TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/15 W250 2182026-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.04.2020
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Entscheidungsdatum

15.04.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W250 2181884-1/16E

W250 2182026-1/18E

W250 2182021-1/22E

W250 2182023-1/16E

W250 2182019-1/16E

W250 2221268-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX , 5.) mj. XXXX , geb. XXXX , und 6.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan und vertreten durch die österreichische Caritaszentrale, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu 1.) vom 22.11.2017 Zl. XXXX , 2.) vom 22.11.2017 Zl. XXXX , 3.) vom 22.11.2017 Zl. XXXX , 4.) vom 22.11.2017 Zl. XXXX , 5.) vom 22.11.2017 Zl. XXXX und 6.) vom 25.06.2019 Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

XXXX , XXXX und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer sind alle Staatsangehörige Afghanistans. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind die leiblichen Kinder des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Die Drittbeschwerdeführerin ist die Mutter des Sechstbeschwerdeführers.

2. Der Erstbeschwerdeführer reiste gemeinsam mit den minderjährigen Viert- und Fünftbeschwerdeführern in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.07.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

Am selben Tag fand die niederschriftliche Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Er gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass er nach seiner Ausreise aus Afghanistan zwei Jahre in Pakistan gelebt habe, wo eine seiner Töchter vermutlich von einem Familienangehörigen entführt worden sei. Er wisse weder, wer sie entführt habe noch wo sich seine Tochter aufhalte. Daraufhin sei er mit seiner Familie in den Iran gezogen, wo sie ca. die letzten drei Jahre gelebt hätten. Den Iran habe er wegen familiärer Probleme gemeinsam mit seinen zwei jüngsten Kindern (Viert- und Fünftbeschwerdeführer) verlassen. Seine Frau (Zweitbeschwerdeführerin) und seine ältere Tochter (Drittbeschwerdeführerin) seien nach wie vor im Iran. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er keine Überlebenschance zu haben, weil ihm und seinen Kindern etwas zustoßen könnte.

3. Die zu diesem Zeitpunkt minderjährige Drittbeschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die niederschriftliche Erstbefragung der Drittbeschwerdeführerin fand am 09.11.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie den Iran verlassen habe, weil sie dort illegal gelebt habe und ihr die iranischen Behörden keine Dokumente ausgestellt hätten. Sie habe nicht weiter zur Schule gehen können. Ihre Mutter habe sie schließlich nach Österreich zu ihrem Vater und ihren beiden Geschwistern geschickt um eine bessere Zukunft zu haben.

4. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste im Zuge einer Überstellung aus Griechenland gemäß den Bestimmungen der Dublin-III-VO in das Bundesgebiet ein und stellte hier am 01.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 02.12.2016 fand die niederschriftliche Erstbefragung der Zweitbeschwerdeführerin vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass in Afghanistan seit vielen Jahren mit den Taliban und dem IS Krieg herrsche. Ihr Mann sei schiitischer Moslem, sie hingegen sunnitische Muslima, weshalb ihre Familien verfeindet gewesen seien und sie schließlich fliehen hätten müssen. Im Falle der Rückkehr in ihre Heimat befürchte sie von der Familie ihres Mannes getötet zu werden.

5. Am 16.10.2017 wurden die Erst- bis Drittbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin gaben zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass die Zweitbeschwerdeführerin ihrem Cousin versprochen gewesen sei. Die Zweitbeschwerde-führerin habe in Kabul die Stickereien für die Tracht des Erstbeschwerdeführers hergestellt. Sie hätten sich dabei ineinander verliebt. Da die Zweitbeschwerdeführerin jedoch ihrem Cousin versprochen gewesen und sie Sunnitin, der Erstbeschwerdeführer hingegen Schiite sei, sei ihnen bewusst gewesen, dass die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin nicht mit ihrer Hochzeit einverstanden gewesen wären. Die Zweitbeschwerdeführerin sei daher - ohne Mitteilung an ihre Familie - mit dem Erstbeschwerdeführer nach Maidan Wardak gegangen, wo sie geheiratet hätten. Sie hätten dort stets Angst gehabt von den Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin gefunden zu werden. Sie hätten bereits im Zeitpunkt ihrer Heirat beschlossen Afghanistan zu verlassen. Als sie genügend Geld gehabt hätten und ihre Kinder etwas älter gewesen seien, seien sie schließlich nach Pakistan gegangen. Dort sei ihre Tochter (von Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin) entführt worden, weshalb sie in den Iran gezogen seien. Von dort seien sie schließlich nach Österreich - ihrem Zielland - gereist.

Die Drittbeschwerdeführerin gab beim Bundesamt im Wesentlichen an, dass sie im Alter von ca. 8 Jahren mit ihren Eltern nach Pakistan gereist sei, wo sie zwei Jahre die Schule besucht habe. Danach seien sie in den Iran gezogen. Dort habe sie als Schneiderin gearbeitet. Drei Jahre später sei sie alleine nach Österreich gereist. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe. Afghanistan sei jedoch kein sicheres Land und als Frau könne sie dort nicht die Schule besuchen.

