TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/15 G311 2179963-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.05.2020
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Entscheidungsdatum

15.05.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

G311 2179963-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Susanne SINGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zahl: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2019, zu Recht:

A)       

I.       Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben, diese werden behoben und festgestellt, dass gemäß
§ 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 01.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005.

Am 02.05.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers zu seinem Antrag auf internationalen Schutz statt.

Die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, fand am 01.08.2017 statt.

Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Antrag bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.), dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn nach
§ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Mit dem am 29.11.2017 beim Bundesamt eingebrachten Schriftsatz vom selben Tag erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den ihn betreffenden Bescheid des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, den angefochten Bescheid dahingehend abändern, dass dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten oder allenfalls subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird; in eventu dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG erteilen sowie feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer und die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak unzulässig ist; in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und an das Bundesamt zurückverweisen.

Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 22.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

Mit Schreiben vom 30.08.2018, beim Bundesverwaltungsgericht einlangend, übermittelte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung mehrere Dokumente und Unterlagen als Integrationsnachweis.

Mittels Beschwerdenachreichung vom 14.11.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Untersuchungsbericht der LPD XXXX vom 31.10.2018 übermittelt, wonach es sich beim vom Beschwerdeführer vorgelegten irakischen Führerschein um eine Totalfälschung handelt.

Mit Berichtigungsbescheid des Bundesamtes vom 23.10.2018 wurde der Nachname des Beschwerdeführers dennoch auf den im irakischen Personalausweis bzw. den im irakischen Führerschein angeführten Nachnamen geändert.

Mit Urkundenvorlagen vom 25.04.2019 und vom 29.08.2019 wurden das Zeugnis des Beschwerdeführers über die bestandene Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau Deutsch A2 sowie ein Auszug aus dem Gewerberegister und ein Zeitungsartikel über den Beschwerdeführer vorgelegt.

Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.09.2019 wurden der bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers und dem Bundesamt zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ein Konvolut von aktuellen und relevanten Länderberichten zum Irak zur Kenntnisnahme übermittelt und zugleich die Möglichkeit der Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung oder der mündlichen Stellungnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeräumt.

Am 20.09.2019 langte die schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vorab übermittelten Länderberichten beim Bundesverwaltungsgericht ein. Mit dieser wurde zugleich ein Konvolut weiterer Länderberichte bezogen auf die Lage im Irak vorgelegt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.09.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine zur Vertretung in der mündlichen Verhandlung bevollmächtigte gewillkürte Vertreterin sowie ein Dolmetscher für die arabische Sprache teilnahmen. Die Rechtsvertreterin erschien nicht zur Verhandlung. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als Zeugin vernommen.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG. Dem Beschwerdeführer wurde weiters die Möglichkeit zur Erstattung von schriftlichen Schlussausführungen bis 11.10.2019 eingeräumt.

Am 07.10.2019 langte die mit 01.10.2019 datierte schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 10.03.2020 wurde dem Beschwerdeführer das nunmehr aktuelle Kurzinformation vom 30.10.2019 zum Länderinformationsblatt zum Irak vom 20.11.2018 sowie das ACCORD-Themendossier zur Lage im Irak – aktuelle politische Entwicklungen, Protestlage vom 04.03.2020 zur Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen übermittelt.

Am 24.03.2020 langte die mit 20.03.2020 datierte Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Arabisch, er ist von seiner irakischen Frau seit XXXX .2014 geschieden und hat mit dieser drei Kinder (zwei Söhne, geboren 2006 und 2012, und eine Tochter, geboren 2010), zu welchen er keinen Kontakt hat und deren Aufenthaltsort ihm nicht bekannt ist (vgl etwa Erstbefragung vom 02.05.2015, S 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 2 ff; Kopien der irakischen Personalausweise der Ex-Ehefrau und der Kinder; Kopie irakische Heiratsurkunde und Scheidungsurkunde; irakischer Staatsbürgerschaftsnachweis des Beschwerdeführers samt Übersetzung; Berichtigungsbescheid des Bundesamtes vom 23.10.2018; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 3 ff).

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Es wird festgestellt, dass er an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium leidet, die im Irak nicht behandelbar wären (vgl etwa Erstbefragung vom 02.05.2015, S 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 2 ff; Gewerberegisterauszug vom 20.09.2019; Sozialversicherungsdatenauszug vom 06.03.2020).

Geboren und aufgewachsen ist der Beschwerdeführer in Bagdad, wo er sechs Jahre eine Grundschule und zwei Jahre eine Mittelschule besucht hat. Der Beschwerdeführer war – wie auch seine Brüder und sein Vater – Musiker von Beruf und arbeitete nach der Schule zudem für fünf Jahre in den Musikgeschäften der Familie mit. Von 2003 bis 2006 betrieb er anschließend in Bagdad ein eigenes Musikgeschäft, in welchem er diverse Instrumente und Zubehör verkaufte. Bei einem Anschlag im März 2006 kam es in seinem Geschäft in Bagdad zu einer Explosion. Daraufhin hielt sich der Beschwerdeführer zwischen 2006 und 2009 in Syrien auf, wo er in Damaskus ebenfalls ein Musikgeschäft betrieb. Im Jahr 2009 verkaufte er das Geschäft in Syrien und kehrte wieder nach Bagdad zurück, um dort ein weiteres Musikgeschäft zu eröffnen, welches er bis 28.09.2013 betrieben hat (vgl etwa Erstbefragung vom 02.05.2015, S 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 2 ff; Vorbringen in der Beschwerde vom 29.11.2017, S 5; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 3 ff; Ausweiskopie der Handelskammer von Bagdad; Ausweis des Vaters der irakischen Musikervereinigung).

Der Aufenthaltsort des Vaters, der Ex-Ehefrau und der Kinder des Beschwerdeführers konnte nicht festgestellt werden. Ein Bruder ist in die USA ausgewandert. Eine Schwester sowie ihr Ehegatte, ein weiterer Bruder sowie die Tante väterlicherseits (samt Ehemann), bei der sich der Beschwerdeführer versteckt hatte, leben jetzt in Jordanien. Die Mutter und eine weitere Schwester (mit Ehemann) leben in der Türkei (vgl Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 4 ff; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 3 ff).

