Dem angefochtenen Bescheid könnten keine Feststellungen zur Lage von Atheisten bzw. zur Apostasie entnommen werden. In der Folge werden über 26 Seiten Berichte zur allgemeinen Lage im Irak – etwa zur Rückkehr von Binnenvertriebenen in befreite Gebiet, zu Ehrverbrechen und Gewalt gegen Frauen und zu Ehrverbrechen an Männern – sowie zur Lage von Atheisten zitiert.
Zur Beweiswürdigung wird im Wesentlichen vorgebracht, dass der Beschwerdeführer nicht nur verlobt worden sei, sondern eine konfessionell wirksame Ehe geschossen habe. Der Beschwerdeführer könne auch nicht in einer Großstadt leben, da der Stamm über 40.000 Personen umfasse und sich die Stammeszugehörigkeit des Beschwerdeführers „bald herumsprechen“ würde. Das belangte Bundesamt habe sich auch unzureichend mit den Deutschkenntnissen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und beherrsche dieser die deutsche Sprache gut.
8. Die Beschwerdevorlage langte am 12.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
9. Am 29.05.2018 übermittelte der Beschwerdeführer im Wege seiner seinerzeitigen rechtsfreundlichen Vertretung dem Bundesverwaltungsgericht einen Link zu einem Zeitschriftenartikel zum Beweis seines Vorbringens. Infolge einer entsprechenden Aufforderung brachte der Beschwerdeführer am 18.06.2018 im Wege seiner seinerzeitigen rechtsfreundlichen Vertretung einen Ausdruck des Zeitschriftenartikels bei.
10. Am 08.03.2019 gab Mag. Andreas Reichenbach, Rechtsanwalt in 1060 Wien, die Übernahme der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers bekannt.
11. Zur Vorbereitung der für den 27.05.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden der nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.05.2019 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak sowie zur Lage von Atheisten zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und jeweils die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
Eine Stellungnahme langte innerhalb der eingeräumten Frist nicht ein.
12. Am 27.05.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Darüber hinaus wurde die vom Beschwerdeführer stellig gemachte Zeugin XXXX , einvernommen.
Der Beschwerdeführer brachte anlässlich der Verhandlung – obwohl unter einem mit der Ladung die Aufforderung erging, neue Beweismittel spätestens eine Woche vor der Verhandlung in Vorlage zu bringen – zunächst ein Konvolut an Beweismitteln betreffend seine Integration im Bundesgebiet und im weiteren Verlauf seiner Einvernahme noch Beweismittel zur Lage von Atheisten im Irak in Vorlage.
Aufgrund der verspäteten Vorlage von Beweismitteln, des überraschenden Auftretens einer Zeugin und der Notwendigkeit der Übersetzung diverser in der Verhandlung vorgelegter Schriftstücke in arabischer Sprache musste von einer Verkündung der gegenständlichen Entscheidung Abstand genommen werden.
13. Mit Schriftsatz vom 12.06.2019 brachte der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung in Entsprechung eines in der mündlichen Verhandlung erteilten Auftrages weitere Beweismittel in Vorlage und stellte einen Beweisantrag.
14. Am 24.09.2019 richtete das Bundesverwaltungsgericht eine Anfrage an die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zur Lage von Atheisten bzw. dem Islam gegenüber kritische eingestellten Personen im Herkunftsstaat. Die bezughabende Anfragebeantwortung langte am 02.10.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
15. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.10.2019 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.10.2019 sowie aktualisierte Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
Eine Stellungnahme langte innerhalb der eingeräumten Frist nicht ein.
16. Am 29.11.2019 übermittelte die rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers die Anmeldung des Beschwerdeführers für den Kurs „Koch auf dem zweiten Bildungsweg“ des WIFI Graz vom 20.01.2020 bis zum 11.03.2020 und die erste Seite einer an den Beschwerdeführer ergangenen Bescheidausfertigung des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg über die Verlängerung der erteilten Beschäftigungsbewilligung bis zum 29.11.2020.
17. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.02.2020 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers neuerlich aufgrund der dynamischen Lageentwicklung aktualisierte Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
Eine Stellungnahme langte innerhalb der eingeräumten Frist nicht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in der Stadt XXXX im Gouvernement XXXX geboren und lebte bis zur Ausreise im Gouvernement XXXX in der Stadt XXXX in einem im Eigentum seines Vaters stehenden Haus. Der Beschwerdeführer stammt aus einer schiitischen Familie, er selbst bezeichnet sich als religionslos nicht gläubig. Den Lehren des Islam – insbesondere religiösen Verhaltensvorschriften bzw. Verboten – steht der Beschwerdeführer kritisch gegenüber.
Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.
Der Beschwerdeführer besuchte im Herkunftsstaat die Grundschule und anschließend eine weiterführende Schule im Gesamtausmaß von zwölf Jahren und legte die Matura ab. Im Anschluss daran studierte er eigenen Angaben zufolge an der Universität von XXXX Journalismus/Medienwissenschaft, ohne einen Abschluss zu erlangen. In das Erwerbsleben trat der Beschwerdeführer nicht ein, für sein Auskommen kam seine Familie auf.
Die Eltern des Beschwerdeführers halten sich auch derzeit in der Stadt XXXX im Gouvernement XXXX auf. Der Beschwerdeführer hat sechs Brüder, zwei davon sind Schüler, zwei Studenten der Wirtschaftswissenschaften bzw. der Geschichte, ein Bruder des Beschwerdeführers hat sein Ingenieursstudium bereits abgeschlossen und ist erwerbstätig, ein weiterer erwerbstätiger Bruder ist bereits von zuhause ausgezogen und lebt nunmehr in der Stadt Basra. Die anderen Geschwister leben nach wie vor im Haus der Eltern. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet als Mathematiklehrer, seine Mutter ist Beamtin im irakischen Bildungsministerium.