Hinsichtlich des Viert- und der Fünftbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

6. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Die Beschwerdeführer würden in Österreich - abgesehen voneinander - zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

7. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass sich die Behörde mit dem Vorbringen insbesondere der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin und der Erkrankung des Viertbeschwerdeführers nicht ausreichend auseinandergesetzt habe. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Dem Viertbeschwerdeführer drohe aufgrund seiner Beeinträchtigung in Afghanistan Opfer von Übergriffen zu werden. Den Beschwerdeführern drohe auch aufgrund ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit Verfolgung in Afghanistan.

8. Mit Dokumentenvorlage vom 28.08.2018, 25.01.2019 und 05.07.2019 legten die Beschwerdeführer Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich vor.

9. Am XXXX wurde der Sechstbeschwerdeführer in Österreich geboren. Er ist der Sohn der Drittbeschwerdeführerin. Für ihn wurde am 24.05.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Die Drittbeschwerdeführerin wurde als gesetzliche Vertreterin des Sechstbeschwerdeführers im Beisein des Erstbeschwerdeführers als gesetzlicher Vertreter der Drittbeschwerdeführerin am 21.06.2019 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Für den Sechstbeschwerde-führer wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Der Vater des Sechstbeschwerdeführers sei der Cousin des Erstbeschwerdeführers, der in Deutschland lebe, wo sein Asylverfahren negativ abgeschlossen sei. Die Drittbeschwerdeführerin habe diesen am 03.08.2018 in Österreich nach traditionellem muslimischen Recht geheiratet.

Das Bundesamt wies den Antrag des Sechstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Sechstbeschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass für den Sechstbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht worden seien. Aufgrund der Situation seiner Familienangehörigen seien keine Gründe ersichtlich, die im Falle seiner Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder eine im gesamten Herkunftsland vorliegende extreme Gefährdungslage erkennen lasse. Da keine anderen Familienmitglied der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, komme auch für ihn eine solche nicht in Betracht. Der Sechstbeschwerdeführer verfüge in Österreich - abgesehen von seinen Familienangehörigen, die gleichfalls von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen seien - zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

Gegen den Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und im Wesentlichen vorgebracht, dass dem Sechstbeschwerdeführer in Afghanistan ein Schulbesuch nicht möglich sei. Zudem würden viele Kinder in Afghanistan gekidnappt werden. Seiner Mutter sei ein Leben in Afghanistan als alleinstehende Mutter nicht möglich.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 08.11.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

11. Mit Stellungnahme vom 05.12.2019 wurde vorgebracht, dass der Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan sowohl staatliche Verfolgung als auch Verfolgung durch private Akteure aufgrund "versuchter Zina" drohe. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin würden auch das Risikoprofil von Frauen und Männern erfüllen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen hätten. Die Zweit-, die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerin seien aufgrund ihrer politisch-religiösen Gesinnung (Orientierung an dem als "westlich" zu bezeichnenden Frauen- und Gesellschaftsbild) und ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Der Viertbeschwerdeführer sei psychisch und körperlich schwer beeinträchtigt und erleide - durchaus auffallende - Krampfanfälle. Ihm drohe daher Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Menschen mit (psychischer) Behinderung. Er sei aufgrund seiner Vulnerabilität im Iran sexuell missbraucht worden. Der Viertbeschwerdeführer wäre auch in Afghanistan vor Übergriffen und schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht geschützt.

Unter einem wurde die ACCORD Anfragebeantwortung vom 30.03.2018 betreffend Informationen zur Lage von Behinderten in Afghanistan vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben zwei leibliche Töchter, die Drittbeschwerdeführerin, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt, und die Fünftbeschwerdeführerin, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt sowie einen leiblichen Sohn, den Viertbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Der in Österreich geborene Sechstbeschwerdeführer ist der leibliche Sohn der Drittbeschwerde-führerin und führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Vater des Sechstbeschwerdeführers ist der Cousin des Erstbeschwerdeführers, der in Deutschland aufhältig ist.

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und sprechen Dari als Muttersprache. Die Zweitbeschwerdeführerin ist Angehörige der Tadschiken und sunnitische Muslima. Die übrigen Beschwerdeführer gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers - BF 1 AS 1, 90; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin - BF 2 AS 1, 84; Verwaltungsakt der Drittbeschwerdeführerin - BF 3 AS 1, 64; Verhandlungsprotokoll vom 08.11.2019 = VP, S. 10, 20, 27, 33).

