TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/7 W253 2140438-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.04.2020
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Entscheidungsdatum

07.04.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2140438-1/30E

Schriftliche Ausfertigung des am 10.12.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

Es wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 21.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am nächsten Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei am XXXX in Panjshir, Afghanistan geboren und habe acht Jahre in Herat die Grundschule besucht. Er sei gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern aus Afghanistan geflüchtet. In der Türkei sei der Beschwerdeführer von seiner Familie getrennt worden, weshalb er den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Familienangehörigen nicht kenne. Hinsichtlich seines Bruders XXXX (in Folge kurz "I.") vermute der Beschwerdeführer, dass sich dieser in einem Lager in Österreich aufhalte. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, in Afghanistan gebe es ständig Krieg und die Familienverhältnisse seien sehr schlecht.

3. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 14.03.2016 führte der Beschwerdeführer über seine bereits in der Erstbefragung getätigten Angaben hinausgehend aus, er sei ledig und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Mit den Einnahmen als Obstverkäufer habe der Beschwerdeführer seine Schulkosten beglichen. Zu seinen Familienangehörigen gab der Beschwerdeführer ergänzend an, sein Bruder I. sei nunmehr in Deutschland und seine Eltern sowie seine restlichen Geschwister würden sich im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Herat, aufhalten. Sein Vater sei bei der Armee und seine Mutter sei Hausfrau. Mit ihnen stehe der Beschwerdeführer alle zwei Wochen in Kontakt. Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, im Jahr 1393 (nach der gregorianischen Zeitrechnung: 2014) sei sein Bruder ungefähr vier bis fünf Tage entführt und anschließend gegen Lösegeld wieder freigelassen worden. Sechs Monate nach diesem Vorfall sei der Vater des Beschwerdeführers mit dem Bus des Verteidigungsministeriums auf dem Weg in die Arbeit gewesen, als es zu einem Selbstmordanschlag gekommen sei. Dabei seien drei Personen gestorben und die restlichen Insassen, darunter der Vater des Beschwerdeführers, verletzt worden. Zwei Tage später sei die Familie aus Afghanistan geflüchtet. Weiters habe sein Vater Drohanrufe von den Taliban erhalten. Zum Beweis seines Vorbringens legte der Beschwerdeführer diverse Bestätigungen sowie Lichtbilder vor.

4. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen und für den hier maßgeblichen Sachverhalt zu entnehmen, der Beschwerdeführer sei in Afghanistan keinen Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (in Folge kurz "GFK") ausgesetzt gewesen und solche seien auch zukünftig nicht zu erwarten. Bei der Entführung seines Bruders handle es sich weder um eine von einer staatlichen Behörde ausgehende noch um eine dem Herkunftsstaat zurechenbare Verfolgung, die von den staatlichen Einrichtungen geduldet würde. Vielmehr handle es sich um eine private Auseinandersetzung, deren Ursache auch nicht im Zusammenhang mit einem der in der GFK abschließend angeführten Verfolgungsgründe stehe, sondern aus anderen Beweggründen bestehe, insbesondere aus kriminellen Motiven.

Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der Verein Menschenrecht Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

5. Mit Schreiben vom 12.11.2016 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides und machte die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger Beweiswürdigung, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung geltend. Dabei führte er zusammengefasst aus, im Fall seiner Rückkehr befürchte er, als Familienmitglied eines Armeeangehörigen entführt oder sogar umgebracht zu werden. Laut den UNHCR-Richtlinien sei eine besonders sorgfältige Prüfung der möglichen Risiken unter anderem in Fällen von Familienmitgliedern von der Regierung nahestehenden Personen und insbesondere auch in Fällen von Kindern, deren Eltern Ziel von Bedrohungen durch regierungsfeindliche Kräfte seien, notwendig. Die Beweiswürdigung des bekämpften Bescheides sei allein schon deshalb in sich unschlüssig, weil bei grundsätzlicher Wahrunterstellung des Vorbringens des Beschwerdeführers behauptet werde, dass er keine aktuellen Fluchtgründe in Bezug auf Afghanistan vorgebracht habe. Dies sei jedoch aktenwidrig. Die Einschätzung der vom Beschwerdeführer geschilderten Vorfälle als solche rein krimineller Natur spare im Übrigen auch völlig aus, dass sein Vater wiederholt von den Taliban telefonisch bedroht und zur Zusammenarbeit aufgefordert worden und die wirtschaftliche Lage der Familie des Beschwerdeführers als "schlecht" bezeichnet worden sei. Der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer sein Schulgeld durch Obstverkäufe selbst verdienen habe müssen, spreche gegen eine rein kriminelle, bloß auf Lösegelderpressung gerichtete Entführung des Bruders. In der Rechtsprechung sei die Anerkennung des Familienverbandes als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ausdrücklich festgehalten worden. Im gegenständlichen Fall sei ein Kausalzusammenhang zwischen der dem Beschwerdeführer als Sohn eines Armeeangehörigen drohenden Verfolgung durch die Taliban und seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie gegeben. Weiters enthalte der Bescheid keine Feststellungen zur Sicherheitslage in Herat.

6. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 23.11.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Mit Eingabe vom 10.03.2017 wurden eine Mitteilung des Amtes der XXXX über die rechtliche Vertretung im Verfahren und diverse Integrationsunterlagen sowie ärztliche Unterlagen übermittelt.

8. Am 05.02.2018 langte eine Verständigung der Landespolizeidirektion XXXX ein, in welcher ausgeführt wurde, dass der Beschwerdeführer am XXXX .2018 von der Staatsanwaltschaft XXXX angezeigt worden sei. Es bestehe der Verdacht nach § 147 StGB.

9. Mit Eingabe vom 13.03.2019 übermittelte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen.

10. Am 02.10.2019 wurde die Vollmacht für den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, bekanntgegeben und weitere Integrationsunterlagen übermittelt.

11. Mit Stellungnahme vom 25.10.2019 übermittelte die Rechtsberaterin die Vollmacht für die Österreichische Caritaszentrale, Albrechtskreithgasse 19-21, 1160 Wien, und führte im Wesentlichen aus, aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation gehe klar hervor, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass der Vater des Beschwerdeführers für die afghanische Armee tätig sei, als "high profile" eingestuft werden müsse und ihm asylrelevante Verfolgung durch regierungsfeindliche Kräfte drohe und verwies auf mehrere Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts, deren ähnlich gelagerte Sachverhalte zugrunde liegen würden. Der Anknüpfungspunkt zu einem Konventionsgrund ergebe sich aus der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur sozialen Gruppe der Familie und der ihm, als Sohn seines Vaters von regierungsfeindlichen Kräften unterstellten missliebigen politischen und/oder religiösen Gesinnung, welche aus deren Sicht darauf beruhe, dass der Vater Mitglied des afghanischen Militärs sei.

12. Am 29.10.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin, seiner Vertrauensperson, eines Vertreters der belangten Behörde und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Weiters erfolgte die Einvernahme von drei Zeugen. Die Verhandlung wurde aufgrund der fortgeschrittenen Zeit vertagt.

13. Am 29.10.2019 langte vom Verein Menschenrechte Österreich die Mitteilung über die Niederlegung der Vollmacht ein.

14. Mit Stellungnahme vom 12.11.2019 brachte die Rechtsberaterin zur durchgeführten mündlichen Beschwerdeverhandlung zusammengefasst vor, es werde erneut darauf hingewiesen, dass die belangte Behörde das Vorbringen des Beschwerdeführers insgesamt als glaubwürdig festgestellt habe. Der Beschwerdeführer habe während des gesamten Verfahrens ein im Wesentliches gleichbleibendes und kohärentes Vorbringen erstattet und vermeintliche Unstimmigkeiten auflösen können. Hinsichtlich der Asylrelevanz des Vorbringens wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer falle unter das Risikoprofil der UNHCR-Richtlinien "Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen". Dass der Vater des Beschwerdeführers noch in Afghanistan aufhältig sei, widerspreche nicht der aktuellen Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers; er sei im militärischen Einsatz und es stehe ein Sicherheitsaufgebot zur Verfügung, auf das der Beschwerdeführer nicht zurückgreifen könne. Die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers hätten mittlerweile das Land verlassen müssen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe für den Beschwerdeführer nicht.