Der Beschwerdeführer reiste am 10.10.2014 von Bagdad aus über Diyala, Kirkuk, Erbil und Zaxo in Kurdistan mit dem PKW in die Türkei aus. In der Folge reiste er nach Istanbul, wo er sich etwa fünf bis sechs Monate aufhielt. Sodann reiste er nach Izmir und von dort schlepperunterstützt über Griechenland und ihm nicht weiter bekannte europäische Länder bis nach Österreich, wo er am 01.05.2015 einreiste und noch am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte (vgl etwa Erstbefragung vom 02.05.2015, S 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 2 ff; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 6).

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügt im Bundesgebiet seit 06.05.2015 bis zum Entscheidungszeitpunkt über durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen. Er ist strafgerichtlich unbescholten (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister sowie dem Strafregister jeweils vom 06.03.2020).

In Österreich führt der Beschwerdeführer seit etwa Juni 2018 eine Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen, mit der er seit 31.01.2018, erst in einem Untermietverhältnis und nunmehr in einer aufrechten Lebensgemeinschaft, im gemeinsamen Haushalt lebt. Die Lebensgefährtin arbeitet in einem Wettbüro und unterstützt den Beschwerdeführer auch finanziell. Er ist in das Familienleben seiner Lebensgefährtin integriert und nimmt regelmäßig an gemeinsamen Aktionen und Feiern teil (vgl Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 9 ff sowie Angaben der Zeugin, S 11 ff; Konvolut aktenkundiger Unterstützungsschreiben).

Der Beschwerdeführer bezieht zumindest seit Juni 2019 keinerlei Grundversorgungsleistungen mehr, wobei in den Zeiträumen 12.04.2018 bis 30.04.2018, 22.05.2018 bis 31.05.2018 und 04.07.2018 bis 31.07.2018 jeweils geringfügige sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeiten mittels Dienstleistungsschecks (DLS) ausübte. Seit 02.08.2018 verfügt der Beschwerdeführer über eine aufrechte Gewerbeberechtigung für das freie Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ und ist mit dieser Tätigkeit in einem Rahmen, der die Geringfügigkeitsgrenze bezogen auf eine Pflichtversicherung in der selbstständigen Sozialversicherung nicht überschreitet, selbstständig als Hausbetreuer erwerbstätig. Der Beschwerdeführer ist somit wegen des Gewerbescheines gemäß § 2 Abs. 1 Z 1 GSVG pflichtversichert, jedoch von der Krankenversicherung ausgenommen. Er brachte weiters eine aktuelle Einstellungszusage vom 13.09.2019 zur Vorlage (vgl Auszüge aus den Grundversorgungs- und Sozialversicherungsdaten vom 06.03.2020; GISA-Auszug vom 20.09.2019; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 10 ff). Weiters hat der Beschwerdeführer eine Ausbildung zum Schülerlotsen absolviert und als solcher den Schulweg einer Schule in der Wohnortgemeinde gesichert (vgl Unterstützungsschreiben der Stadträtin der Heimatgemeinde vom 29.07.2017; Bestätigungsschreiben des Ausbilders für Schülerlotsen vom 17.07.2017; Schülerlotsenausweis vom 16.03.2017). Der Beschwerdeführer half weiters ehrenamtlich für mehrere Stunden pro Wochen im örtlichen „Cent Markt“ aus (vgl Bestätigungen vom 04.03.2017 und vom 17.07.2017) und betreute Patienten der Alzheimerhilfe von 27.03.2017 bis 07.04.2017 im Zuge eines stattfindenden Projekts beim Spazierengehen (vgl Bestätigung vom 26.04.2017). Er war bei Bedarf auch beim Städtischen Wirtschaftshof seiner Wohnortgemeinde tätig (insgesamt 248 Stunden) (vgl Bestätigung der Gemeinde vom 24.07.2017). Entsprechend der Aufenthaltsdauer hat der Beschwerdeführer viele österreichische Freunde, mit welchen er seine Freizeit verbringt (vgl ua die zahlreichen aktenkundigen Unterstützungsschreiben).

Er verfügt über ein bestandenes Deutsch-Zertifikat auf Niveau A1 vom 01.07.2016 und ein Zeugnis über eine bestandene Integrationsprüfung des ÖIF mit einem Sprachniveau Deutsch A2 vom 10.12.2018 (vgl aktenkundige Zeugnisse).

Insgesamt liegen maßgebliche Anhaltspunkte für eine Integration des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht vor.

Einer der Brüder des Beschwerdeführers, XXXX (im Folgenden: A.), wurde im Mai 2007 im Irak getötet (vgl etwa Erstbefragung vom 02.05.2015, S 3; Niederschrift Bundesamt vom 01.08.2017, S 2 ff; aktenkundige Übersetzung der Sterbeurkunde vom 06.05.2007; Verhandlungsprotokoll vom 20.09.2019, S 4).

Dass ein weiterer Bruder, XXXX (im Folgenden: M.) am 29.09.2013 in Bagdad aus dem Geschäft des Beschwerdeführers von Angehörigen der schiitischen Milizen (Asa´ib Ahl al-Haqq (AAH) oder der Badr-Miliz) entführt und seither nicht mehr auffindbar sei, konnte hingegen nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist weder im Irak noch einem anderen Land vorbestraft, er war nie politisch tätig oder Mitglied einer politischen Partei und er hatte keine Probleme mit Behörden, Gerichten, der Polizei oder dem IS im Irak.

Der Beschwerdeführer trägt einen sunnitisch konnotierten Namen. Eine konkrete, persönliche Verfolgung oder Bedrohung des Beschwerdeführers im Irak wegen seiner Zugehörigkeit zu den Sunniten bzw. wegen seines sunnitisch konnotierten Namens konnte nicht festgestellt werden.

Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist oder, dass Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht zur Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit Schreiben vom 16.09.2019 sowie mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 10.03.2020 in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich ein Konvolut aus fallbezogen relevanten aktueller Länderberichte samt den angeführten Quellen (mit Stand 04.03.2020) auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand des Erkenntnisses erhoben.