An einem nicht feststellbaren Tag im Monat Juli oder August 2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal im Wege des internationalen Flughafens Basra im Luftweg in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 14.08.2015 nach Betretung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Der Beschwerdeführer gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei an hatte vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten aufgrund seiner arabischen Volksgruppenzugehörigkeit zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.
Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise keiner individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte aufgrund seiner religiösen bzw. islamkritischen Anschauungen ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt Dritte aufgrund seiner religiösen bzw. islamkritischen Anschauungen ausgesetzt sein.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer wurde im Herkunftsstaat nicht zwangsverheiratet. Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion auch nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden und von Familien- oder Stammesangehörigen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt.
1.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers ist im Wege der Hauptstadt Bagdad ist im Luftweg mit Linienflügen (Schwechat-Istanbul/Dubai-Bagdad) sowie anschließend über Fernstraßen direkt und gefahrlos erreichbar.
1.4. Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit hervorragender Ausbildung in der Schule, einem abgebrochenen Universitätsstudium sowie mit im Bundesgebiet erworbener erster Berufserfahrung als Küchenhilfe.
Der Beschwerdeführer verfügt über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat, eine Wohnmöglichkeit im Haus seiner Familie in der Stadt XXXX im Gouvernement XXXX sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente im Original (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis).
1.5. Dem Beschwerdeführer steht im Falle einer Rückkehr in den Irak auch eine zumutbare und taugliche Aufenthaltsalternative in einer schiitisch dominierten Großstadt wie Bagdad oder Basra zur Verfügung. Der Beschwerdeführer ist dort keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt und in der Lage, seinen Lebensunterhalt entweder durch finanzielle Unterstützung seiner Familienmitglieder oder durch Aufnahme einer eigenen beruflichen Tätigkeit zu bestreiten. Die genannten Städte sind für den Beschwerdeführer auch direkt und sicher erreichbar.
1.6. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 14.08.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist seither durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezog vom 17.08.2015 an bis zum 02.06.2017 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war zunächst in der Gemeinde XXXX in einer Unterkunft für Asylwerber untergebracht. Seit dem 01.03.2019 lebt er in XXXX bei einer österreichischen Familie. Seine Unterkunftgeberin attestiert ihm eine westliche Orientierung sowie dass der Beschwerdeführer als „Religionsloser“ in der Unterkunft für Asylwerber keinen Ansprechpartner gehabt und deshalb gelitten habe. Die Unterkunftgeberin sieht im Beschwerdeführer eine Person, die „zu uns wie unsere eigenen 3 Kinder [gehört]“, sie bezeichnet sich als adoptionswillig, was aber aufgrund der Rechtslage im Herkunftsstaat nicht möglich sei.
Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg vom 22.11.2016 wurde dem Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung als vollbeschäftigter Abwäscher zu einem Gehalt von EUR 1.420,00 (brutto) für die Zeit vom 22.11.2016 bis zum 15.05.2017 bei der XXXX erteilt. Zuvor war der Beschwerdeführer nicht legal erwerbstätig.
Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg vom 30.05.2017 wurde dem Beschwerdeführer in der Folge eine Beschäftigungsbewilligung als vollbeschäftigte Hilfskraft im Gastgewerbe zu einem Gehalt von EUR 1.460,00 (brutto) für die Zeit vom 03.05.2017 bis zum 31.10.2017 bei XXXX als Dienstgeber erteilt. Das Dienstverhältnis begann tatsächlich am 02.06.2017, der Beschwerdeführer erzielt ein Nettoeinkommen von ca. EUR 1.185,00. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg vom 30.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer neuerlich eine Beschäftigungsbewilligung als vollbeschäftigte Küchenhilfe zu einem Gehalt von EUR 1.500,00 (brutto) für die Zeit vom 30.11.2018 bis zum 29.11.2019 bei XXXX als Dienstgeber erteilt. Sein Dienstgeber attestiert ihm Fleiß und Interesse, eine sehr gute Integration in den Betrieb und bezeichnet ihn als wertvollen Mitarbeiter.
Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg vom 20.11.2019 wurde die dem Beschwerdeführer erteilte eine Beschäftigungsbewilligung als vollbeschäftigte Küchenhilfe bis zum 29.11.2020 verlängert. Mit weiterem Bescheid des Arbeitsmarktservice Deutschlandsberg vom 07.01.2020 wurde dem Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung als Küchenhilfe zu einem Gehalt von EUR 950,00 (brutto) für die Zeit vom 07.01.2020 bis zum 06.01.2021 bei XXXX als Dienstgeber erteilt.
Der Beschwerdeführer absolvierte den Kurs „Koch auf dem zweiten Bildungsweg“ des WIFI Graz vom 20.01.2020 bis zum 11.03.2020.
Der Beschwerdeführer verrichtete im Bundesgebiet keine gemeinnützigen Tätigkeiten. Er hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte, insbesondere in der Gemeinde XXXX , wo er über einen ausschließlich österreichischen Freundeskreis von ca. 20-30 Personen verfügt. Freunde und Unterstützer des Beschwerdeführers attestieren ihm gute Deutschkenntnisse (einschließlich Kenntnisse des steirischen Dialekts), den Willen zur Selbsterhaltung, Herz und Verstand und Hilfsbereitschaft. Der Beschwerdeführer versucht, von einem Freund das Schifahren zu erlernen.
Der Beschwerdeführer ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und in Österreich alleinstehend. Er besuchte keine Deutschkurse, die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 am 14.07.2018 hat der Beschwerdeführer nicht bestanden (die erbrachten Leistungen entsprachen dem Niveau A2). Er verfügt jedoch aufgrund seiner sozialen Kontakte, seiner Unterbringung bei einer österreichischen Familie und seiner Erwerbstätigkeit über fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache, die für eine Konversation im Alltag und die berufliche Betätigung ohne weiteres ausreichen.