15. Am 10.12.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher das Beweisverfahren fortgesetzt wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Beschwerdeführervertreterin legte eine Stellungnahme vor, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, eine Rückkehrentscheidung des Beschwerdeführers sei in Hinblick darauf, dass er die einzige Bezugsperson für seinen minderjährigen Bruder sei, unzulässig. Es sei unklar, ob sich der Vater des Beschwerdeführers in Afghanistan befinde, zumal er für den Beschwerdeführer seit ungefähr drei Monaten nicht mehr erreichbar sei. Weiters wurde zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 Stellung genommen. Nach Schluss der Verhandlung verkündete der Richter das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11.12.2019 samt Hinweis auf die mündliche Verkündung übermittelt.

16. Am 12.12.2019 beantragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fristgerecht die Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 21.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 12.11.2016 fristgerecht Beschwerde, woraufhin am 29.10.2019 und 10.12.2019 vor dem Bundesverwaltungsgericht öffentliche mündliche Verhandlungen stattfanden und der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX in der Provinz Panjshir geboren. Der Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, ist sunnitischer Moslem und seine Muttersprache ist Dari.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seinen Eltern, vier Brüdern und drei Schwestern. Der Beschwerdeführer stand im August 2019 zuletzt in Kontakt mit seinen Familienangehörigen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers in Pakistan und sein Vater in Afghanistan aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat acht Jahre eine staatliche Schule besucht und nebenbei als Obstverkäufer gearbeitet. Bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan ungefähr Ende Juni 2015, die er gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern antrat, hat der Beschwerdeführer in einem an der Grenze zu Herat-Stadt gelegenen Ort im Distrikt XXXX (Provinz Herat) gelebt.

An der iranisch-türkischen Grenze sind der Beschwerdeführer und sein jüngerer Bruder I. von ihren restlichen Familienangehörigen, die von der iranischen Polizei aufgegriffen wurden, getrennt worden. Der ebengenannte Bruder des Beschwerdeführers lebt nunmehr als subsidiär Schutzberechtigter in Deutschland.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Vater des Beschwerdeführers ist für die afghanische Nationalarmee als Major tätig. Aufgrund dieser Tätigkeit wurde er bereits mehrfach von regierungsfeindlichen Gruppierungen bedroht; unter anderem kam es zu einem Angriff auf einen Bus der afghanischen Nationalarmee, mit welchem der Vater des Beschwerdeführers und seine Kollegen zur Arbeit befördert wurden. Ein Bruder des Beschwerdeführers wurde sechs Monate vor der Flucht der Familie von den Taliban entführt und erst gegen Lösegeld wieder freigelassen.

Dem Beschwerdeführer droht daher aufgrund einer ihm seitens der Taliban (wegen der Tätigkeit seines Vaters bei der afghanischen Nationalarmee) unterstellten politischen Überzeugung bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität.

1.4. Zur Situation im Herkunftsstaat:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 [in Folge auch als "LIB" bezeichnet], den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 [in Folge auch als "UNHCR-Richtlinien" bezeichnet], der EASO-Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019, die auf Grund der gerichtsnotorischen englischen Sprache im englischen Original verwendet wird, und dem Landinfo report Afghanistan vom 23.08.2017: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne):

1.4.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan (LIB Kapitel 3.):

1.4.1.1. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19 % im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen. Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten.

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5 %, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte.

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63 % Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7 % gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist.

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 sind 56 % (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7 % im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17 %. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44 % verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57 % mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018.

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge.

Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56 % auf 54 % der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. der Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15 % auf 12 %. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29 % auf 34 %. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5 % zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6 % der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39 % der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37 % von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20 % der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4 % der Distrikte.

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet.

1.4.1.2. Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41 % der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5 % bzw. 11 % bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24 % gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt.

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 High-Profile Angriffe (HPAs) in Kabul statt (Vorjahreswert: 73), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs.

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge.

1.4.1.3. In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

1.4.2. Zur Lage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Herat (LIB Kapitel 3.13.):

1.4.2.1. Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden. Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh, Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere "temporäre" Distrikte - Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko -, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden. Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt. Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans.

Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden. Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt.

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden. Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala. Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt.

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand.

1.4.2.2. Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban.

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul.

Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger.

Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen. Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt. Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt.

2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt.

Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird.

1.4.2.3. Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48 % gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen.

