TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/8 W228 2168618-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.04.2020
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Entscheidungsdatum

08.04.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §3 Abs5
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W228 2168618-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Einzelrichter in der Beschwerdesache des XXXX , geboren am XXXX .1999, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, hat sein Heimatland verlassen, ist illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am 29.07.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.07.2016 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass sein Bruder für die afghanische Regierung gearbeitet habe. Aus diesem Grund sei die Familie des Beschwerdeführers von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. Der Beschwerdeführer wisse nicht, wo sich seine Familie nunmehr aufhalte.

Der Beschwerdeführer wurde am 04.08.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er aus der Provinz Kapisa stamme und bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan in seinem Heimatdorf gelebt habe. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass die Taliban, nachdem sie erfahren hätten, dass der Bruder des Beschwerdeführers als Soldat für die Regierung arbeite, zur Familie des Beschwerdeführers gekommen seien und den Vater des Beschwerdeführers mitgenommen hätten. Sie hätten gefordert, dass der Bruder des Beschwerdeführers aufhöre, für die Regierung zu arbeiten und sich stattdessen ihnen anschließe. Die Taliban hätten den Vater des Beschwerdeführers schließlich am selben Nachmittag wieder freigelassen. Jener habe erzählt, dass er von den Taliban verprügelt worden sei und sie seinen Kopf unter Wasser getaucht hätten, damit er zugebe, dass der Bruder des Beschwerdeführers für die Regierung arbeite. Der Vater des Beschwerdeführers habe schließlich den Bruder des Beschwerdeführers angerufen und sei der Bruder des Beschwerdeführers in der Folge zu seiner Familie nachhause gekommen. Drei Tage später seien die Taliban wieder gekommen. Sie hätten gefordert, dass sich der Beschwerdeführer und sein Bruder ihnen anschließen würden, andernfalls würden sie getötet werden. Noch in derselben Nacht seien der Beschwerdeführer und sein Bruder ausgereist.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 07.08.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs.1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Fluchtgrund, zur Situation im Falle seiner Rückkehr und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es habe keine glaubhafte Gefährdungslage festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft machen können. Dem Beschwerdeführer könne eine Rückkehr nach Afghanistan zugemutet werden.

Gegen verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheid wurde mit Schreiben der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 22.08.2017 Beschwerde erhoben. Darin wurde das vom Beschwerdeführer erstattete Vorbringen wiederholt und wurde ausgeführt, dass sich die Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers auf alle Familienmitglieder auswirke und auf diese projiziert werde. Der Beschwerdeführer wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgungsgefahr durch die Taliban ausgesetzt. Die Zwangsrekrutierungspraxis der Taliban sei stark verbreitet und betreffe insbesondere junge Männer im Alter des Beschwerdeführers. Zudem drohe dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr Verfolgungsgefahr aufgrund seiner westlichen Orientierung.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 24.08.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

In einer Beschwerdeergänzung vom 04.11.2019 wurde ausgeführt, dass es dem Beschwerdeführer mittlerweile gelungen sei, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Ein Bruder des Beschwerdeführers sei in der Türkei, seine Eltern und weitere Geschwister seien im Iran. In weiterer Folge wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde eine mangelhafte Beweiswürdigung vorgenommen habe und wurde auf diverse Berichte zur Situation in Afghanistan verwiesen. Abschließend wurden Ausführungen zur Integration des Beschwerdeführers in Österreich getätigt.

Am 05.11.2019 wurden diverse Integrationsunterlagen betreffend den Beschwerdeführer an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 07.11.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers durchgeführt. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Erkenntnis vom 03.12.2019, W228 2168618-1/11E, die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 25.02.2020, E 4682/2019-10, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.12.2019, W228 2168618-1/11E, aufgehoben, zumal der Beschwerdeführer durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, geboren XXXX .1999. Er wurde in der Provinz Kapisa, Distrikt Tagab, geboren und hat bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit seiner Familie in seinem Heimatdorf in der Provinz Kapisa gelebt.

Der Beschwerdeführer hat in seinem Heimatdorf vier Jahre lang die Schule besucht.

Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt nunmehr in der Türkei. Die Eltern, die weiteren Geschwister sowie ein Cousin des Beschwerdeführers leben im Iran. Der Beschwerdeführer hat keine Angehörigen in Afghanistan.

Der Beschwerdeführer ist volljährig und ledig. Er ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer ist Paschtune und spricht Paschtu.

Der Beschwerdeführer ist sunnitischer Moslem, praktiziert jedoch seinen Glauben nicht und nimmt in Österreich keine religiösen Praktiken i.S.d. Islam vor, insbesondere betet oder fastet er nicht und besucht keine Moschee.