Daraus ergibt sich auszugsweise:

Aus dem ACCORD/ecoi.net – Themendossier zum Irak: Aktuelle politische Entwicklungen – Protestlage vom 04.03.2020 ergibt sich:

„[…] 1.Forderungen der DemonstrantInnen

Die Protestbewegung, die am 1. Oktober 2019 in Bagdad und in den südlichen irakischen Provinzen ihren Anfang nahm, setzt sich aus Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts zusammen. Die DemonstrantInnen drücken auf der Straße ihre Frustration über hohe Jugendarbeitslosigkeit, mangelhafte öffentliche Dienste und chronische Korruption im Land aus. Simona Foltyn, eine in Bagdad ansässige Journalistin, erklärt gegenüber BBC, dass die Proteste aus einem Graswurzelbewegung gewachsen seien. Die Beteiligung politischer Parteien weisen DemonstrantInnen strikt zurück (BBC, 3. Oktober 2019 (/de/dokument/2017579.html))[i]. Insbesondere Studenten entwickelten sich laut Al Jazeera zum Rückgrat der Protestbewegung (Al Jazeera, 10. Februar 2020 (https://www.aljazeera.com/news/2020/02/studentsbackbone-iraq-anti-government-protests-200205082617826.html)) [ii].

Die DemonstrantInnen fordern weiters das Ende des politischen Systems der letzten sechzehn Jahre, welches Regierungsbestellungen auf der Grundlage von konfessionellen oder ethnischen Quoten (ein System, das als Muhassasa bezeichnet wird) vorsieht (BBC, 7. Oktober 2019 (/en/document/2018017.html)). Die DemonstrantInnen fühlen sich politisch entmachtet und sehen den Rückgriff auf

Straßenaktionen als einzige Form, sich politisch zu beteiligen (ICG, 10. Oktober 2019 (/de/dokument/2018263.html))[iii]. Viele der Proteste, insbesondere in der südlichen schiitischen Mehrheitsregion, richten sich außerdem gegen den starken ausländischen Einfluss im Land, einschließlich dem des benachbarten Iran (RFE / RL, 17. November 2019 (/de/dokument/2020298.html))[iv].

2.       Ausbreitung und Intensität der Proteste

Laut UNAMI versammelten sich rund 3.000 Menschen am 1. Oktober 2019 auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Bagdads (UNAMI, Oktober 2019, S.4 (/de/dokument/2019889.html))[v]. Die Demonstrationen breiteten sich in Provinzen im Süd- und Zentralirak aus, darunter Babil, Dhi-Qar, Diyala, Karbala, Maysan, Muthana, Nadschaf, Qadisiya und Wasit (UNAMI, Oktober 2019, S.3 (/de/dokument/2019889.html)). Die kurdischen Regionen im Norden, sowie die sunnitischen Mehrheitsgebiete im Westen blieben größtenteils ruhig (BBC, 3. Oktober 2019 (/de/dokument/2017579.html)).

Die erste Phase der Protestbewegung dauerte vom 1. bis zum 9. Oktober an (OHCHR, 29. Oktober 2019 (/de/dokument/2019446.html))[vi]. Laut eines Sprechers des Innenministeriums, Saad Maan, hatten DemonstrantInnen 51 öffentliche Gebäude und acht Parteizentralen während dieser ersten Protestphase in Brand gesetzt (HRW, 10. Oktober 2019 (/de/dokument/2018222.html))[vii].

Eine zweite Protestwelle brach am 24. Oktober in Bagdad und Provinzen Süd- und Zentraliraks aus (AI, 29. Oktober 2019 (/de/dokument/2019142.html))[viii]. Während der zweiten Welle des Protests erweiterte sich der Kreis der DemonstrantInnen. Lokalen Berichten zufolge schlossen sich ab dem 27. Oktober vermehrt auch SchülerInnen und Studierende in Bagdad und anderen Städten den Protesten an (BAMF, 28. Oktober 2019 (/de/dokument/2020344.html), S.4)[ix]. Darüber hinaus rief die irakische Lehrergewerkschaft zur Unterstützung der Proteste zu einem Generalstreik auf, der zur Schließung von Schulen in Nadschaf, Al Muthanna, Dhi-Qar, Basra, Babil, Karbala und Maysan führte. Auch MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors nahmen an den Protesten teil (ACLED, 19. November 2019, S.2 (/de/dokument/2020561.html))[x]. Im Süden des Irak blockierten DemonstrantInnen wichtige Häfen wie Umm Qasr und Khor Al Zubair sowie Ölfelder in der Provinz Basra (ACLED, 26. November 2019, S.2 (/de/dokument/2020592.html)). Die Demonstrationen dauerten im Dezember weiter an, mit tausenden Protestierenden im Südirak, die nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Adel Abdel Mahdi einen unabhängigen Kandidaten forderten (Al Jazeera, 22. Dezember 2019 (https://www.aljazeera.com/news/2019/12/thousandsprotest-southern-iraq-demanding-independent-pm-191222085726485.html)).

Genaue Angaben zur Anzahl der DemonstrantInnen konnten nicht gefunden werden, doch gab UNAMI im November an, dass zwischen dem 29. Oktober und dem 4. November die Zahl der DemonstrantInnen in Bagdad schätzungsweise eine Million erreichte (UNAMI, November 2019, S.4 (/de/dokument/2019890.html)).

Die Protestbewegung, die eine Revision des politischen Systems im Irak forderte, setzte sich im Jänner fort (Al Jazeera,  11. Jänner 2020 (https://www.aljazeera.com/news/2020/01/war-iraqis-revive-protests-iran-tension-200110201417699.html), Al Jazeera, 19. Jänner 2020 (https://www.aljazeera.com/news/2020/01/iraq-protests-swell-people-angry-slow-pacereforms-200119133035629.html)). Zeitgleich führten US-Angriffe gegen die vom Iran unterstützten Volksmobilisierungskräfte (Popular Mobilization Forces, PMF), sowie der tödliche Angriff auf den iranischen General Qasem Soleimani nahe des Flughafens Bagdad am 3. Jänner 2020 zu separaten Demonstrationen, die von pro-iranischen Gruppierungen angeführt wurden und die sich gegen amerikanischen Einfluss im Land richteten (Washington Institute, 10. Jänner 2020 (https://www.washingtoninstitute.org/fikraforum/view/iraqi-protesters-on-the-killing-ofqassem-soleimani-the-protests-will-conti)[xi]). Viele der DemonstrantInnen der Oktoberbewegung distanzierten sich von diesen Protesten (Al Jazeera, 31. Dezember 2019 (https://www.aljazeera.com/news/2019/12/protesters-embassy-baghdad-gear-sit-191231130210231.html), Al Jazeera, 2. Jänner 2020 (https://www.aljazeera.com/news/2020/01/iraq-anti-government-protesters-denouncepro-iran-crowds-200102144314331.html)) und drückten ihre Befürchtung aus, dass ihre monatelangen Demonstrationen und Forderungen von der Bewegung gegen die USMilitärpräsenz überschattet werden könnte (RFE/RL, 24. Jänner 2020 (/de/dokument/2023373.html)).