In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet. Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften. Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 und Januar 2019 Operationen in Shindand durch. Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat. Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch ist, sondern sich täglich ändert und sich in einer Pattsituation befindet. Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch. Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol.

Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder.

1.4.2.4. UNOCHA meldete für den Zeitraum 01.01. - 31.12.2018 609 konfliktbedingt aus der Provinz Herat vertriebene Personen, von denen die meisten in der Provinz selbst Zuflucht fanden. Im Zeitraum vom 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 586 aus der Provinz Herat vertriebene Personen. Im Zeitraum vom 01.01. - 31.12.2018 meldete UNOCHA 5.482 Vertriebene in die Provinz Herat, von denen die meisten (2.755) aus Ghor stammten. Im Zeitraum 01.01. - 30.06.2019 meldete UNOCHA 6.459 konfliktbedingt Vertriebene in die Provinz Herat, von denen die meisten (4.769) aus Badghis stammten.

1.4.3. Religionsfreiheit (LIB Kapitel 16.):

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus; in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben.

1.4.4. Tadschiken (LIB Kapitel 17.2.):

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30 % der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit.

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Aus historischer Perspektive identifizierten sich dari-persisch sprechende Personen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa durch das Siedlungsgebiet oder der Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Panjsher) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete ursprünglich traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Heute werden unter dem Terminus tajik "Tadschike" fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst¿.

Tadschiken dominierten die "Nordallianz", eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominierendste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

1.4.5. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:

"[...] A. Potenzielle Risikoprofile

[...]

k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen

Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den oben angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere wurden Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Mitgliedern der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen."

1.4.6. Auszug aus der EASO-Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019 (sinngemäße Übersetzung aus dem Englischen; S. 49):

Mitglieder der Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Kräfte

[...] Es ist zu beachten, dass auch Familienangehörige von Sicherheitskräften von Aufständischen ins Visier genommen werden. Darüber hinaus werden Familienangehörige oft unter Druck gesetzt, um ihre Angehörigen davon zu überzeugen, ihre Position bei den Sicherheitskräften aufzugeben. Es gibt auch Berichte über ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF), die nach ihrem Ausscheiden aus dem ANSF ins Visier genommen wurden. [...] Auch Familienangehörige einiger Personen dieses Profils könnten dem Risiko einer Behandlung ausgesetzt sein, die einer Verfolgung gleichkommt. [...] Aus den verfügbaren Informationen geht hervor, dass die Verfolgung dieses Profils aus Gründen der (unterstellten) politischen Überzeugung erfolgt. [...]"

1.4.7. Auszug aus der Arbeitsübersetzung des Landinfo report Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne:

"[...]

ZUSAMMENFASSUNG

Die Strukturen der Nachrichtendienste der Taliban sind im Laufe der Zeit entstanden und wurden dabei zunehmend ausgefeilter. Trotz der Bemühungen, die nachrichtendienstliche Tätigkeit über die verschiedenen Taliban-Shuras hinweg zu koordinieren und zu synchronisieren, wirkte sich die interne Aufspaltung der Taliban auf deren Funktionsweise aus. Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban ist mittlerweile ziemlich flächendeckend, aber die Qualität der Informationen, die die Taliban-Führung erreichen, ist nicht immer die beste. Es zählt zu den Hauptaufgaben dieser Dienste, die Einschüchterungskampagne der Taliban gegen ?Kollaborateure' der Kabuler Regierung und gegen andere Feinde der Taliban zu ermöglichen. Der Taliban-Führung scheint daran gelegen zu sein, willkürliche Gewaltanwendung möglichst zu vermeiden und sich nach klar definierten Regeln ausschließlich auf Personen zu konzentrieren, die eindeutig Taliban-Gegner sind. Zwar werden die Regeln nicht immer eingehalten, aber die Führung scheint sich redlich darum zu bemühen.

[...]

IDENTIFIZIERUNG VON ZIELPERSONEN ZUR EINSCHÜCHTERUNG UND TÖTUNG

Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Die Taliban-Interviewpartner beschrieben die Aufgaben der Nachrichtendienste wie folgt: Tätigkeit für alle Bereiche der Taliban-Bewegung, Grundlagen für künftige Operationen legen und Gefahren seitens des Feindes abwehren, u.a. durch die Entlarvung feindlicher Informanten. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich daneben benehmen, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach ?fehlverhalten':

a) Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; dazu gehören beispielsweise

a. Prof. Rabbani;

b. der starke Mann von Uruzgan, Jan Mohammad:

c. Gen. Daud.

b) Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;

c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;

d) Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

e) Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;

f) Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;

g) Kollaborateure des ausländischen Militärs - praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;

h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung;

i) Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;

j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;

k) Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.

Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).

Anschläge gegen die genannten Personengruppen gibt es seit den Anfängen des Aufstandes (2002). In der Tat war die Ermordung einzelner ?Kollaborateure' 2002-2004, als ihr militärisches Potenzial noch schwach war, die wesentliche Aktivität der Taliban. 2005-2007 begannen die Taliban großangelegte militärische Operationen und die gezielten Morde verloren etwas an Bedeutung. Ab 2007 mussten die Taliban vermehrt Einschüchterungstaktiken anwenden, als sie dem vermehrten militärischen Druck durch die ausländischen Streitkräfte (ISAF) ausgesetzt waren. Eine asymmetrische Taktik sollte die Konsolidierung der Kabuler Regierung verzögern bzw. verhindern.

Mit dem Abzug eines Großteils der ausländischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2014 verschoben sich die Prioritäten für die Taliban wiederum. 2014, als die ausländischen Kräfte kaum noch an den Kampfhandlungen teilnahmen, zeigten die Unterlagen der UNAMA über die zivilen Opfer von gezielten Ermordungen durch die Taliban einen leichten Rückgang um 3,6%, dies war der erste Rückgang seit Beginn der Erhebungen durch die UNAMA 2008. 2015 schnellte die Zahl dann wieder um 10,4% nach oben, 2016 fiel sie stärker als jemals zuvor, um 27,3% (Tabelle 1 unten). Da die Taliban nach übereinstimmenden Berichten zu diesem Zeitpunkt ihre Operationen ausweiteten und weite Gebiete unter ihre Kontrolle brachten, ist dieser Rückgang sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass sie dazu weniger in der Lage gewesen wären, sondern vielmehr auf einen anderen Fokus und eine Änderung der Strategie: man war weniger daran interessiert, die afghanische Regierung zu unterminieren, als daran, sie direkt zu stürzen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass viele der ?Kollaborateure', die sich schutzlos fühlten, aus diesen gefährdeten Gebieten flohen und die Taliban somit keine leichten Ziele mehr hatten.

Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich ?fehlverhalten' die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer ?Verurteilung' durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen 'feindseligen' Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.

b) Regierungsmitarbeiter und Mitarbeiter westlicher Regierungen: Sie können einer Warnung oder Verurteilung vor Erhalt des letzten Drohbriefes entgehen, wenn sie Abgaben zahlen, Informationen liefern und ihre Kollegen für die Taliban ausspionieren, um deren Aktionen gegen die eigenen Arbeitgeber zu unterstützen oder zur Verbesserung der Organisation der Taliban beizutragen. Bekannte Einzelfälle sind:

I. Personal im Bildungswesen: können arbeiten, wenn ihre Bildungsbehörde oder Schule eine Vereinbarung mit den Taliban schließt, die Lehrpläne und Schulbücher ändert, für religiöse Fächer von den Taliban empfohlene Lehrer einstellt und den Taliban die Überwachung der Schule gestattet.

II. Personal im Gesundheitswesen: darf arbeiten, wenn es sich bereit erklärt, verletzte Taliban-Mitglieder zu behandeln.

c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges: wie

b) oben, sie haben aber auch die Option, zu den Taliban überzulaufen und Absichtserklärungen mit den Taliban zu unterzeichnen (als gesamte Einheit), in denen eine im gemeinsamen Interesse liegende Gegenleistung angeboten wird.