1.6. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.7. Zur Lage von Atheisten und Personen, die sich vom Islam abgewandt haben, werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) gibt in einer Mitschrift eines Herkunftsländertreffens bezüglich Irak vom Juli 2017 die Aussage von Mark Lattimer, dem Leiter der Initiative Ceasefire Centre for Civilian Rights zum Thema Atheismus im Irak wieder. Laut Lattimer seien im Irak junge Menschen einer Reihe von Einflüssen ausgesetzt und es gebe auch eine Menge älterer Leute, die nicht religiös seien. Nur weil das Land immer stärker konfessionell geprägt sei, bedeute dies nicht notwendigerweise, dass alle Menschen religiöser würden. Es gebe eine starke kommunistische Strömung mit einer säkularen Einstellung im Irak, die immer noch stark in der irakischen Zivilgesellschaft verankert sei. Religion werde unterschiedlich stark praktiziert, dies heiße jedoch nicht, dass es leicht sei, sich als Atheist zu identifizieren, und nur selten geschehe so etwas öffentlich. Manchmal würden Personen angeben, sie seien Muslime, würden sich aber im Privaten als Atheisten definieren.
Die in den USA ansässige Online-Zeitung Al-Monitor berichtet in mehreren Artikeln über Atheismus im Irak. In einem älteren Artikel vom März 2013 wird die Auffassung vertreten, dass der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln habe, seine Verbreitung in allen gesellschaftlichen Gruppen und Altersgruppen allerdings neu sei. Zusätzlich zum Atheismus gebe es Personen, die sich als Agnostiker bezeichnen würden, und solche, die gewisse religiöse Erscheinungsformen oder Überzeugungen kritisieren würden, ohne den allgemeinen Rahmen der Religiosität zu verlassen. Al-Monitor habe sich mit einer Reihe von nicht gläubigen Personen getroffen, um über ihre Forderungen zu erfahren. Unter anderem hätten sie die Notwendigkeit einer rechtlichen und sozialen Anerkennung ihrer Existenz, einer Richtigstellung des Bildes, das die Gesellschaft von ihnen habe, sowie einer Gewährleistung öffentlicher Freiheiten betont. Die vorherrschende gesellschaftliche Meinung sei, dass es sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen wie den Zionisten oder Freimaurern („Masons“) handle. Es sei notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten vor religiösem Fundamentalismus zu schützen. Atheisten, Agnostiker und Säkularisten wären als Gruppe nicht anerkannt und es gebe keine irakischen oder internationalen Einrichtungen, die sie schützen oder verteidigen würden.
In einem Artikel vom 06.04.2014 wird ebenfalls dargelegt, dass der Atheismus im Irak tiefe historische Wurzeln bis ins 9. Jahrhundert habe. Neu sei jedoch die breite und umfassende Verbreitung durch alle Gesellschafts- und Altersklassen. Während es Atheismus ein „elitäres Phänomen“ gewesen sei, das auf Intellektuelle und Gelehrte beschränkt war, sei es heutzutage ein allumfassendes Phänomen und nehme immer mehr zu. Der Artikel stellt fest, dass einer der möglichen Gründe dafür der religiöse Extremismus sein könnte, der in den letzten zwei Jahrzehnten im Irak präsent sei sowie die Auswirkungen von Religiosität auf das tägliche Leben sowie seinen autoritären Einfluss auf die Gesellschaft. Es gebe neben Atheisten auch jene Iraker, die sich als Agnostiker und nicht als vollwertige Atheisten bezeichnen. Darüber hinaus gebe es auch eine große Anzahl von Menschen, die bestimmte religiöse Manifestationen oder Glaubensvorstellungen kritisieren, jedoch den allgemeinen Rahmen der Religiosität nicht aufgeben. Viele von ihnen wären Absolventen religiöser Schulen. Al-Monitor stellt jedoch fest, dass das Phänomen (Atheismus und Agnostizismus) nicht auf junge Menschen beschränkt ist.
Im Jahr 2017 berichtet Al-Monitor in einem weiteren Artikel vom 22.06.2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solchen Gedankengutes mit einer „eisernen Faust“ entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. Hakims Aufruf richte sich gegen die irakische Verfassung, die Glaubensfreiheit und freie Meinungsäußerung garantiere sowie Anstiftung gegen Andere und Zwang, eine bestimmte Glaubensrichtung zu übernehmen oder abzulehnen, kriminalisiere. Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Wer die fundamentalen Glaubensvorstellungen des Islam und / oder die Grundprinzipien von Religion im Allgemeinen in Frage stellen würde, würde von der Gesellschaft geächtet.
Al-Monitor berichtet weiter zum Phänomen Atheismus im Irak, dass ein bekannter Buchladen in Bagdad eine steigende Anzahl junger Leute verzeichnet habe, die Bücher über Atheismus kaufen würden. Selbst in der heiligen Stadt Najaf und innerhalb religiöser schiitischer Einrichtungen habe Al-Monitor mit mehreren religiösen Studenten gesprochen, die nicht nur damit begonnen hätten, die grundsätzlichen Bekenntnisse des Islam in Frage zu stellen, sondern sogar die grundsätzlichen Prinzipien von Religion im Allgemeinen. Diese Studenten würden unverzüglich von der Gesellschaft ausgeschlossen wenn sie ihre Auffassungen offen kundtun würden. Der Menschenrechtsaktivist, Autor und Satiriker Faisal al-Mutar habe al-Monitor gegenüber berichtet, dass Atheisten im Irak unter schwierigen Umständen leben würden, da die Regierung mehrheitlich aus islamischen Parteien bestehe und islamisch geprägte Milizen die Gesellschaft kontrollieren würden. Laut Faisal, der irakischen Atheisten auf sozialen Medien folgen würde, sei die Anzahl von Atheisten in verschiedenen Regionen des Irak steigend. Er habe vor kurzem die Organisation Ideas Beyond Borders gegründet, die irakische Atheisten verteidige und ihnen helfe, sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Viele (eine genaue Anzahl wird nicht genannt) Atheisten seien aufgrund von Schikanen und Drohungen gezwungen gewesen, aus dem Irak zu fliehen.