Der Beschwerdeführer ist illegal spätestens am 29.07.2016 in das Bundesgebiet eingereist. Es halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich auf. Der Beschwerdeführer hat eine Freundin in Österreich. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

Der Bruder des Beschwerdeführers war als Offizier beim afghanischen Militär tätig. Aufgrund der Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers für die afghanische Regierung haben die Taliban den Vater des Beschwerdeführers mitgenommen, jedoch nach einem halben Tag wieder freigelassen. Einige Tage später sind die Taliban erneut bei der Familie des Beschwerdeführers aufgetaucht und haben den Beschwerdeführer und seinen Bruder aufgefordert, mit ihnen zusammenzuarbeiten, andernfalls würden sie den Beschwerdeführer und seinen Bruder töten.

Der Beschwerdeführer war in seinem Heimatdorf in der Provinz Kapisa Rekrutierungsversuchen der Taliban ausgesetzt und hat kurz darauf aufgrund dessen seine Heimat verlassen.

Der Beschwerdeführer befürchtet, im Fall seiner Rückkehr aufgrund seiner Weigerung, für die Taliban tätig zu werden, und seiner dadurch zum Ausdruck kommenden (unterstellten) politischen Gesinnung von den Taliban getötet zu werden.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der Beschwerdeführer in Gefahr, aufgrund seiner (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Diese Bedrohung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

Zur Situation im Herkunftsland Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

Kapisa:

Die Provinz Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans, umgeben von den Provinzen Panjshir im Norden, Laghman im Osten, Kabul im Süden und Parwan im Westen. Kapisa ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Alasai, Hissa-e-Awali Kohistan, Hissa-e-Duwumi Kohistan, Koh Band, Mahmood Raqi, Nijrab und Tagab. Mahmood Raqi ist die Provinzhauptstadt von Kapisa.

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Kapisa für den Zeitraum 2019-20 auf 479.875 Personen. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben.

Eine Hauptstraße verbindet die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi mit Kabul.

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Kapisa 2018 nicht zu den zehn wichtigsten afghanischen Provinzen, die Schlafmohn anbauen. Die Größe der Anbaufläche verringerte sich 2018 im Vergleich zu 2017 um 60%. Schlafmohn wurde hauptsächlich in den Distrikten Tagab und Alasai angebaut.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Kapisa hat strategische Bedeutung: für Aufständische ist es einfach, die Provinzhauptstadt von Kapisa und die benachbarten Provinzen zu erreichen. Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen; wie z.B. im zentral gelegenen Distrikt Nijrab. Im März 2019 konnten sie beispielsweise drei Dörfer - Afghania, Pachaghan und Ghin Dara - in Kapisa erobern.

Aufseiten der Regierungskräfte liegt Kapisa in der Verantwortung des 201. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 139 zivile Opfer (39 Tote und 100 Verletzte) in Kapisa. Dies entspricht einer Zunahme von 38% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge).

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Auch werden Luftangriffe ausgeführt - in manchen Fällen werden dabei auch hochrangige Taliban getötet oder Dörfer von den Taliban zurück erobert. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften.

IDPs - Binnenvertriebene

UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 7.560 konfliktbedingt aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst, sowie in den benachbarten Provinzen Kabul und Parwan Zuflucht fanden. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 1.617 aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die vor allem nach Kabul (973) kamen oder in Kapisa verblieben. Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 5.789 Vertriebene in die Provinz Kapisa, die vor allem aus der Provinz selbst (5.600) und aus benachbarten Provinzen stammten. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 539 konfliktbedingt Vertriebene in die Provinz Kapisa, die alle aus dem Distrikt Nijrab stammten.

2. Beweiswürdigung:

Hinsichtlich der Herkunft, der Volksgruppenzugehörigkeit und seinen Lebensumständen in Afghanistan stützt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die Angaben des Beschwerdeführers.

Die Feststellungen hinsichtlich der Gründe des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom Beschwerdeführer vor dem BFA und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht getätigten Ausführungen.

Der Beschwerdeführer führte im Verfahren vor der belangten Behörde und in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gleichlautend aus, dass die Taliban ihn und seinen Bruder mit dem Tod bedroht hätten, für den Fall, dass sie nicht mit ihnen zusammenarbeiten würden. Der Beschwerdeführer lässt bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Weiters sind auch die Angaben des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan plausibel und nachvollziehbar.

Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers war zudem auch der Umstand, dass er sein Fluchtvorbringen umfangreich, schlüssig und detailliert schildern konnte. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies - abgesehen von kleinen Details - keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses als glaubwürdig erachtet. Der Beschwerdeführer legte nachvollziehbar dar, dass er von den Taliban aufgefordert wurde, sich ihnen anzuschließen und für den Fall, dass er dies nicht mache, mit dem Tod bedroht wurde.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich seiner Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner (unterstellten) politischen Einstellung in Opposition zu den Taliban war in ganzheitlicher Würdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, gerade unter Berücksichtigung der diesbezüglich vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage in Afghanistan, insbesondere in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, insgesamt als glaubhaft zu beurteilen. So war das Vorbringen des Beschwerdeführers zur möglichen Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ausreichend substantiiert, umfassend, in sich schlüssig und im Hinblick auf die besonderen Umstände des Beschwerdeführers und die allgemeine Situation in Afghanistan plausibel.

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aufgrund des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 13.11.2019) dem EASO-Bericht "Afghanistan Security Situation - Update" vom Mai 2018 und der UNHCR-RL vom 30.08.2018.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (Z 1) der der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder (Z 2) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Letztere Variante traf unter Berücksichtigung der in ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG vertretenen Ansicht über den prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auf die gegenständliche Konstellation zu (vgl. dazu etwa VwGH 28.07.2016, Zl. Ra 2015/01/0123).

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Begründete Furcht liegt vor, wenn diese objektiv nachvollziehbar ist und sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation ebenfalls aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Relevant ist eine Verfolgungsgefahr auch nur dann, wenn diese aktuell ist (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der "hierzu geeigneten Beweismittel", insbesondere des diesen Feststellungen zugrunde liegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus einem in der GFK genannten Grund verfolgt zu werden, ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts begründet:

Der Beschwerdeführer ist in das Blickfeld der Taliban geraten, um zwangsrekrutiert zu werden. Da er sich deren Ansinnen widersetzt hat, wird er als politischer bzw. religiöser Gegner gesehen (vgl. dazu auch VwGH 10.9.2014, Ra 2014/20/0049 m.w.N). Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan der erheblichen Gefahr ausgesetzt wäre, von den Taliban verfolgt und getötet zu werden, weil er sich weigerte, der Aufforderung der Taliban, mit ihnen gegen die Regierung zu kämpfen, nachzukommen.

Aufgrund der in der Weigerung des Beschwerdeführers, sich den Taliban im Kampf gegen die Regierung anzuschließen, zum Ausdruck kommenden bzw. dem Beschwerdeführer von den Taliban unterstellten, gegen ihre Interessen gerichteten, politischen Einstellung hat der Beschwerdeführer das reale Risiko einer hinreichend intensiven Verfolgung in Afghanistan durch die Taliban zu gewärtigen.

Dass die mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Eingriffe nicht direkt von staatlicher, sondern von dritter Seite - nämlich von Seiten der Taliban - drohen bzw. dass diese von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet werden, ist nicht von entscheidender Bedeutung. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; VwGH 14.05.2002, 2001/01/0140; siehe weiters VwGH 24.05.2005, 2004/01/0576 sowie VwGH 26.02.2002, 99/20/0509).

Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat ist für den Beschwerdeführer schon deswegen auszuschließen, weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Afghanistan kein ausreichend funktionierender Polizei- oder Justizapparat bestehen und auch nach den Länderberichten davon auszugehen ist, dass der Staat keine hinreichenden Vorkehrungen zu treffen vermag um dem Beschwerdeführer in seiner Situation Schutz zu gewähren.

Somit würde der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer ihm von den Taliban zugeschriebenen oppositionellen politischen bzw. religiösen Gesinnung verfolgt werden und befindet er sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen seiner politischen Überzeugung eines Gegners der Taliban verfolgt zu werden, außerhalb Afghanistans und ist im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.

Im gesamten Beschwerdeverfahren ist - schon angesichts des landesweiten Netzes der Taliban (siehe die für gegenständlichen Fall bindenden Ausführungen der VfGH Entscheidung vom 25.02.2020 betreffend UNHCR Richtlinien S. 120f) - nicht hervorgekommen, dass dem Beschwerdeführer insoweit eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stünde, als er in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher wäre. Dies ergibt sich auch aus den jüngsten Länderberichten wonach sich zuletzt die Aktivitäten der Taliban auch in den als sicher erkannten Provinzen häufen. Da sich der Beschwerdeführer der Kontrolle durch die Taliban durch seine Flucht entzog hat, ist davon auszugehen, dass er auch in solchen Landesteilen, die nicht unter Kontrolle der Taliban stehen, verfolgt würde. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan mehr verfügt und deswegen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass er ohne soziales Netz nicht nur in eine aussichtslose - seine Existenzgrundlage gefährdende - Lage gerät, sondern seinen Verfolgern noch schutzloser gegenüberstünde als eine in den Familienverbund eingegliederte Person.

Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, war dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs.1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG) hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs.4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren begründete Furcht vor Verfolgung Ersatzentscheidung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative politische Gesinnung unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W228.2168618.1.00

Im RIS seit

23.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.10.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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