3.       Reaktion der Politik

Premieminister Adel Abdel Mahdi zeigte sich öffentlich von Beginn der Proteste um eine Lösung bemüht (RFE/RL, 1. Oktober 2019 (/de/dokument/2017581.html)). Am 8. Oktober 2019 stimmte das Parlament über ein Maßnahmenpaket ab, das unter anderem Ausbildungsprogramme für junge Arbeitslose und die Bereitstellung einer monatlichen Unterstützungsleistung für Familien unter der Armutsgrenze ermöglichen sollte. Der Ministerrat legte daraufhin ein zweites 13-Punkte-Paket vor, das sich unter anderem mit Subventionen und der Bereitstellung von Wohnraum für Arme befasste. Am 16. Oktober kündigte der Oberste Justizrat die Einrichtung eines zentralen Strafgerichtshofs zur Korruptionsbekämpfung an (UNAMI, Oktober 2019, S.9 (/en/file/local/2019889/UNAMI_Special_Report_on_Demonstrations_in_Iraq_22_October_2019.pdf)). Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat seitdem damit begonnen, gewissen benachteiligten Familien monatliche Auszahlungen zukommen zu lassen (Baghdad Post, 20. Jänner 2020 (https://www.thebaghdadpost.com/ar/Story/187062/%D9%88%D8%B2%D9%8A%D8%B1-%D8%A7%D9%84%D8%B9%D9%85%D9%84-%D9%8A%D8%B9%D9%84%D9%86-%D8%A5%D8%B7%D9%84%D8%A7%D9%82-%D8%A7%D9%84%D8%AF%D9%81%D8%B9%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D8%AB%D8%A7%D9%86%D9%8A%D8%A9%D9%85%D9%86%D9%85%D9%86%D8%AD%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D8%B7%D9%88%D8%A7%D8%B1%D8%A6-%D9%84%D9%84%D8%A3%D8%B3%D9%85%D8%A7%D8%A1-%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B4%D9%85%D9%88%D9%84%D8%A9-%D8%A8%D8%A7%D9%84%D9%88%D8%AC%D8%A8%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D8%A3%D9%88%D9%84%D9%89)[xii]). Des Weiteren konnten keine Quellen gefunden werden, die über die Umsetzungen der oben genannten Regierungsvorhaben berichten.

Als Reaktion auf die hohe Zahl der Todesopfer stimmte Premierminister Adel Abdel Mahdi am 22. Oktober den Empfehlungen einer Untersuchung der Todesfälle zu. Dazu gehörten die Entlassung hochrangiger Sicherheitsbeamter (HRW, 27. Oktober 2019 (/de/dokument/2019092.html)). Gleichzeitig setzte Mahdi am 26. Oktober die Streitkräfte des Anti-Terror-Dienstes des Landes auf den Straßen der Hauptstadt Bagdad und der südlichen Stadt Nasiriyah ein und befahl ihnen laut Reuters "alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen", um die Proteste zu beenden (RFE/RL, 27. Oktober 2019 (/de/dokument/2019047.html)).

Am 29. November beugte sich Adel Abdel Mahdi dem innenpolitischen Druck sowie dem Wunsch der DemonstrantInnen und kündigte seinen Rücktritt als Ministerpräsident an (HRW, 2. Dezember 2019 (/de/dokument/2020745.html)). Am 24. Dezember verabschiedete das irakische Parlament ein neues Wahlgesetz, doch ein neuer Premierminister war noch nicht gefunden worden (Reuters, 24. Dezember 2019 (https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests/iraq-passes-electoral-reforms-butdeadlock-remains-idUSKBN1YS157)[xiii]). Am 1. Februar wurde Mohammed Tawfiq Allawi, ein ehemaliger Kommunikationsminister, zum Premierminister ernannt (Al Jazeera, 1. Februar 2020 (https://www.aljazeera.com/news/2020/02/iraq-presidentappoints-mohammed-allawi-pm-state-tv-200201150554113.html)).

Human Rights Watch berichtete am 31. Jänner von einer scheinbar koordinierten Kampagne der Behörden vom 25. bis zum 27. Jänner die Besetzung der zentralen Plätze in Bagdad, Basra und Nasiriya durch die DemonstrantInnen zu beenden. Die Zelte der DemonstrantInnen wurden in Brand gesetzt, scharfe Munition abgefeuert und Demonstrierende  festgenommen (HRW, 31. Jänner 2020 (https://www.hrw.org/news/2020/01/31/iraq-authorities-violently-remove-protesters)).

4.       Angriffe gegen DemonstrantInnen und AktivistInnen: Zivile Tote und Verletzte

Die genaue Zahl der bei Protesten Getöteten und Verletzten ist unklar. Human Rights Watch berichtet, dass laut irakischem Gesundheitsministerium die Zahl der Todesopfer Mitte Dezember 511 Menschen erreicht habe (HRW, 16. Dezember 2019 (/de/dokument/2021768.html)). Laut der irakischen Menschenrechtskommission wurden bis Ende Dezember mindestens 490 DemonstrantInnen getötet (ABC News, 28. Dezember 2019 (https://abcnews.go.com/International/wireStory/iraqi-group-490protesters-killed-october-67956828))[xiv]. Amnesty International geht mit 23. Jänner von mehr als 600 Menschen aus, die seit Oktober im Zusammenhang mit den Protesten ihr Leben verloren haben (AI, 23. Jänner 2020 (/de/dokument/2023297.html)).