In einem Artikel vom 01.04.2018 berichtet Al-Monitor, dass Aussagen über die Dimension Atheismus im Irak sei aufgrund von Missverständnissen über das Konzept schwierig wären. Viele Kleriker, die den islamischen politischen Parteien nahestehen, setzen den Säkularismus mit dem Atheismus gleich. Andere Geistliche würden den Standpunkt einnehmen, dass liberale und kommunistische Ideen inhärent antireligiös sind und lehren würden, dass Gott nicht existiert. Nach dem gleichen Artikel haben gegen Atheismus gerichtet Aktivitäten starke politische Verbindungen zu islamischen Parteien, die den Irak seit 2003 regieren. Einer Gallup-Studie zufolge waren im Jahr 2012 88% der Iraker religiös. In einem von PRI (Public Radio International, ein in Minneapolis beheimatetes Non-Profit-Netzwerk von weltweiten öffentlich-rechtlichen Sendern) am 17. Januar 2018 veröffentlichten Artikel heißt es, dass Atheismus im Irak eher selten vertreten ist, die Zahl der Atheisten jedoch steigt.
Einem Artikel im Atlantic vom Juli 2018 zufolge nimmt unter den Jugendlichen im Irak die Säkularisierung zu. Buchhandlungen, Cafés und Facebook bieten Foren, in denen säkulare Ideen diskutiert werden. Der Artikel erwähnt Facebook-Gruppen mit Tausenden von Mitgliedern.
Senyar, eine Online-Zeitschrift für Kultur und Unterhaltung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, berichtet im März 2015 über die Mutanabbi-Straße in Bagdad, die als Kulturzentrum bekannt sei und in der man allerlei Bücher mit sensiblem Inhalt kaufen könne, darunter auch die Werke des britischen Atheisten Richard Dawkins oder „Die Satanischen Verse“ des Schriftstellers Salman Rushdie. Der Artikel erwähnt, dass zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels die meisten strenggläubigen Strafverfolgungsbeamten, die normalerweise den Bücher- und Alkoholverkäufern hinterherjagen würden, an der Front gegen den Islamischen Staat kämpfen würden. Daher gebe es weniger Aufsicht von offizieller Seite. Wie es scheine, seien die Behörden stärker darauf bedacht, Bücher und Websites zu verbieten, die die konfessionellen Spaltungen anheizen würden, als Atheisten zu verfolgen.
Die Religion News Service (RNS) berichtet im Dezember 2013, dass es laut Abdul Sattar Jawad, einem Gastprofessor an der Duke University (USA) und Experten für Nahost-Studien, falsch, anzunehmen, dass es im Nahen Osten eine weit verbreitete Verfolgung nicht religiöser Menschen gebe. Obwohl es religiöse Führer gebe, die nicht gläubige Menschen hassen oder ablehnen würden, werde die meiste Gewalt von „Extremisten“ verübt. Atheismus könne toleriert werden, wenn man sich nicht gegen die herrschenden Familien, Parteien, aufwiegelnden Geistlichen, Politiker und despotischen Herrscher und Regierungen stelle.
Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Jänner 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiters. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen.
Die in saudischem Besitz befindliche, in London herausgegebene Onlinezeitung Elaph schreibt im August 2017, dass sich in den letzten Jahren das Phänomen des Atheismus insbesondere unter jungen Leuten im Irak ausgebreitet habe. Dies sei auf die Korruption in der Regierung und die Verbreitung von Technologie in allen Bereichen des Lebens zurückzuführen. Andere würden das Phänomen hingegen nicht als einen „echten Atheismus“, sondern viel mehr als eine Reaktion auf religiöse politische Parteien deuten. Der Autor des Artikels, der aus Bagdad berichtet, habe sich schließlich mit jemandem, der sich als Atheist bezeichne und weder an Gott noch die Propheten glaube, in einem Café getroffen. Weit entfernt von allen anderen Cafébesuchern habe der Atheist begonnen, von seiner Überzeugung zu erzählen und davon, wie er vor Jahren Zweifel an der Existenz Gottes bekommen habe und diese dann durch das Töten bestätigt worden sei, das gerade im Irak vorherrsche. Ein Bettler, der das Café betreten habe, habe laut zum Gebet aufgerufen. Der Atheist habe laut hörbar den Ruf mit der gebräuchlichen Antwort erwidert.
Die Wochenzeitung TheArab Weekly, die in den USA, in Großbritannien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten gedruckt wird, schreibt in einem Artikel vom 20.7.2019, dass Atheisten im Irak eine wachsende Minderheit sind, die sich nicht mehr im politischen Abseits befindet und zunehmend am Radar des Staates aufscheint. Die zunehmende Prävalenz von Atheismus und Agnostizismus zeigt einen Wandel der öffentlichen Meinung. Im Irak könne ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus oder Unglaube an den Islam jedoch ein Todesurteil sein. Es erscheinen immer mehr Aussagen/Erfahrungsberichte von mutigen Frauen dazu online, die sich der Zensur entgegenstellen.
Über die Lage einzelner Atheisten geben nachstehende Berichte Aufschluss:
Die US-amerikanische Tageszeitung The Washington Times veröffentlicht im August 2017 einen Artikel über die Lage von Atheisten in der arabischen Welt. Sie berichtet unter anderem über Lara Ahmed, eine Studentin an der Universität Babylon (Provinz Babil) die ein Kopftuch trage und sich wie eine Muslimin verhalte, jedoch Atheistin sei. Sie wage es nicht, ihre Ansichten mit Fremden zu teilen. Es sei auch schwierig, im Südirak kein Kopftuch zu tragen, und die wenigen Frauen, die sich kein Kopftuch anziehen würden, würden laufend schikaniert. Viele Atheisten in der arabischen Welt würden angeben, sich weniger davor zu fürchten, für ihre Ansichten bestraft zu werden, als von gewaltsamen konfessionellen Gruppen, die die politische Unterstützung der Gläubigen suchen würden, angegriffen zu werden. Osama Dakhel, ein 21-jähriger Student der bildenden Künste in Bagdad, berichtet wie seine atheistischen Freunde sich zunächst ausgiebig mit dem Islam befasst, dann die Werke islamischer Reformatoren gelesen und sich schließlich mit Atheisten online ausgetauscht und so zu ihrer atheistischen Weltanschauung gekommen seien.