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Kabul im Distrikt XXXX geboren und ist in Kabul in XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern (einem Bruder und einer Schwester) aufgewachsen (BF 1 AS 89, VP, S. 10). Er hat drei Jahre lang eine Schule in Kabul besucht (BF 1 AS 1, 94; VP, S. 10). Er hat den Beruf des Scheiders ausgeübt (VP, S. 10; BF 1 AS 94).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Kabul geboren und ist dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren zwei Brüdern aufgewachsen (BF 2 AS 83, 87; VP, S. 20). Die Zweitbeschwerdeführerin ist Analphabetin; sie hat keine Schule besucht (BF 2 AS 1, 87; VP, S. 20). Sie hat in Afghanistan als Schneiderin gearbeitet (BF 2 AS 85; VP, S. 20).

1.1.4. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer wurden in Afghanistan geboren. Die Beschwerdeführer hielten sich vor ihrer Einreise nach Österreich zwei Jahre in Pakistan und danach drei Jahre im Iran auf. Der Erst- und die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind jeweils unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist. Die Beschwerdeführer stellten am 26.07.2015 (Erst-, Viert- und Fünftbeschwerdeführer) bzw. 08.11.2015 (Drittbeschwerdeführerin) sowie die Zweitbeschwerdeführerin am 01.12.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am XXXX wurde der Sechstbeschwerdeführer in Österreich geboren.

1.1.5. Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Zweitbeschwerdeführerin war in Afghanistan von ihren Eltern nicht ihrem Cousin versprochen bzw. diesem bereits angetraut worden. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Es hat sich dabei nicht um eine heimliche, gegen den Willen der Familien erfolgte Eheschließung gehandelt. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin war mit der Heirat einverstanden. Die Beschwerdeführer lebten nach ihrer Heirat gemeinsam in Kabul. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Heirat nicht von der Familie der Zweitbeschwerdeführerin verfolgt.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin, ihren angeblich versprochenen bzw. zwangsverheirateten Cousin, staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.2. Eine weitere Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin ist in Pakistan verschollen. Es kann weder festgestellt werden, dass sie von Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin entführt wurde noch, dass ihr Verschwinden im Zusammenhang mit der Heirat des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin steht.

1.2.3. Darüber hinaus droht dem Erst- und den Dritt- bis Sechstbeschwerdeführern keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan wegen ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Weder Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten noch der Volksgruppe der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

1.2.4. Die Zweit-, die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerinnen sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie spricht zwar gut Deutsch, darüber hinaus kümmert sie sich jedoch in Österreich primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie hat freundschaftliche Kontakte zu ihrer Betreuerin und der Projektleiterin der Nähwerkstatt schließen können, sie ist jedoch auch in Österreich nicht selbständig.

1.2.5. Die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerinnen sind hingegen junge auf Eigenständigkeit bedachte Frauen, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sind. Die Drittbeschwerdeführerin besuchte in Österreich im Schuljahr 2015/16 als außerordentliche Schülerin die XXXX Schulstufe (Beilage ./M), die Übergangsstufe einer Polytechnischen Schule (BF 3 AS 75) sowie im Schuljahr 2017/2018 eine Handelsschule (Beilage ./N; BF 3 AS 77). Sie verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse, trifft sich in Österreich mit Freunden, kleidet, frisiert und schminkt sich nach westlicher Mode und will ihren Sohn frei von Zwängen erziehen sowie in der Zukunft selbst eine Ausbildung machen bzw. einer Arbeit nachgehen.

Die Fünftbeschwerdeführerin besucht in Österreich seit dem Schuljahr 2015/16 die Schule und hat die XXXX und XXXX Schulstufe jeweils mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen (Beilage ./Z). Sie ist für ihr Alter bereits sehr reif und selbstbewusst. Sie trifft sich in ihrer Freizeit mit Freunden, liest Comics und hört Musik. Sie will in Zukunft eine Ausbildung machen und einer Arbeit nachgehen. Sie kleidet sich nach westlicher Mode.

Die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerin lehnen die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und können sich nicht vorstellen, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben. Vor diesem Hintergrund würden die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frauen angesehen werden.

1.2.6. Der Viertbeschwerdeführer leidet aufgrund von Sauerstoffmangel bei der Geburt an einer körperlichen Behinderung (infantile Cerebralparese) und einem Entwicklungsrückstand. Er weist auch eine Störung des Sprechens (Dysarthrie), eine Kieferfehlstellung (Progenie), eine krankhafte Verkrümmung der Wirbelsäule (Hyperlordose der LWS) und eine angeborene Hüftgelenksverrenkung (leichte Hüftdysplasie bds) sowie gelegentlich cerebrale Krampfanfälle auf (Beilage ./Q, ./R, ./T).

Die Aussprache des Viertbeschwerdeführers ist schwer verständlich. Der Viertbeschwerdeführer kann selbständig essen und trinken; die Nahrungsaufnahme, das Kauen und das Trinken von Flüssigkeiten, ist jedoch nur erschwert möglich. Er ist frei gehfähig, wobei sich ein spastisches Gangbild zeigt und eine hohe Sturzgefahr besteht. Er weist auch deutliche Defizite betreffend die Feinmotorik auf. Der Viertbeschwerdeführer bedarf langfristig einer umfassenden therapeutischen Förderung (Beilage ./T) und Unterstützung insbesondere bei feinmotorischen Tätigkeiten. Er ist jedoch nicht vollständig auf die Pflege durch seine Eltern angewiesen.