Wie von RFE berichtet setzte die Bereitschaftspolizei bereits am ersten Tag der Proteste Tränengas, Wasserwerfer und scharfe Munition ein, um die Menge auseinanderzutreiben (RFE/RL, 1. Oktober 2019 (/de/dokument/2017581.html)). Laut UNAMI wurden Sicherheitskräfte - die sowohl dem Innenministerium als auch dem Verteidigungsministerium unterstehen - vom Nationalen Operationskommando beauftragt, die Demonstrationen in Schach zu halten. Zu den Sicherheitskräften gehören die Bereitschaftspolizei, Anti-Terror-Streitkräfte, Polizeispezialkräfte, die Bundespolizei, SWAT-Teams, der Facility Protection Service (FPS), die Police Rescue Force sowie Geheimdienstoffiziere und Einheiten, die für den Schutz in der ehemaligen Internationalen Zone zuständig sind. Es könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, welche Einheit welche Angriffe auf DemonstrantInnen durchgeführt habe, da es viele verschiedene Uniformen gebe und keine identifizierbaren Embleme benutzt worden seien. Mehrere Quellen führten mögliche Verstöße, einschließlich des Einsatzes scharfer Munition, auf bewaffnete Männer zurück, die als „schwarz gekleidet mit vermummten Gesichtern“ beschrieben wurden (UNAMI, Oktober 2019, S.3 (/en/file/local/2019889/UNAMI_Special_Report_on_Demonstrations_in_Iraq_22_October _2019.pdf)). UNAMI bezieht sich weiters auf eine Vielzahl glaubwürdiger und konsistenter Berichterstattungen, aus denen hervorging, dass unbekannte Scharfschützen von Dächern und aus leer stehenden Gebäuden gezielt auf unbewaffnete DemonstrantInnen schossen (UNAMI, Oktober 2019, S.5(/de/dokument/2019889.html)).

In Interviews mit Human Rights Watch am 10. Oktober berichten DemonstrantInnen, dass die Bereitschaftspolizei, SWAT-Teams, Geheimdienstoffiziere, Mitarbeiter der Police Tactical Support Unit (TSU), sowie Sicherheitspersonal der Badr Gruppierung (eine Untergruppe der Volksverteidigungskräfte (Popular Mobilization Forces, PMF) Angriffe gegen DemonstrantInnen durchgeführt hätten (HRW, 10. Oktober 2019 (/de/dokument/2018222.html)).

UNAMI dokumentierte in der ersten Oktoberwoche Tote und Verletzte im Zusammenhang mit Demonstrationen in Bagdad sowie in den südlichen Provinzen DhiQar, Diwaniya, Maysan, Wasit, Nadschaf und Babil (UNAMI, Oktober 2019, S. 4 (/de/dokument/2019889.html)). Am 22. Oktober 2019 veröffentlichte die irakische Regierung die Ergebnisse der Ermittlungen zu Toten und Verletzten während der vorangegangen Proteste. Zwischen dem 1. und 9. Oktober 2019 wurden den Ermittlungen zufolge 157 Personen (inkl. acht Sicherheitskräfte) getötet und mehr als 3.000 Personen verletzt. Die zweite Phase der Protestwelle führte zu weiteren Todesfällen (BAMF, 28. Oktober 2019 (/de/dokument/2020344.html)). Wie von OMCT berichtet wurde auch den gesamten November hindurch von Sicherheitskräften scharfe Munition gegen Demonstrierende, insbesondere in Bagdad, Basra, Nasiriyah und Nadschaf eingesetzt (OMCT, 3. Dezember 2019 (https://www.omct.org/statements/iraq/2019/12/d25625/))[xv]. Laut einer Darstellung von ACLED verliefen Demonstrationen im Dezember generell friedlicher als in den Wochen davor, doch nahmen gezielte Tötungen und Fälle von Verschwindenlassen von AktivistInnen zu (ACLED, 18. Dezember 2019, S.1 (/de/dokument/2021672.html)).

UNAMI erhielt übereinstimmende Berichte, wonach MenschenrechtsaktivistInnen explizite Warnungen und Morddrohungen erhielten, nicht an Demonstrationen teilzunehmen (UNAMI, Oktober 2019, S.8 (/de/dokument/2019889.html)). Am 2. Oktober wurden der Aktivist und Karikaturist Hussein Adel Madani und seine Frau von unbekannten Angreifern in ihrer Wohnung in Basra erschossen. Lokalen Medienberichten zufolge sollen beide zuvor an Demonstrationen teilgenommen haben (BAMF, 7. Oktober 2019, S.4 (/de/dokument/2018354.html)). Amnesty International berichtet weiters von Entführungen und von Fällen von Verschwindenlassen von AktivistInnen, darunter eines Anwalts, der DemonstrantInnen vertrat, sowie eines Arztes (AI, 18. Oktober 2019 (/de/dokument/2018594.html)). OMCT dokumentierte im November eine weitere Entführung, sowie einen Mord an AktivistInnen (OMCT, 12. November 2019 (/de/dokument/2019912.html)). Laut von Amnesty International geführten Interviews sollen in der ersten Dezemberhälfte mehrere DemonstrantInnen und AktivistInnen, meist auf dem Weg nach Hause von Protesten, gezielt entführt, angeschossen oder getötet worden sein (AI, 13. Dezember 2019 (/de/dokument/2021324.html)).

Human Rights Watch berichtet nach Interviews mit MedizinerInnen im November, dass die irakischen Sicherheitskräfte seit Beginn der Protestwelle am 25. Oktober 2019 medizinische Mitarbeiter wegen der Behandlung von DemonstrantInnen angegriffen und mit Tränengas und scharfer Munition auf medizinische Mitarbeiter, Zelte und Krankenwagen geschossen hätten (HRW, 14. November 2019 (/de/dokument/2020037.html)).

Eine Anzahl von Medien berichtete im Jänner 2020, dass die Angriffe gegen AktivistInnen fortgesetzt wurden, mit teils tödlichem Ausgang (Basnews, 14. Jänner 2020(http://www.basnews.com/index.php/en/news/iraq/574190)[xvi], RFE/RL, 18. Jänner 2020 (/de/dokument/2023031.html), Al-Monitor, 21. Jänner 2020 (https://www.almonitor.com/pulse/originals/2020/01/iraq-protests-baghdad-nasiriyah.html)) [xvii]. Amnesty International bestätigt Ende Jänner weiters den Einsatz von scharfer Munition und tödlichen Rauchgranaten gegen Demonstrierende. AktivistInnen waren außerdem Einschüchterungen, Verhaftungen und Folter ausgesetzt (AI, 23. Jänner 2020 (/de/dokument/2023297.html)).