Khaleej Online berichtet in einem Artikel vom November 2016 über den 26-jährigen Hussein al-Nujaifi, der, obwohl er aus einer muslimischen Familie stamme, nun der atheistischen Strömung angehöre. Hussein habe vor drei Jahren sein Studium beendet und arbeite nun in einem Büro in Bagdad. Laut ihm seien „die Gläubigen“ für das Töten und die Zerstörung verantwortlich, die es seit 2003 im Land gebe. Hussein und viele andere Leute, so Al-Khaleej Online, seien davon überzeugt, dass der Irak von einer Gruppe Geistlicher kontrolliert werde, die das Töten Unschuldiger und die Zerstörung des Landes unterstützen würden. Für gebildete junge Leute stelle der Atheismus eine Art Zuflucht für ihre Ambitionen dar, da sie nach Frieden suchen würden und davon ausgehen würden, dass die Klasse von Politikern, die islamischen Gremien vorstehen und religiöse Predigten halten würden, diesen verloren hätten.
Ahmad al-Dschumaili, ein Maler, habe al-Khaleej Online gesagt, dass Atheismus für ihn die Rettung vor der „Brutalität der Extremisten“ sei, jedoch sei es für eine Person nicht leicht, sich zu ihrem Atheismus zu bekennen, dies gelte insbesondere in den Gebieten, in denen Einheiten der Volksmobilisierung Kontrolle ausüben würden. Dort, so al-Dschumaili, würden solche Personen bestimmt getötet.
Dschamal al-Bahadli, ein Atheist der auf sozialen Medien offen über seine Auffassungen spreche, hat gegenüber Al-Monitor angegeben dass er Todesdrohungen von schiitischen Milizen in Bagdad erhalten habe, was ihn 2015 dazu veranlasst habe, nach Deutschland zu emigrieren.
Die schwedische non-profit Organisation und Medienplattform Your Middle East berichtet in einem Beitrag zum Thema Atheismus im Irak vom Februar 2014 über einen irakischen Aktivisten, dessen Mission es sei, seine Freunde und andere junge Menschen über Atheismus aufzuklären. Der Aktivist, der sich den Namen Omar al-Baghdadi gegeben habe, lebe in einem zumeist von Sunniten bewohnten Viertel in Bagdad. Seine Freunde und Eltern wüssten, dass er Atheist sei. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der nicht mehr existenten kurdischen Nachrichtenagentur AKnews seien irakische Bürger befragt worden, ob sie an Gott glauben würden. Vier Prozent hätten mit „wahrscheinlich nicht“ und sieben Prozent mit „Nein“ geantwortet. Laut Nawaf Al-Kaabi, einem Studenten aus Basra, könne die Zahl der Atheisten 2014 noch weit höher liegen. Junge Iraker seien des religiösen Extremismus und der Politiker überdrüssig, die für die konfessionellen Spaltungen im Land verantwortlich seien. Sie würden reisen, lesen, Fernsehen und Internet nutzen; durch die vielen verfügbaren Informationen seien sie daher zunehmend der Religion gegenüber skeptisch eingestellt. Al-Kaabi stimme jedoch auch zu, dass viele Atheisten im Irak, wenn sie offen über ihre Auffassungen sprechen würden, einer Gefahr durch Extremisten und Milizen, die in Verbindung mit religiösen Gruppen stehen würden, ausgesetzt sein könnten.
Eine irakische Biologin aus Kerbala berichtete dem bereits zitierten Artikel der Wochenzeitung TheArab Weekly zufolge davon, von ihren Brüdern verprügelt worden zu sein, weil sie Zweifel an ihrem Glauben geäußert hatte. Sie wurde dann unter Polizeischutz gestellt.
Zur Rechtslage wird berichtet, dass die Verfassung der Republik Irak besagt, dass der Islam die offizielle Religion des Staates ist und dass kein Gesetz, das dem Islam widerspricht, erlassen werden kann. Die Verfassung sieht vor, dass „jeder Einzelne die Freiheit des Denkens, des Gewissens und des Glaubens“ (Artikel 42) hat, und garantiert „die vollen religiösen Rechte aller Menschen auf Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit wie Christen, Yeziden und Saba-Mandäer“ (Artikel 2) und sieht vor, dass alle Iraker vor dem Gesetz gleich sind und nicht aufgrund der Religion oder der Weltanschauung diskriminiert werden dürfen.
Atheismus ist im Irak nicht unter Strafe gestellt. Nach Artikel 372 des irakischen Strafgesetzbuches 1969 ist jedoch die Beleidigung einer Religion bzw. einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Praktiken, oder die öffentliche Beleidigung eines Symbols oder einer Person, die Gegenstand der Heiligung, des Gottesdienstes oder des Gottesdienstes ist, strafbar und wird mit einer Freiheitsstrafe von höchstens drei Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 300 irakischen Dinar bestraft.
Einer Quelle zufolge kann der Straftatbestand der Religionsbeleidigung von Behörden in der Praxis auch gegen Atheisten eingesetzt werden. Als Beispiel dafür wie die Ausstellung von Haftbefehlen gegen vier Personen im Distrikt Garraf (Provinz Dhi Qar) angeführt. Den Personen wurde vorgeworfen, „Seminare während geselliger Treffen abzuhalten, um die Idee von der Nichtexistenz Gottes zu verbreiten und den Atheismus zu verbreiten und zu popularisieren“. Die Ankündigung löste eine heftige Reaktion in den Medien und sozialen Netzwerken aus, da viele Iraker der Meinung sind, dies würde die Rechte des irakischen Volkes verletzen, dessen Verfassung ihnen Glaubens-und Meinungsfreiheit garantiert. Andere Beobachter haben eine politischen Aspekte dieser Aktion betont. Von den vier Personen wurde nur eine Person festgenommen. Ein Analyst kritisierte die Erlassung der Haftbefehle als gesetzwidrig. Medienberichten zufolge wurde eine Person in der Folge erstinstanzlich zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, ob das Urteil in Rechtskraft erwuchs bzw. vollzogene wurde, kann nicht festgestellt werden.