Der Viertbeschwerdeführer besucht seit dem Schuljahr 2015/16 eine Sonderschule für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf (Beilage ./W). Er nimmt trotz seiner körperlichen und geistigen Beeinträchtigung an Jugendtrainings des örtlichen Fußballvereins teil und unterstützt die Trainer beim Auf- und Abbau der Trainingsutensilien. Er hilft auch durch untergeordnete Aufgabenstellungen bei Sportveranstaltungen (zB Bechereinsammeln) mit. Ihm ist persönlicher Kontakt zu Leuten sehr wichtig. Er knüpft auch laufend Kontakte in seiner Wohngemeinde, wo er sehr geschätzt wird (Beilage ./V). Er hat bei den Special Olympics in Österreich teilgenommen (Beilage ./Y).

Der Viertbeschwerdeführer wurde im Iran vergewaltigt (VP, S. 26).

Dem Viertbeschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner sichtbaren körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen eine Verfolgung.

1.2.7. Dem Sechstbeschwerdeführer droht aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch ist er deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn dem Sechstbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Mutter würde den Sechstbeschwerdeführer in die Schule schicken und ihm eine Schulbildung ermöglichen. Dem Sechstbeschwerdeführer droht in Afghanistan weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.3.1. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019 - LIB 04.06.2019, S. 65).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 04.06.2019, S.65).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 04.06.2019, S. 68).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 04.06.2019, S. 76).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 04.06.2019, S. 69).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 04.06.2019, S. 69). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 04.06.2019, S. 70 ff).

1.3.2. Medizinische Versorgung

Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 04.06.2019, S. 362 ff).

Psychische Erkrankungen sind in öffentlichen und privaten Klinken grundsätzlich behandelbar. Die Behandlung in privaten Kliniken ist für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen nicht leistbar. In öffentlichen Krankenhäusern müssen die Patienten nichts für ihre Aufnahme bezahlen. In Kabul gibt es zwei psychiatrische Einrichtungen: das Mental Health Hospital und die Universitätsklinik Aliabad. Zwar gibt es traditionelle Methoden bei denen psychisch Kranke in spirituellen Schreinen unmenschlich behandelt werden. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (LIB 04.06.2019, S. 364 f). In Mazar-e Sharif gibt es ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB 04.06.2019, S. 364).

1.3.3. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben mehr als 34.1 Millionen Menschen. Es sind ca. 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt (LIB 04.06.2019, S. 319).

1.3.3.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB 04.06.2019, S.321).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (LIB 04.06.2019, S.322).

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB 04.06.2019, S.322).

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. In der afghanischen Gesellschaft existiert die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Mitglieder der Hazara-Ethnie beschweren sich über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. Die Arbeitsplatzanwerbung erfolgt hauptsächlich über persönliche Netzwerke; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (LIB 04.06.2019, S.322 f).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB 04.06.2019, S.323).

Angehörige der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

1.3.3.2. Tadschiken

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan, sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB 04.06.2019, S. 324).

Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt.

1.3.4. Religionen

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB 04.06.2019, S. 309).

Sunniten sind allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt.

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB 04.06.2019, S.312).

Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB 04.06.2019, S.312).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB 04.06.2019, S.312).

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (LIB 04.06.2019, S.312 f).

Es wurde zwar eine steigende Anzahl von Angriffen gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige registriert, wovon ein Großteil der zivilen Opfer schiitische Muslime waren. Die Angriffe haben sich jedoch nicht ausschließlich gegen schiitische Muslime, sondern auch gegen sunnitische Moscheen und religiöse Führer gerichtet (LIB 04.06.2019, S.69 ff).

Angehörige der Schiiten sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

1.3.5. Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit. Die konkrete Situation von Frauen unterscheidet sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (LIB 04.06.2019, S. 328).

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (LIB 19.10.2018, S. 299). Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an (LIB 04.06.2019, S. 328f).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB 04.06.2019, S. 331).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB 04.06.2019, S. 353f).

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So können Frauen selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten halten, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennen (LIB 04.06.2019, S.337).

1.3.6. Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab (LIB 04.06.2019, S. 343). Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht. Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. (LIB 04.06.2019, S. 343).

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können. Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen (LIB 04.06.2019, S. 344).

Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder gehen einer Arbeit nach, da viele Familien auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen sind (LIB 04.06.2019, S. 345).

Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. Bei Säuglingen und Kindern unter 5 Jahren sank die Sterblichkeitsrate zwar in den letzten Jahren, diese liegt jedoch weiterhin über dem regionalen Durchschnitt und sind diese Zahlen weiterhin kritisch (LIB 04.06.2109, S. 363).In Afghanistan gibt es öffentliche und kostenlose Grundschulen. Alle Kinder haben ein Recht auf den Schulbesuch, aber die Eltern sind nicht verpflichtet ihre Kinder in die Schule zu schicken (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.05.2019 betreffend Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 9). Es gibt auch kostenpflichtige private Schulen, in Herat kann die Schulgebühr für private Schulen bis zu 1.500 USD kosten. Der Anteil an Privatschülern in Afghanistan beträgt zwischen 2% und 5% (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 5). Kabul ist der gebildetste Teil von Afghanistan, die Provinz Kabul hat eine der höchsten Schulbesuchsraten unter den Elementarschülern. In der Stadt Kabul gingen ca. 22% der Kinder nicht in die Schule, der Anteil von Mädchen, die keine Schule besuchen, liegt unter 30% (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 3 f). In der Stadt Herat besuchen 79,6% der Buben und 76,2% der Mädchen eine Elementarschule, 42,3% der Buben und 41,7% der Mädchen besuchen eine Sekundarschule. Die Alphabetisierungsrate ist in der Stadt Mazar-e Sharif höher als in der Stadt Herat. Die Provinz Balkh hat eine der höchsten Einschulungsraten für Mädchen in Afghanistan (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 5). Mädchen, Kinder die in ländlichen Gebieten wohnen, Kuchis, Kinder mit Behinderungen und Kinder in schlechten wirtschaftlichen Lagen haben schlechtere Bildungschancen (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 3). Die schlechte wirtschaftliche Lage einer Familie kann dazu beitragen, dass Kinder die Schule nicht besuchen. Das traditionelle Rollenverständnis bei Mädchen, die eine ablehnende Einstellung der Familie eines Mädchens zur Notwendigkeit der Schulbildung für Mädchen und die Verheiratung von Mädchen im jungen Alter, führt dazu, dass Mädchen seltener die Schule besuchen (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 10). Rund 60% der Kinder in Afghanistan, die keine Schule besuchen, sind Mädchen. Ein Großteil der Kinder, die keine Schule besuchen, lebt im ländlichen Raum (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 4). Binnenvertriebene und Rückkehrer haben erschwerten Zugang zu Bildung, wobei im Städtischen Bereich die Schulbesuchsrate höher als im ländlichen Gebiet ist. Auch das Fehlen einer Tazkira kann einen Schulbesuch erschweren oder verhindern (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 4).

Ökonomische Zwänge, mangelnde Qualität der gebotenen Schulbildung sowie tradierte Vorstellungen altersgemäßer Beschäftigung der Kinder veranlasst Eltern ihre Kinder anstelle eines Schulbesuchs arbeiten zu lassen. In den Städten gibt es Arbeitsmöglichkeiten ähnlich einem Lehrlingsverhältnis. Hierbei kann es jedoch zu Misshandlungen durch den Arbeitgeber kommen, es besteht für die Lehrlinge nur wenig Schutz. Die Bezahlung der Lehrlinge ist - verglichen mit anderen Formen der Kinderarbeit - sehr gering. Da Kinder, die gleichzeitig arbeiten und zur Schule gehen mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert sind (Ausgrenzung in der Schule, negative Einstellung der Schule und des Arbeitgebers, Doppelbelastung, etc), begünstigt dies einen Schulabbruch der Kinder (Bildungsmöglichkeiten für Kinder, S. 2, 11 f).

1.3.7. Menschen mit Beeinträchtigung

Die Wahrnehmung von Behinderungen wirkt sich auf den Familienstand, die Ehe, das Beschäftigungsverhältnis sowie auf Bildungs- und Sozialmöglichkeiten aus. In Afghanistan hängt die Stigmatisierung von Behinderungen von den Arten und Ursachen dieser ab. Malul und Mayub sind gebräuchliche Begriffe zur Beschreibung von Behinderungen. Malul bezieht sich auf Personen mit körperlichen Behinderungen und auf Personen, bei denen ein Unfall oder eine andere erkennbare Ursache zur Behinderung geführt hat. Kriegsverwundete werden positiv gesehen, da sie als Märtyrer gelten würden, die für ihr Land gekämpft haben. Mayub hingegen sind Menschen, die von Geburt an oder aufgrund von Krankheit oder einer anderen unbekannten Ursache an Behinderungen leiden. Diese Ursachen werden oft dem Willen Gottes, Geistern oder der schwarzen Magie zugeschrieben. Menschen mit solchen Behinderungen werden oft stigmatisiert (ACCORD-Anfragebeantwortung zur Lage von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan vom 28.02.2018).