Anfang Februar entzog der einflussreiche schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr der Protestbewegung seine Unterstützung (Al Monitor, 3. Februar 2020 (https://www.almonitor.com/pulse/originals/2020/01/iraq-protests-muqtada-sadr.html)). In Folge kam es zu Angriffen von Unterstützern des Klerikers auf Protestlager der DemonstrantInnen (NPR, 21. Februar 2020 (https://www.npr.org/2020/02/21/807725624/iraqs-powerfulprotests-forced-political-change-now-they-re-nearly-crushed)[xviii], Haaretz, 15. Februar 2020 (https://www.haaretz.com/middle-east-news/iraq/.premium-upcoming-millionman-protests-threaten-new-havoc-in-baghdad-1.8531699)[xix]). Bei Zusammenstößen der zwei Gruppen wurden am 5. Februar im Nadschaf mindestens acht DemonstrantInnen getötet und mehr als 50 verletzt (RFE/RL, 6. Februar 2020). Aus Bagdad wurde berichtet, dass sich Anhänger Sadrs in Nachahmung der Friedenstruppen der Vereinten Nationen blaue Schirmmützen aufsetzten, Zelte durchsuchten, DemonstrantInnen aus ihren Hauptquartieren warfen und einige der DemonstrantInnen den irakischen Sicherheitskräften zur Festnahme übergaben ((/de/dokument/2024704.html) NPR, 21. Februar 2020 (https://www.npr.org/2020/02/21/807725624/iraqs-powerful-protests-forced-politicalchange-now-they-re-nearly-crushed)). Laut UNAMI wurden am Abend des 14., 15. und 16. in Bagdad friedliche DemonstrantInnen mit „Jagdwaffen“ angegriffen, wobei mindestens 50 verletzt wurden ((/de/dokument/2024704.html)UNAMI, 17. Februar 2020 (http://www.uniraq.com/index.php?option=com_k2&view=item&id=11855:unrepresentative-hennis-plasschaert-deplores-use-of-hunting-guns,-renews-call-forprotection-of-demonstrators&Itemid=605&lang=en)). Berichten zufolge wurde am 23. Februar ein Demonstrant von Sicherheitskräften im Zentrum von Bagdad erschossen und mindestens sechs wurden verletzt ((/de/dokument/2024704.html)The Republic, 23. Februar 2020 (http://www.therepublic.com/2020/02/23/ml-iraq-protests/)[xx]). (/de/dokument/2024704.html)

5.       Angriffe gegen JournalistInnen und Medien

Reporter ohne Grenzen (RSF) und UNAMI berichten im Oktober 2019 von Verhaftungen, Einschüchterungen und Belästigungen von JournalistInnen (RSF, 4. Oktober 2019(/de/dokument/2017597.html)[xxi], UNAMI, Oktober 2019, S.7(/de/dokument/2019889.html)).

Am 5. Oktober dokumentierte UNAMI fünf Razzien bei Satellitenfernsehkanälen im Zentrum Bagdads, die sich mit den Demonstrationen befasst hatten. Mitarbeiter wurden von Männern in schwarzen Uniformen ohne Abzeichen und mit verhüllten Gesichtern angegriffen. Räumlichkeiten wurden untersucht, Festplatten und Computer gestohlen und Gebäude in Brand gesetzt (UNAMI, Oktober 2019, S.8 (/de/dokument/2019889.html)). RSF nannte Al-Arabiya, Dijlah TV, NRT und Alghad TV als betroffene Fernsehsender (RSF, 8. Oktober 2019 (/de/dokument/2018003.html)).

Die Regierung sperrte den Zugang zu sozialen Medien am Nachmittag des 2. Oktober, bevor sie die Internetverbindung vom 3. bis zum 9. Oktober vollständig blockierte (UNAMI, Oktober 2019, S.8 (/de/dokument/2019889.html)). Human Rights Watch berichtet, dass der Internetzugang in weiterer Folge auch Anfang November größtenteils gesperrt war. Laut NetBlocks, einer unabhängigen internationalen Gruppierung, die Internetzugang überwacht, gehörten die Störungen im Irak zu den schwerwiegendsten, die im Jahr 2019 in einem Land beobachtet wurden (HRW, 10. November 2019 (/de/dokument/2019802.html)).

Auch in der zweiten Phase der Protestwelle beobachtete UNAMI eine Fortsetzung der Bemühungen der Regierung, die Berichterstattung über die Demonstrationen zu unterdrücken, einschließlich Erklärungen, die möglicherweise als Einschüchterungsversuche gegenüber den Medien angesehen werden könnten, und einer anhaltenden Sperrung des Zugangs zu sozialen Medien. Am 25. und 26. Oktober berichteten lokale Medienbüros von Dijlah TV, Al Sharqiya News, NRT, Al-Arabiya, AlHadath sowie Al Hurra, dass sie suspendiert oder ihre Arbeit anderweitig unterbrochen wurde (UNAMI, November 2019, S.6 (/de/dokument/2019890.html)).

Am 21. November 2019 veröffentlichte die Kommunikations- und Medienkommission, die staatliche Regulierungsbehörde für Medien im Irak, ein Schreiben, in dem die Schließung der folgenden Kanäle für drei Monate angeordnet wurde: Al-Arabiya AlHadath, NRT, ANB, Dijlah, Al-Sharqiya, Al-Falludscha, Al-Rasheed und Hona Bagdad, zusätzlich zur Verlängerung der Schließung von Al-Hurra um weitere drei Monate (OMCT, 3. Dezember 2019 (/de/dokument/2020812.html)).

JournalistInnen, die über Demonstrationen berichteten, waren weiterhin dem Risiko von Verletzungen und Festnahmen ausgesetzt (UNAMI, November 2019, S.6 (/de/dokument/2019890.html)). Laut einem Bericht der Press Freedom Advocacy Association wurden 33 JournalistInnen im Oktober 2019 von Mitgliedern unbekannter Milizen mit dem Tode bedroht (Rudaw, 1. November 2019 (https://www.rudaw.net/arabic/middleeast/iraq/0111201913))[xxii].