Weitere Berichte in Medien betreffen Ahmad Sherwan, der 16-jährigen Schüler aus Erbil, der im Jahr 2014 behauptete, er sei von der kurdischen Polizei gefoltert worden, weil er sich zum Atheisten erklärt habe. Er behauptete, er sei zu Hause verhaftet worden, nachdem sein Vater ihn als Atheist der Polizei gemeldet hatte. Laut seiner Aussage wurde er auf der Polizeiwache Azadi in Erbil und anschließend im Strafgefängnis Erbil gefoltert, wo er nach 13 Tagen gegen eine Sicherheitsleistung freigelassen wurde. Sherwan erklärte auch, dass er während seiner Haft von einem Sozialarbeiter und einem Richter beleidigt und bedroht wurde. Der Richter, der ihn schließlich gegen Kaution freiließ, nannte ihn angeblich einen „Ungläubigen“. Die Polizei von Erbil erklärte, dass der Jugendliche festgenommen worden sei, bestritt jedoch, dass er gefoltert worden sei. Weitere Informationen zu einem späteren Gerichtsverfahren konnten nicht gefunden werden.
Der Buchhändler Ihsan Mousa wurde Medienberichten zufolge Ende 2018 bei einer Razzia der Polizei in seiner Buchhandlung verhaftet. In einer offiziellen Erklärung wurde mitgeteilt, dass Mousa wegen „des Versuchs der Förderung und Verbreitung des Atheismus" angeklagt sei. Die Gemeinde habe sich daraufhin sich hinter Mousa gestellt. Der irakische Schriftsteller Ahmad al-Saadawi kritisierte die Verhaftung und die sich daraus entwickelnde Diskussion als „trivial und dumm" und fügte hinzu, dass „die Behörden versuchen, durch die Einführung einer Kultur der Prävention und Kontrolle Legitimität aufzubauen". Das Klima der Zensur im Irak, wie der Fall Mousa unterstreicht, erklärt die Existenz eines weitläufigen, frei denkenden Online-Netzwerks von Atheisten. Mousa wurde in der Folge nach dem Versprechen freigelassen, „beleidigende Bücher“ nicht mehr zu verkaufen.
Zu allfälligen Einschränkungen für Atheisten beim Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt liegen keine Erkenntnisse vor.
Quellen:
- European Asylum Support Office: Treatment of atheists in Iraq, 11.08.2018
- ACCORD: Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen, 18.09.2017
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.12.2018 betreffen Probleme durch westliches Auftreten in Basra
- EASO Country of Origin Information Report Iraq, Targeting of Individuals, März 2019
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 01.10.2019 betreffend Verfolgungshandlungen gegenüber Atheisten im Irak
1.8. Zur gegenwärtigen Lage im Gouvernement Bagdad werden folgende Feststellungen getroffen:
Das Gouvernement Bagdad ist das mit ca. 4.555 km² flächenmäßig kleinste Gouvernement des Landes und beherbergt die gleichnamige irakische Hauptstadt Bagdad. In Bagdad lebten 2018 offiziell schätzungsweise 8,1 Millionen Menschen. Obwohl Bagdad das kleinste Gouvernement im Irak ist, hat es die höchste Einwohnerzahl von allen Gouvernements. 87% der Bevölkerung des Gouvernements leben in der Stadt Bagdad selbst. Die Hauptstadt ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt die stark geschützte grüne Zone.
Die Stadt Bagdad ist in neun Verwaltungsbezirke gegliedert: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rasafa und 9 Nissan (‘new Baghdad’). Die restliche Fläche des Gouvernements beherbergt die Verwaltungsbezirke Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib, die den sogenannten „Bagdad Belt“ bilden und die Vororte beherbergen.
Gouvernement und Stadt Bagdad weisen eine gemischte Bevölkerung aus Schiiten und Sunniten mit einer geringeren Anzahl christlicher Gemeinschaften auf. Während die meisten Stadtteile in Bagdad in der Vergangenheit von einer Mischung aus Sunniten und Schiiten bewohnt waren, führte die gewaltsame Säuberung im Zuge der konfessionellen Konflikte insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 dazu, dass die Stadt viel stärker religiös geteilt und von den Schiiten dominiert zu sein scheint (siehe dazu im Detail unten 1.10 „Lage von sunnitischen Arabern in Bagdad“).
Die Einheiten der irakischen Armee in Bagdad unterstehen Führung des Baghdad Operations Command (BOC), das in zwei Gebiete unterteilt ist, das Karkh Area Command und das Rusafa Area Command. Die Special Forces Division (SFD) des Premierministers ist für die Sicherheit in der grünen Zone und den Schutz des Premierministers verantwortlich und kann vom Verteidigungsministerium, dem BOC, dem Joint Operations Command (JOC) sowie dem Premierminister selbst eingesetzt werden. Die SDF wird auch für Sicherungsaufgaben in Bagdad herangezogen, insbesondere während der schiitischen Pilgerreisen.