Menschen mit Behinderungen weisen im Vergleich zu nicht behinderten Menschen eine höhere Armutsquote auf. Insbesondere von Geburt an behinderte Menschen sind stärker benachteiligt, sowohl im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen als auch im Vergleich zu Menschen mit Behinderungen aufgrund einer identifizierbaren Ursache. Dies gilt in Bezug auf alle K-Levels (K-Level sind ein von Gesundheitsdiensten verwendetes Bewertungssystem, das das Rehabilitationspotenzial einer Person angibt, Anm. ACCORD). Der Ausschluss vom Zugang zu öffentlichen Einrichtungen (Bildung, Gesundheitseinrichtungen), dem Arbeitsmarkt und sozialen Aktivitäten wirkt sich zudem auf das Selbstwertgefühl und das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Behinderungen aus. Menschen mit Behinderungen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit von Armut betroffen zu sein und haben häufig physische und soziale Barrieren beim Zugang zu öffentlichen Räumen zu überwinden ACCORD-Anfragebeantwortung vom 28.02.2018).

Die Ergebnisse des Berichts der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC): "Human Rights Situation of Person with Disabilities In 1394- 1395 vom 10. Dezember 2017" und die Ergebnisse der Überwachung der grundlegendsten Rechte von Menschen mit Behinderungen, die mit anderen Bürgern des Landes gleichberechtigt sind, zeigen, dass Menschen mit Behinderungen noch immer ihrer Grundrechte in den Bereichen Bildung, Zugang zu Gesundheit, Zugang zu Arbeit und Beschäftigung, Zugang zu angemessenem Wohnraum und Zugang zu technischer und beruflicher Bildung beraubt sind und dass im ganzen Land keine Rehabilitationsprogramme für Menschen mit geistigen Behinderungen entwickelt wurden. Das Bildungsministerium hat zwar über den Zugang von Menschen mit Behinderung zu umfassender und spezialisierter Bildung für (Seh-, Hör- und geistig Behinderte) berichtet, aber die Zahl der Schüler in den öffentlichen und privaten Schulen ist gering, und selbst wenn sie Zugang zur Schule haben, sind ihre Bildungsbedürfnisse nicht mit ihrer Situation vereinbar, und sie haben immer noch keinen Gebärdensprachübersetzer und keine Brailleschrift usw. Der Zugang zu öffentlichen Plätzen, insbesondere zu Schulen, Krankenhäusern, Kliniken, städtischen Verkehrsmitteln und anderen Regierungsabteilungen sowie spezielle Toiletten für Menschen mit Behinderungen und Einrichtungen in den Fußgängerzonen und auf den Straßen wurden vom öffentlichen und privaten Sektor nicht in Betracht gezogen, weshalb Menschen mit Behinderungen viele Probleme haben (Übersetzung aus der ACCORD-Anfragebeantwortung betreffend Informationen zur Lage von Behinderten vom 30.03.2018).

Der Ausschluss vom Zugang zu öffentlichen Einrichtungen (Bildung, Gesundheitseinrichtungen), zum Arbeitsmarkt und zu sozialen Aktivitäten wirkt sich auf das Selbstwertgefühl und das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Behinderungen aus. Menschen mit Behinderungen sind häufiger ärmer, sehen sich beim Zugang zu öffentlichen Räumen oft mit physischen und sozialen Barrieren konfrontiert und essen oft als Letzte im Haushalt, was den höheren Grad der Deprivation im Gesundheitszustand erklärt. Strategien zur Armutsbekämpfung, die von der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft umgesetzt werden, sollten daher nicht nur die klassischen Entwicklungsmaßnahmen in den Bereichen Ernährung, medizinische Grundversorgung, Wasser- und Sanitärversorgung und Beschäftigungsunterstützung berücksichtigen; sie müssen auch psychosoziale Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen umfassen, um ihr psychologisches Wohlbefinden und ihr Selbstwertgefühl zu verbessern (Übersetzung aus der ACCORD-Anfragebeantwortung betreffend Informationen zur Lage von Behinderten vom 30.03.2018).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die Verwaltungs- und Gerichtsakten, durch Einvernahme der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden (Konvolut Auszüge ZMR, GVS, Strafregister; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019; UNHCR-Richtlinie vom 30.08.2018; EASO Country Guidance Afghanistan aus Juni 2019; ACCORD Anfragebeantwortung zur Lage von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt vom 28.02.2019; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Sozialleistungen für Rückkehrer vom 01.02.2018; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019) und Beilage ./A bis ./A3 (zu BF1: Psychotherapiebestätigung vom 04.11.2019 - Beilage ./A; Arztbrief vom 19.06.2018 - Beilage ./B; Kursbestätigung Deutsch A1 Teil 2 vom 22.03.2018 - Beilage ./C; Stellungnahme der Caritas vom 28.10.2019 - Beilage ./D; zur BF 2: Fachärztlicher Bericht vom 31.10.2019 - Beilage ./E; Konvolut Basisbildung - Beilage ./F; Konvolut Deutschkursbestätigungen - Beilage ./G; Zeitungsbericht - Beilage ./H; Empfehlungsschreiben - Beilage ./J; Konvolut Fotos - Beilage ./K; zu BF 3: Stellungnahme HAK/HAS vom 28.10.2019 - Beilage ./L; Schulbesuchsbestätigung vom 08.07.2016 - Beilage ./M; Schulnachricht vom 16.02.2018 - Beilage ./N; Kursbestätigung "Bildung für Flüchtlinge" vom 13.09.2016 - Beilage ./O; Auszeichnung "Sommerwochen 2016" - Beilage ./P; zu BF 4: Arztbrief vom 07.01.2016 - Beilage ./Q; Befund EEG vom 06.02.2018 - Beilage ./R; Parteiengehör der Bezirkshauptmannschaft vom 25.03.2019 - Beilage ./S; Kontrolluntersuchung vom 20.11.2018 - Beilage ./T; Leistungsbescheid BH vom 15.04.2019 - Beilage ./U; Konvolut Empfehlungsschreiben - Beilage ./V; Konvolut Schulbesuchsbestätigungen und Zeugnisse - Beilage ./W; Therapiebestätigung vom 11.09.2019 - Beilage ./X; 2 Urkunden "Special Olympics Österreich" - Beilage ./Y; zur BF 5: Konvolut von Schulnachrichten und Schulbesuchsbestätigungen - Beilage ./Z; Konvolut Empfehlungsschreiben und Foto der Schulklasse - Beilage ./A1; Urkunde Schülerolympiade 2016/17 - Beilage ./A2; gesamte Familie: Konvolut an Empfehlungsschreiben und Fotos - Beilage ./A3) und durch Einsicht in die mit Schreiben vom 28.08.2018 (OZ 5 - jeweils Schulzeugnis des Schuljahres 2017/18 für BF 3 und BF 5); vom 25.01.2019 (BF 3 OZ 7 - Mutter-Kind-Pass) und vom 05.07.2019 (BF 5 OZ 7 - Jahreszeugnis und Leistungsbeurteilung der BF 5 fürs Schuljahr 2018/19) ins Verfahren eingebrachten Unterlagen.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