f) Kollaborateure der afghanischen Regierung: wie b) oben

g) Kollaborateure des ausländischen Militärs und im militärischen Zusammenhang stehende Unterstützungsleistungen, einschließlich der Mitarbeiter in den Unterkünften: wie b) oben

h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung: wie b) oben

i) Auftragnehmer, die für talibanfeindliche Länder tätig sind: wie b) oben

j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten: wie b) oben

Die Taliban nennen als ihre wichtigsten Zielpersonen die Offiziere der nationalen Sicherheitsdienste (NDS), Dolmetscher bzw. alle, die für das/mit dem ausländischen Militär und Diplomaten arbeiten. So behaupten die Taliban beispielsweise, dass sie 2015 15 Dolmetscher in Kabul und den umliegenden Vororten getötet hätten und im Jahr 2016 bis Anfang Dezember 23; es bleibt unklar, ob die Taliban ihre Opfer auch zu Recht als Dolmetscher identifiziert haben. Die Taliban bauschen ihre Erfolge sicherlich auf, indem sie unzutreffende Opferzahlen angeben (insbesondere, wenn Bomben eingesetzt werden). Die meisten Angriffe fanden in den Vororten statt (2016 waren es 17). Die Taliban nehmen natürlich auch Ausländer ins Visier, insbesondere, wenn sie irgendwie an der Bekämpfung des Aufstandes beteiligt sind.

Überall, wo die Taliban vertreten sind, zielten sie von vorne herein insbesondere auf die Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte ab, die sich weigern, den Dienst zu quittieren. Sie übten Druck auf deren Familien aus, um deren Ausscheiden zu erzwingen und drohten Bestrafung an, wenn ihrer Forderung nicht Folge geleistet würde. In einigen Fällen sind sie sogar soweit gegangen, Verwandte hinzurichten. Zumeist waren diese Sicherheitskräfte und ihre Familien schließlich gezwungen, in sicherere, von der Regierung kontrollierte Gebiete umzusiedeln, obwohl die Taliban ihre Ziele teilweise auch dort heimsuchen. Andere, die es sich leisten können, scheiden aus und im Laufe der Jahre sind hunderte hingerichtet worden. Selbst diejenigen, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden.

Allerdings gibt es auch Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln zur Verfolgung von Zielpersonen. Die Mashhad Shura misst den Regierungskollaborateuren nur geringe Priorität zu, stattdessen konzentriert sie sich auf die Kollaborateure mit westlichen Regierungen, mit Daesh und auf Gegenspione sowie auf westliche Staatsangehörige. Die Rasool Shura kooperiert häufig taktisch mit den Sicherheitskräften der afghanischen Regierung und verfolgt die Regierungsmitarbeiter überhaupt nicht. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Jagd nach Eindringlingen von anderen Taliban-Gruppen. Ob aktive Angehörige der Sicherheitskräfte verfolgt werden, hängt auch von taktischen Erwägungen ab: die Mashhad Shura tut dies seit 2015 nicht mehr und in bestimmten Gebieten, in die sie erst kürzlich vorgedrungen sind, fahren die Taliban einen sanfteren Kurs, sie wirken auf die Familien ein, ihre Söhne aus den Sicherheitskräften herauszuholen, jedoch ohne Gewaltandrohung. Somit hängt das Maß der tatsächlichen proaktiven Verfolgung von Angehörigen der Sicherheitskräfte durch die Taliban von taktischen Erwägungen ab.

Ende 2016 gaben Taliban-Quellen an, dass fast 15.000 Personen auf ihrer nationalen schwarzen Liste stünden. Das lässt vermuten, dass die Taliban keinen Zugang zu den staatlichen Datenbanken über das Sicherheitspersonal oder Regierungsmitarbeiter haben, ansonsten wäre die Zahl wesentlich höher. Dies ist nicht überraschend, denn die Regierung selbst ist kaum in der Lage zuverlässig anzugeben, wer den Sicherheitskräften angehört bzw. für die Regierung arbeitet. Im Anfangsstadium des Krieges war es durchaus üblich, dass die Taliban Polizisten und Soldaten an Straßensperren abfingen, wenn sie im Urlaub waren und ihre Ausweise dabei hatten. Sehr schnell wurde es immer schwieriger, jemanden zu fangen, der dumm genug war, seinen Ausweis mit sich zu führen.

Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein ?Übeltäter' ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist.