RSF berichtet außerdem von der Erschießung des Schriftstellers und Journalisten Amjed Al-Dahamat am 7. November, sowie der Entführung von Muhammad Al-Shamari, Mitglied des irakischen Observatoriums für Pressefreiheit (RSF, 22. November 2019 (/de/dokument/2020650.html)). Am 10. Jänner 2020 wurden zwei weitere Journalisten, Ahmad Abdelsamad, ein Reporter des irakischen Fernsehsenders Dijlah TV, und sein Kameramann Safaa Ghali, in Basra von unbekannten bewaffneten Männern erschossen, nachdem sie über Anti-Regierungs-Proteste berichtet hatten (RSF, 11. Jänner 2020 (/en/document/2022537.html)).

6.       Angriffe auf Büros pro-iranischer Milizen vonseiten der DemonstrantInnen

Das Carnegie Middle East Center zitiert den Forscher Aymenn Jawad al-Tamimi, der aussagt, dass sich die antiiranische Stimmung der irakischen DemonstrantInnen unter anderem durch Brandanschläge auf Stützpunkte iranisch unterstützter Fraktionen innerhalb der Volksmobilisierungskräfte (PMF) wie Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr Organisation und Harakat al-Abdal in mehreren Provinzen Iraks Ausdruck verliehen habe (Carnegie Middle East Center, 14. November 2019 (https://carnegiemec.org/diwan/80313)[xxiii]). Am Wochenende vom 4. bis 5. Oktober setzten DemonstrantInnen zum Beispiel die Büros führender schiitischer islamistischer Parteien oder Milizen in Nasiriya (einschließlich Daawa, Hikma und Asai‘b Ahl al-Haq) in Brand (ICG, 10. Oktober 2019 (/de/dokument/2018263.html)).

In Karbala griffen DemonstrantInnen am 3. November das iranische Konsulat an (RFE/RL, 4. November 2019 (/de/dokument/2019395.html)). In Nadschaf setzten DemonstrantInnen drei Wochen später das iranische Konsulat der Stadt in Brand (BBC, 28. November 2019 (/de/dokument/2020689.html)). Dasselbe Konsulat wurde am 1.

Dezember ein weiteres Mal in Brand gesetzt (RFE/RL, 1. Dezember 2019 (/de/dokument/2022938.html)).

Die mangelnde Reaktion der DemonstrantInnen auf die Tötung General Soleimanis schuf eine weitere Kluft zwischen DemonstrantInnen und PMF, die laut einer Zusammenstellung von ACLED im Jänner zu Gewaltakten der PMF gegen DemonstrantInnen und Angriffe der Protestierenden gegen PMF Büros führte (ACLED, 16. Jänner 2020 (/de/dokument/2022928.html)). Laut Basnews setzten am 13. Jänner 2020 DemonstrantInnen in Karbala ein Hauptquartier der Badr-Organisation in Brand (Basnews, 14. Jänner 2020 (http://www.basnews.com/index.php/en/news/iraq/574190)).

[…]“

Quellen:

?        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research an Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Irak: Aktuelle politische Entwicklungen – Protestlage vom 04.03.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025864.htm, mwN (Zugriff am 09.03.2020) mit weiteren Nachweisen

Ergänzend zum in das Verfahren zur Verhandlungsvorbereitung eingeführten Konvolut an Länderberichten ergibt sich aus den Kurzinformationen vom 30.10.2019 des BFA-Länderinformationsblattes zum Irak:

„[…]

Die folgende Karte von liveuamap zeigt die Einteilung des Irak in offiziell von der irakischen Zentralregierung kontrollierte Gouvernements (in rosa), die autonome Region Kurdistan (KRI) (in gelb) und Gebiete unter der weitgehenden Kontrolle von Gruppen des Islamischen Staates (IS) (in grau). Die Symbole kennzeichnen dabei Orte und Arten von sicherheitsrelevanten Vorfällen, wie Luftschläge, Schusswechsel/-attentate, Sprengstoffanschläge/Explosionen, Granatbeschuss, u.v.m.

Quelle: Liveuamap - Live Universal Awareness Map (1.10.2019): Map of Iraq, https://iraq.liveuamap.com/en/time/01.10.2019, Zugriff 1.10.2019

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).

Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 7.8.2019). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Am 7.7.2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der USgeführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal 9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).

Die folgende Grafik von Iraq Body Count (IBC) stellt die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar (IBC 9.2019).

Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019

Die folgende Tabelle des IBC gibt die Zahlen der Todesopfer an. Für Juli 2019 sind 145 zivile Todesopfer im Irak ausgewiesen. Im August 2019 wurden von IBC 93 getötete Zivilisten im Irak dokumentiert und für September 151 (IBC 9.2019).

Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den Gesamtirak im Lauf des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 83 Tote und 119 Verletzten verzeichnet. 18 Tote gingen auf Leichenfunde von Opfern des IS im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im Juli auf 65 reduziert werden kann. Es war der zweite Monat in Folge, in dem die Vorfallzahlen wieder zurückgingen. Dieser Rückgang wird einerseits auf eine großangelegte Militäraktion der Regierung in vier Gouvernements zurückgeführt [Anm.: „Operation Will of Victory“; Anbar, Salah ad Din, Ninewa und Diyala, siehe oben], wobei die Vorfallzahlen auch in Gouvernements zurückgingen, die nicht von der Offensive betroffen waren. Der Rückgang an sicherheitsrelevanten Vorfällen wird auch mit einem neuerlichen verstärkten Fokus des IS auf Syrien erklärt (Joel Wing 5.8.2019).

Im August 2019 verzeichnete Joel Wing 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 103 Toten und 141 Verletzten. Zehn Tote gingen auf Leichenfunde von Jesiden im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der Todesfälle im August auf 93 angepasst werden kann. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um einen Angriff einer pro-iranischen PMF auf eine Sicherheitseinheit von British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld bei Basra (Joel Wing 9.9.2019).

Im September 2019 wurden von Joel Wing für den Gesamtirak 123 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019).

Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).

Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian 29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019).

BAGDAD

Der IS versucht weiterhin seine Aktivitäten in Bagdad zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Fast alle Aktivitäten des IS im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019). Im Juli gelang es dem IS zwei Selbstmordattentate im Gouvernement auszuführen, weswegen Bagdad die Opferstatistik des Irak in diesem Monat anführte (Joel Wing 5.8.2019). Sowohl am 7. als auch am 16. September wurden jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Während der Proteste im Südirak im Oktober 2019, von denen auch Bagdad betroffen war, stoppte der IS seine Angriffe im Gouvernement (Joel Wing 16.10.2019).