2.1.1. Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführer gelten ausschließlich zur Identifizierung der Personen der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer, zu den familiären Verhältnisse der Beschwerdeführer zueinander, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, der Religionszugehörigkeit des Erst- und der Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer, der Muttersprache der Beschwerdeführer sowie ihrem jeweiligen Lebenslauf (ihr Aufwachsen und ihre familiäre und wirtschaftliche Situation in Afghanistan sowie zur jeweiligen Schul- und Berufserfahrung) gründen sich auf den diesbezüglich schlüssigen Aussagen der Beschwerdeführer. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen der Beschwerdeführer zu zweifeln.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihrer Religionszugehörigkeit befragt in der Erstbefragung und beim Bundesamt an, dass sie Sunnitin sei (BF 2 AS 1; 84). Der Erstbeschwerdeführer gab beim Bundesamt befragt nach seiner Ehefrau hingegen an, dass diese nach der Heirat zum schiitisch-muslimischen Glauben gewechselt sei (BF 1 AS 92). Erst auf nochmalige Nachfrage, gab die Zweitbeschwerdeführerin beim Bundesamt schließlich an, dass sie nach der Heirat zum schiitischen Glauben gewechselt habe. Auf Vorhalt ihrer zu Beginn der Einvernahme getätigten Aussage, führte die Zweitbeschwerdeführerin an, dass sie als Sunnitin geboren sei. Nachgefragt führte sie aus, dass sie einen Schiiten geheiratet habe, weshalb sie auch Schiitin sein müsse (BF 2 AS 92). Dass die Zweitbeschwerdeführerin weder in der Erstbefragung noch von sich aus zu Beginn der Einvernahme beim Bundesamt Angaben zur ihrem schiitisch-muslimischen Glauben machte, ist nicht nachvollziehbar. Es ist daher nicht glaubhaft, dass die Zweitbeschwerdeführerin den schiitischen Glauben angenommen hat, zumal sie auch beim Bundesamt weiter angab als Sunnitin geboren zu sein. Zudem entspricht es der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH).

2.1.2. Dass die Beschwerdeführer vor ihrer Einreise nach Österreich zwei Jahre in Pakistan und danach drei bzw. vier Jahre lang im Iran lebten, stützt sich auf ihre diesbezüglich übereinstimmenden und gleichgebliebenen Angaben im Verfahren.

Die Feststellungen zur Einreise sowie das Datum der Antragstellung ergeben sich aus den Akteninhalten. Die Feststellung zur Geburt des Sechstbeschwerdeführers in Österreich ergibt sich aus der vorgelegten Geburtsurkunde (Verwaltungsakt des Sechstbeschwerdeführers - BF 6 AS 5).