Dem Karkh Area Command untersteht die 6. irakische Armeedivision mit verschiedenen Brigaden, die in und außerhalb der Stadt stationiert sind. Die dem Rusafa Area Command unterstehende 9. Irakische Armeedivision ist derzeit nicht in Bagdad stationiert. Die Bundespolizei des irakischen Innenministeriums ist in Bagdad durch drei Bundespolizeidivisionen vertreten. Die 1. Federal Police Division sichert die südwestliche, westliche und südöstliche Kanalzone von Bagdad. Die 2. Federal Police Division, die einzige mechanisierte Division der Bundespolizei in Bagdad, wird hauptsächlich zur Terrorismusbekämpfung in Bagdad und den Bagdad-Belts, zur Sicherung von Pilgerwegen und zu Aufgaben in Zusammenhang mit der Strafverfolgung herangezogen. Die 4. Federal Police Division deckte das südliche Bagdad und Gebiete südlich der Hauptstadt ab und betreibt das Gefängnis in Karkh. Ergänzend steht westlich von Bagdad die 3. Brigade der Emergency Response Division (ERD) zur Verfügung. Die Stadt Bagdad und die Vororte werden grundsätzlich von den irakischen Behörden kontrolliert. In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsaufgaben mit den schiitisch dominierten Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Für die Jahre 2014 und 2015 liegen Berichte vor, wonach Einheiten der PMF an Misshandlungen und Morden an Zivilisten und Sunniten im Zusammenhang mit Operationen gegen den Islamischen Staat in den Bagdad-Belts beteiligt waren.
Seit dem Eintritt der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Dezember 2017 gibt es in Bagdad und anderen Landesteilen weniger Angriffe des Islamischen Staates mit großer Breitenwirkung. Der Islamische Staat verfügt weiterhin über aktive Zellen im nördlichen und westlichen Bagdad-Belt, diese befinden sich jedoch erheblichen Verlusten im Jahr 2017 in einem inaktiven Zustand. Seit dem Jahr 2018 sind Bagdad und die Bagdad-Belts kein prioritäres Operationsgebiet des Islamischen Staates mehr und ist der Islamische Staat nicht mehr für den überwiegenden Teil der Gewalttätigkeiten in der irakischen Hauptstadt verantwortlich. Die Möglichkeit, Anschläge auch im Zentrum der irakischen Hauptstadt zu verüben, dürfte nach wie vor gegeben sein, allerdings befindet sich die verbliebenen Anhänger des Islamischen Staates in einer Phase der Neuaufstellung.
Wenn der Islamische Staat die Verantwortung für Angriffe übernimmt, werden die Opfer entweder als „Abtrünnige“ oder „Rafida“ (eine abfällige Bezeichnung für schiitische Muslime) oder als bewaffnete Akteure bezeichnet, obwohl die Opfer möglicherweise Zivilisten sind. Der Islamische Staat übertreibt das häufig die Verluste, die seine Anschläge nach sich ziehen.
Die nachstehende Grafik zeigt, dass die Anzahl der zivilen Opfer von Gewaltakten in Bagdad in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber den Vorjahren signifikant gesunken ist und wieder das Niveau vor dem Erstarkten des Islamischen Staates erreicht hat (Anmerkung: Die Datenbank Iraq Body Count kommt zu abweichenden Werten, siehe dazu die weitere Grafik).
Die Verwaltungsbezirke mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu zivilen Todesfällen führten, waren im Jahr 2018 Adhamiya mit 78 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 94 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von Resafa (einschließlich Thawra 1 & 2) mit 77 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 161 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von und Mada'In mit 63 sicherheitsrelevanten Vorfällen, bei denen 69 Zivilisten ums Leben kamen. Die höchste Rate an Todesfällen pro 100.000 Einwohner) wurden im Vorort Tarmia (35,80) verzeichnet, gefolgt von Mada'in (15,91) und Adhamiya (8,25). Die meisten von der Iraq Body Count im Jahr 2018 im Gouvernement Bagdad erfassten Vorfälle betrafen Schießereien (46,4%), gefolgt von Morden („executions“) (30,6%) und die Verwendung improvisierter Sprengsätze (20,7%).
Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Bagdad und Anzahl der Opfer nach der Datenbank Iraq Body Count, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.
Dem Experten Michael Knights zufolge ereigneten sich in Bagdad 2018 die wenigsten Terroranschläge von –Jihadisten seit dem Jahr 2003. Anschläge des Islamischen Staates sind in der Stadt selbst „mehr oder weniger verschwunden“, in den Bagdad-Belts sind die Anschläge des islamischen Staates zurückgegangen. Derzeit verhält sich der Islamische Staate in Bagdad und den Bagdad-Belts unauffällig und hat 2018 nicht viele Operationen durchgeführt. Wenn Angriffe verübt werden, handelt es sich meistens um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen. Der Islamische Staat ist wahrscheinlich nicht für den Großteil der Gewalt in Bagdad verantwortlich. Das Institute for the Study of War geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die derzeit registrierten Gewaltakte in Bagdad im Zusammenhang mit kriminellen und politischen Auseinandersetzungen (unter letztes fallen politische Einschüchterung, gezielte Attentate usw.) und nicht mit dem Islamischen Staat stehen. Auch der Experte Michael Knights geht davon aus, dass meisten Gewalttaten in Bagdad nicht dem Islamischen Staat zuzuschreiben sind. Quellen besagen, dass der Islamische Staat seine Aktivitäten derzeit nur im Bagdad-Belt und in den Randgebieten der angrenzenden Gouvernements entfaltet, anstatt in der Stadt selbst. Der Experte Joel Wing gab an, dass die gewalttätigsten Vorfälle mit improvisierten Sprengsätzen und Schießereien, die er aufzeichnete, Medienberichten zufolge im äußersten Norden und Süden von Bagdad und in geringerem Maße im Westen vorkommen. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass die intensiveren Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen im nördlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Bagdad (Kadhimiyah, Adahamyah) und im Vorort Tarmia (nördlich von Bagdad) verübt werden. Nur einige Vorfälle ereigneten sich in Bagdad westlich des Tigris - Karadah und Neu-Bagdad / al-Nissan und östlich des Tigris (Rusafa, Karkh, Rasheed und Mansour) sowie in Doura, jedoch in geringerer Intensität.