Gezielte Tötungen können relativ einfach gezählt werden und haben eindeutig im Laufe der Jahre als Rache für die ?Nachtangriffe' der ISAF dramatisch zugenommen, sie richteten sich zunehmend gegen Zivilisten [...]. Es gibt keine UN-Daten über gezielte Morde vor 2008, es ist jedoch offensichtlich, dass die Taliban solche Morde auch schon 2004, möglicherweise noch früher, verübten, wenngleich in relativ geringem Ausmaß. Schon 2006 berichtete USAID, dass ihre Mitarbeiter seit drei Jahren in der Schusslinie stünden und sie ca. 100 Mitarbeiter verloren hätten. Die Morde an regierungstreuen Geistlichen begannen im Sommer 2005 im Süden. In Ermangelung genauer Zahlen für frühere Jahre lässt sich nur schwer abschätzen, was die Zahl von 2008 für die Tendenz der Ermordungen durch die Taliban aussagt, aber die Zahl der zivilen Opfer der Taliban stieg in diesem Jahr insgesamt um über die Hälfte, daher wäre die Vermutung naheliegend, dass auch die Zahl der gezielten Morde deutlich zugenommen hat. Es ist zu beachten, dass die UNAMA-Zahlen nur die zivilen Opfer gezielter Morde beinhalten, nicht aber Polizisten oder Armeeangehörige, obwohl diese die wichtigste Zielgruppe der Taliban sind. ISAF-Quellen schätzen, dass im Zeitraum März bis September 2011 von den 190 der von ihnen erfassten gezielten Morde, 50 afghanische Sicherheitskräfte betrafen, 32 Regierungsmitarbeiter und die Übrigen Personen, die nicht für die Regierung tätig waren: somit machten Sicherheitskräfte grob ein Viertel aller gezielten Morde aus.

Auf dieser Grundlage kann man schätzen, dass die Gesamtzahl der gezielten Morde bis 2015-16 fast 1.000 pro Jahr betrug. Die Taliban selbst behaupten, dass sie 2015 1.633 Personen bestraft hätten und über 2.000 im Jahr 2016. Diese Zahlen beinhalten Amputationen, körperliche Strafen und Verletzungen.31 Berücksichtigt man fehlgeschlagene Angriffe und willkürliche Tötungen (aus der Sicht der Taliban sind dies ?nicht autorisierte Angriffe'), kann man schätzen, dass die Taliban jedes Jahr mindestens 15-20% der Personen auf ihrer schwarzen Liste angreifen.

DIE REGELN DER TALIBAN

Genauso wie Selbstmordattentate und Minen waren auch die gezielten Morde an Zivilisten bei den Taliban umstritten, denn einige waren dagegen, gegen Lehrer, Ärzte, Ingenieure etc. vorzugehen. Obwohl ehemalige Taliban oft wehmütig der mythischen ersten Jahre des Aufstandes gedenken, einer Zeit in der Zurückhaltung und Rechtsstaatlichkeit bei den Taliban herrschte und die endete als die alten Führer einer nach dem anderen getötet oder verhaftet wurden, waren die gezielten Tötungen 2005-2010 im Süden Afghanistans am intensivsten, obwohl die Taliban damals eine wesentlich kleinere Gruppe waren. Die gezielten Tötungen waren in Kandahar besonders schlimm als Hunderte von Ältesten umgebracht wurden. Nach einer ersten Welle der Gewalt, kam es nur noch relativ selten zu willkürlichen Tötungen von Spionageverdächtigen und Regierungskollaborateuren, da sich nur wenige Dorfbewohner trauten, den Taliban entgegenzutreten. Viele Älteste hatten Schwierigkeiten, sich an spezielle Gewaltakte ab 2014-16 zu erinnern.

In dem Maße, in dem das System der Taliban Gestalt annahm und ihre Verhaltenskodizes ausgefeilter wurden, wurden auch Regeln eingeführt, die vorschrieben, dass die Taliban Kollaborateure mindestens zweimal warnen mussten, bevor sie gegen sie vorgingen. Dieses Verfahren galt wohl ab 2009 oder 2010. Von der Regel ausgenommen sind lediglich ?schlimme Kriminelle', wie führende Persönlichkeiten in der Regierung. Daher gilt folgendes Verfahren für das Vorgehen gegen einen bestimmten Kollaborateur:

1. Person identifizieren;

2. Kontaktdaten herausfinden (Adresse oder Telefonnummer);

3. Person mindestens zweimal warnen;

4. verhören und vor Taliban-Gerichte stellen;