2.1.3. Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Erst- bis Fünftbeschwerde-führer ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszug jeweils vom 06.04.2020). Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Sechstbeschwerde-führers ergibt sich aus seiner Strafunmündigkeit aufgrund seines Alters.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

2.2.1. Zum Fluchtvorbringen wurde vorgebracht, dass die Zweitbeschwerdeführerin ihrem Cousin versprochen gewesen sei, weshalb sie den Erstbeschwerdeführer heimlich, gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet hätte. Dem Vorbringen des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin kommt aus nachfolgenden Gründen keine Glaubhaftigkeit zu:

Das Gericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung aufgrund des persönlichen Eindrucks des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin davon aus, dass ihnen auch hinsichtlich ihres Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt. Die Beschwerdeführer wurden zu Beginn der Verhandlung angehalten, ihr Vorbringen detailliert, konkret und nachvollziehbar zu gestalten. Diesen Anforderungen sind die Beschwerdeführer jedoch nicht gerecht geworden, zumal die Beschwerdeführer lediglich eine grobe Rahmengeschichte präsentierten.

Der Erstbeschwerdeführer gab beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung an, dass die Zweitbeschwerdeführerin ihrem Cousin versprochen gewesen sei und sie sunnitische Tadschikin gewesen sei, weshalb eine Heirat mit dem Erstbeschwerdeführer einem schiitischen Hazara nur heimlich gegen den Willen ihrer Familie möglich gewesen sei. Es fällt auf, dass der Erstbeschwerdeführer in der Erstbefragung weder Probleme aufgrund seiner Eheschließung noch eine Verfolgung durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin erwähnte, sondern lediglich seine Probleme in Bezug auf seinen Aufenthalt in Pakistan und im Iran anführte (BF 1 AS 11). Die Zweitbeschwerdeführerin gab in der Erstbefragung zwar an, dass ihre Familie mit der Familie des Erstbeschwerdeführers aufgrund der unterschiedlichen Volksgruppen- und Religionszugehörigkeiten verfeindet gewesen sei, erwähnte jedoch ebenfalls mit keinem Wort, dass sie ihrem Cousin versprochen gewesen sei (BF 2 AS 9).

Gemäß § 19 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) dient die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert. Die Verwaltungsbehörde bzw. das Bundesverwaltungsgericht können im Rahmen ihrer Beweiswürdigung die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen.

Es wird daher im vorliegenden Fall zwar nicht verkannt, dass sich die Erstbefragung nicht in erster Linie auf Fluchtgründe des Beschwerdeführers bezog und diese nur in aller Kürze angegeben sowie protokolliert wurden. Dass weder der Erst- noch die Zweitbeschwerde-führerin die - erst in weiterer Folge angeführte - Verlobung der Zweitbeschwerdeführerin mit ihrem Cousin, somit einen wesentlichen Teil ihrer Fluchtgründe zunächst nicht einmal ansatzweise erwähnte, ist für das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht nachvollziehbar und zumindest als Indiz für ein insgesamt nicht glaubhaftes Fluchtvorbringen zu werten.

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass insbesondere die Zweitbeschwerdeführerin das Fluchtvorbringen inkonsistent vorgebracht hat, zumal sie im Verfahren den Fokus einmal darauf legte, dass sie ihrem Cousin versprochen gewesen sei und dann auf die Verfolgung ihrer Familie aufgrund der unterschiedlichen Volksgruppen- und Religionszugehörigkeiten. So gab sie beim Bundesamt an, dass sie ihrem Cousin versprochen sei und dieser bzw. dessen Kinder sie im Falle einer Rückkehr umbringen würden (BF 2 AS 93). In der Erstbefragung und in der Beschwerdeverhandlung erwähnte sie hingegen mit keinem Wort, dass sie ihrem Cousin versprochen gewesen sei, sondern gab an, dass sie habe fliehen müssen, weil sie einen Mann aus einem anderen Stamm geheiratet habe (VP, S. 24).

Sofern sie in der Erstbefragung ausführte, dass ihre Familie mit der Familie des Erstbeschwerdeführers verfeindet gewesen sei (BF 2 AS 9), ist dieses Vorbringen vor dem Hintergrund der Ausführungen des Erstbeschwerdeführers, wonach die Familie der Zweitbeschwerdeführerin weder gewusst habe, dass oder wen sie geheiratet habe noch wo sie gelebt hätten (BF 1 AS 99), nicht plausibel.

Der Erstbeschwerdeführer gab in der Beschwerdeverhandlung befragt an, dass die Zweitbeschwerdeführerin zunächst nur mit ihrem Cousin verlobt gewesen sei, aber vor ihrer Ausreise in den Iran die Ehe der Zweitbeschwerdeführerin mit ihrem Cousin geschlossen worden sei (VP, S. 17). Der Erstbeschwerdeführer muss sich diesbezüglich eine Steigerung seines Vorbringens vorwerfen lassen, die sein entsprechendes Vorbringen insgesamt in Zweifel zieht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass weder der Erst- noch die Zweitbeschwerdeführerin bereits in der Einvernahme vor dem Bundesamt Ausführungen dazu tätigten, dass die Ehe zwischen der Zweitbeschwerdeführerin und ihrem Cousin bereits geschlossen worden sei, zumal sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen wären, bereits im behördlichen Verfahren ein entsprechendes Vorbringen zu erstatten. Nach ständiger Rechtsprechung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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