Das Institute for the Study of War kommt in seiner Analyse zum Ergebnis, dass „überwiegende Mehrheit“ der Gewaltakte in Bagdad im Jahr 2018 „politische Gewalt“ darstellte, die im Allgemeinen politische Einschüchterungen, bewaffnete Scharmützel und gezielte Morde unter Schiiten vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Wettbewerbs und der Regierungsbildung nach den Wahlen im Mai 2018 umfasste. In ähnlicher Weise erklärt der Experte Michael Knights, dass der Haupttrend bei der Gewalt in Bagdad darin besteht, dass es sich fast ausschließlich um persönliche, gezielte oder kriminelle Gewalt handelt, die in erster Linie den Einsatz von Kleinwaffen, Erpressung, Einschüchterung, improvisierte Sprengsätze oder Granaten, Schießereien, Raubüberfälle und andere Erscheinungsformen organisierter Kriminalität umfasst. Diese Aktivitäten dienen dem Experten zufolge in erster Linie der Einschüchterung und Gewalt gegen Zivilisten, um Geld zu verdienen, Zivilisten zu vertreiben, die als Außenseiter angesehen werden, oder um politische Gegner oder Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu vertreiben oder ist gegen Personen gerichtet, die aufgrund ihres Lebensstils oder ihrer vorherigen Beteiligung an Verbrechen oder bewaffneten Konflikten exponiert sind. Er erwähnte auch, dass die politischen Spaltungen unter den Schiiten derzeit einen Großteil der Gewalt in den schiitischen Gebieten von Bagdad und Basrah ausmachen.
Die Expertin Geraldine Chatelard hebt hervor, dass Milizen in Bagdad häufig von Sunniten und Minderheiten der Gewalt beschuldigt werden, Morddrohungen, Entführungen, gezielte Attentate oder die Übernahme von Gebäuden von rechtmäßigen Eigentümern verübt zu haben, dies unter Hinweis darauf, dass sogar Schiiten Opfer von Erpressung und Tötung geworden sind. Der Expterte Michael Knights weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Sunniten und Christen in erster Linie befürchten, von schiitischen Milizen in Bagdad erpresst oder entführt zu werden, jedoch Quellen davon berichteten, dass die Zuweisung der Verantwortung für bestimmte Angriffe zu bestimmten Täter in Bagdad schwierig ist und insbesondere Sprengstoff sowohl zu politischen als auch zu kriminellen Zwecken eingesetzt wird, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Den PMF-Milizen werden dabei „enge Verbindungen zu kriminellen Banden“ zugeschrieben, die Unterscheidung zwischen beiden ist nicht immer klar.
Der Experte Michael Knights vertritt zur Sicherheitslage allgemein die Ansicht, dass in der Stadt Bagdad die Gebiete sicherer sind und weniger Raum für offene Gewalt wie z.B. improvisierte Sprengsätze oder Raubüberfälle bieten, in denen sich die irakischen Streitkräfte auf die Bewachung wichtiger Standorte konzentrieren – etwa die Verwaltungsbezirke Karkh, Doura und Mansour. Dort wo die irakischen Streitkräfte weniger dominant ist und bewaffnete Akteure wie kriminelle Banden und Milizen Revierkämpfe führen und um Einfluss konkrurrieren, ist die Sicherheitslage entsprechend angespannter, wie in Kadhimiyah, Jihad, Bayaa und Karadah. Er vertrat die Ansicht, dass die "schlimmsten Sicherheitsbereiche" in der Stadt Adhamiyah, New Bagdad und Sadr City seien.
Milizen sind auch in bewaffnete Zusammenstöße zwischen ihnen selbst und den regulären Sicherheitskräften verwickelt, die laut Michael Knights im Jahr 2018 im Zentrum der Hauptstadt und in östlich gelegenen Gebieten mehrmals stattfanden. Ein Vorfall zog mediale Aufmerksamkeit nach sich: Am 20. Juni 2018 stoppte die irakische Polizei ein Auto in der Innenstadt von Bagdad, das Angehörigen der von Iran unterstützten Miliz Kataib Hezbollah („Hisbollah-Brigaden“) gehörte. Ein Hisbollah-Konvoi mit fünf Fahrzeugen traf ein und begann auf die Polizei zu schießen, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem zwei Offiziere und ein Milizionär verletzt wurden. Die Polizei umzingelte daraufhin das Hauptquartier der Kataib Hezbollah, bis der Schütze der Polizei übergeben wurde. Der Vorfall spiegelt den möglichen Machtkampf zwischen irakischen Sicherheitskräften (Armee, Bundespolizei, örtliche Polizei) und PMF-Milizen wider.
EASO hat die folgenden sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2018 exemplarisch identifiziert:
Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Bomben
Bagdad wurde in der Vergangenheit vom Islamischen Staat wegen der Bevölkerungskonzentration bevorzugt angegriffen, da die großen Menschenansammlungen die Möglichkeit geboten haben, mit einem Bombenanschlag eine große Anzahl von Opfern zu treffen. 2018 sind solche Anschläge jedoch zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 verfolgte der Experte Michael Knights eine hohe Anzahl von Angriffen mit Hilfe von improvisierten Sprengsätzen auf Märkte und Geschäfte in Bagdad. Die Anzahl der Angriffe dieser Art ging jedoch im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zurück. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass ein in Bagdad im Jahr 2018 festgestellter charakteristischer Angriff des Islamischen Staates darin bestand, Sprengsätze gegen kleine Personenbusse einzusetzen, die jeweils etwa zehn Personen befördern und die in ganz Bagdad zum Straßenbild gehören. Diese Busse wurden im Islamischen Staat im Jahr 2018 mehrmals mit improvisierten Sprengsätzen angegriffen, was zwar nur minimale Verluste, aber Einschüchterungen der Zivilbevölkerung zur Folge hatte.
Noch im Januar 2018 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem überfüllten Tayran-Markt in Bagdad und töteten dabei mindestens 38 Menschen und verletzten bis zu 90 Menschen. Der Angriff schockierte die Bevölkerung von Bagdad, da er nach einem signifikanten Rückgang solcher Angriffe in Bagdad. Er wurde vom Guardian als der schwerste Angriff auf Bagdad seit der Erklärung des Sieges über den Islamischen Staat beschrieben. Beispiele für andere explosive Angriffe im Jahr 2