5. Person auf die schwarze Liste setzen, wenn sie sich weigert, den Anordnungen der Taliban Folge zu leisten;

6. Günstige Gelegenheit abwarten, um zuzuschlagen.

Teil 4 wird ausgesetzt, wenn die Umstände Verhöre oder Inhaftierung nicht zulassen. So können die Taliban zum Beispiel in der Stadt Kabul normalerweise keine Verdächtigen oder Täter festnehmen, daher gibt es die beiden Alternativen, die Verdächtigen zu überwachen, bis sie Kabul verlassen und sie dann festzunehmen (die Taliban behaupten, 2015/16 350 solcher Festnahmen durchgeführt zu haben) oder die Mordkommandos zum Einsatz zu bringen, ohne den Umweg über ein Gerichtsverfahren.

Die praktische Durchführung von Abschnitt 6 (s.o.) hängt normalerweise von den Fähigkeiten des lokalen Verfolgungsteams ab, dessen Arbeitsauslastung und dem mit der Vollstreckung des ?Urteils' verbundenen Risiko. Eine geschützte Zielperson bzw. eine in einem Gebiet, das von den Behörden stark bewacht wird, könnte zwar für die Taliban wichtig sein, bei ihrer Liquidierung bestünde aber andererseits auch ein hohes Risiko, dass das Mordkommando die Operation nicht überlebt. Eine weniger wichtige Zielperson, die in einem leicht zugänglichen Gebiet mit guten Fluchtmöglichkeiten wohnt, könnte von den Taliban eher liquidiert werden, als eine bedeutendere, die besser geschützt ist. Die Nachrichtendienste der Taliban geben ihre Listen der Verdächtigen an die Militär-Kommission (im Falle der Quetta Shura, an den Schattengouverneur; im Falle der Miran Shah Shura an den Provinzverteter des Haqqani-Netzes) weiter, die dann darüber entscheidet, welche von diesen Personen auf die schwarze Liste gesetzt werden. Jeder nachrichtendienstliche Abteilung in den Provinzen ist ein Team (Istakhbarati Karwan) zugeordnet, das in Absprache mit der Militär-Kommission Kollaborateure verfolgt. In den meisten Provinzen besteht das Team aus 20 Mitgliedern, ist aber an Orten wie Kabul größer. Die meisten Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verfolgung einer Zielperson werden von den Karwan ausgeführt, weitere Gefahr droht ihnen jedoch durch die Kontrollstellen der Taliban und deren Patrouillen in den Dörfern, die jeweils über Auszüge der Liste der Zielpersonen verfügen.

Obwohl die politische Führung der Taliban anscheinend großen Wert auf die von ihr eingeführten Regeln legt und will, dass sie eingehalten werden, geben die meisten Taliban zu, dass es immer noch willkürliche Hinrichtungen gibt. Gelegentlich nehmen die Taliban Hinrichtungen aus Wut wegen Luft- und Nachtangriffen auf sie vor. Da er nichts dagegen unternehmen kann, könnte ein Taliban-Kommandant einige der Dorfbewohner zu Sündenböcken machen, insbesondere, wenn man sie sowieso schon in Verdacht hatte, den Taliban gegenüber nicht loyal zu sein. Außerdem leidet die Informationsbeschaffung der Taliban, genau wie die ihrer Gegner - der afghanischen Regierung und der ISAF - unter Falschinformationen, die durch Fehden oder Vendetten motiviert sind.

Gelegentlich werden auch Familienangehörige zu Zielpersonen; es scheint, dass die Taliban diese Aktionen eingeschränkt haben, nachdem die Polizei und die Miliz als Vergeltungsmaßnahme die Familienangehörigen der Taliban verfolgten. Zumindest teilweise hat das Justizsystem der Taliban den Zweck, deutlich zu machen, dass ihre Bewegung einen Schattenstaat darstellt. Es liegt den Taliban daher viel daran, die Kontinuität zwischen der aktuellen Bewegung von Aufständischen und dem Taliban-Emirat von 1996-2001 zu betonen; tatsächlich bezeichnen sich die Taliban selbst immer noch als das Islamische Emirat Afghanistan. Daher gelten alle Urteil, die die Taliban für jegliches Verbrechen einmal gesprochen haben, immer noch weiter, einschließlich derer, die vor dem Fall des Emirates ergingen. Tatsächlich befinden sich, laut

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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