Im Juli 2019 wurden vom Irak-Experten Joel Wing im Gouvernement Bagdad 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 27 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 14 Vorfälle erfasst, mit neun Toten und elf Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verwundeten (Joel Wing 16.10.2019).

AUTONOME REGION KURDISTAN / KURDISCHE REGION IM IRAK

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaimaniya attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Autonomen Region Kurdistan] bemannt war. Der Angriff erfolgte in drei Phasen: Auf einen Schussangriff folgte ein IED-Angriff gegen eintreffende Verstärkung, gefolgt von Mörserbeschuss. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August wurde in Sulaimaniya ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019).

Die am 27. Mai initiierte türkische „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak hält an. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vgl. Rudaw 13.7.2019). Die zweite Phase begann am 12. Juli und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Aktuell befindet sich die Operation in der dritten Phase (ACLED 4.9.2019)

Im Kreuzfeuer wurden in den vergangenen Wochen mehrere kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vgl. ACLED 7.8.2019).

Am 10. und 11. Juli bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaimaniya, wobei ein Kind getötet wurde (Al Monitor 12.7.2019). In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen (Reuters 12.7.2019).

NORD- UND ZENTRALIRAK

In den sogenannten “umstrittenen Gebieten“, die sowohl von Bagdad als auch von der kurdischen Autonomieregion beansprucht werden, und wo es zu erhebliche Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen, durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Trotz der Zunahme der Sicherheitsvorfälle im gesamten Irak waren die Zahlen im Laufe des Monats August 2019 für den Zentral-Irak jedoch rückläufig (Joel Wing 9.9.2019).

Im Gouvernement Ninewa wurden im Juli 2019 sechs Vorfälle mit 24 Toten verzeichnet, wobei hier der Fund von 18 Leichen älteren Datums eingerechnet ist (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden neun Vorfälle mit 24 Toten und drei Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019). Im September wurden 22 Vorfälle mit 35 Toten und 27 Verletzten registriert, wobei bei fast allen diesen Vorfällen IEDs involviert waren. Außerdem wurde ein Mukhtar ermordet und Mossul mit Mörsergranaten beschossen (Joel Wing 16.10.2019).

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019). Der IS ist stark in der Region vertreten und konnte seine operativen Fähigkeiten erhalten (Joel Wing 5.8.2019). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den rauen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.8.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019). Einerseits vertreibt der IS Zivilisten aus ländlichen Gebieten, um dort Basen zu errichten, anderseits greift er wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte an (Joel Wing 9.9.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala, konzentriert sich aber besonders auf die Bezirke Khanaqin und Jalawla im Nordosten, welche die Zentralregierung nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum von 2017 übernommen hat (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betreffen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gibt es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Für Juli 2019 verzeichnete Joel Wing im Gouvernement Diyala 28 sicherheitsrelevante Vorfälle mit elf Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 41 Vorfälle – die höchste Anzahl seit August 2018, mit 21 Toten und 46 Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019) und im September 37 Vorfälle mit 21 Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019). Im September schlug der IS in fast allen Distrikten des Gouvernements zu (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück. Im Juli gab es eine Reihe von Raketen- und Mörserangriffen auf Städte und Sicherheitskräfte, ansonsten handelte es ich bei den Vorfällen meist um Schießereien und den Einsatz von IEDs (Joel Wing 5.8.2019). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Kirkuk wurden im Juli 2019 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit sechs Toten und 13 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 19 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 34 Toten und 19 Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September 22 Vorfälle mit elf Toten und 19 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Salah ad-Din wurden im Juli 2019 acht Vorfälle mit zehn Toten und acht Verletzten registriert. Zu den Vorfällen zählten zwei Feuergefechte und ein Angriff auf einen Checkpoint (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden sieben Vorfälle mit vier Toten und fünf Verwundeten verzeichnet (Joel Wing 9.9.2019) und im September zehn Vorfälle mit 13 Toten und zehn Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).

Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum, wird nun hauptsächlich für den Transit von ISKämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat in den vergangenen Monaten stark fluktuiert (Joel Wing 5.8.2019).

Im Gouvernement Anbar wurden im Juli 2019 fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und 14 Verletzten registriert (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 waren es vier Vorfälle mit sechs Toten und neun Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September vier Vorfälle mit 19 Toten (Joel Wing 16.10.2019).

SÜDIRAK

Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019).

Im Gouvernement Babil wurden im Juli 2019 drei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und fünf Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August waren es acht Vorfälle mit fünf Toten und 48 Verletzten. Es handelt sich dabei um die höchste Zahl an Vorfällen seit Juni 2018. Darunter befand sich ein schwerer Angriff mit einer Motorradbombe (VBIED) auf einen Markt im Norden des Gouvernements (Joel Wing 9.9.2019). Im September waren es wieder drei Vorfälle mit einem Toten und fünf Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).

Im Gouvernement Kerbala wurde im Juli ein Vorfall mit einem Toten und drei Verletzten verzeichnet. Es handelte sich dabei um den Einsatz einer Haftbombe an einem Auto (Joel Wing 5.8.2019). Im September wurde ein sicherheitsrelevanter Vorfall mit zwölf Toten und fünf Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019). Hierbei wurde an einem Checkpoint im Norden von Kerbala Stadt eine Autobombe gezündet (Joel Wing 16.10.2019; vgl. VOA 21.9.2019). Von Sicherheitskräften entdeckte Waffenlager des IS weisen darauf hin, dass dieser über eine große Menge an Sprengmitteln verfügt (Joel Wing 16.10.2019).

In Basra wurde im August ein Vorfall ohne Opfer registriert. Es handelte sich dabei um eine gegen British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld gerichtete IED (Joel Wing 9.9.2019). Demonstrationen gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Grundversorgung halten an, wobei iranisch unterstützte PMFs beschuldigt werden, sich an der Unterdrückung der Proteste zu beteiligen und Demonstranten und Menschenrechtsaktivisten anzugreifen (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera

25.10.2019).

Quellen:

BFA Staatendokumentation: Kurzinformation zu Irak, Sicherheitsupdate 3. Quartal 2019 und jüngste Ereignisse, 30.10.2019 als Teil des Sicherheitsupdates des Länderinformationsblattes Irak vom 30.10.2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019056.html mwN (Zugriff am 20.11.2019) mit weiteren Nachweisen

ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middleeast-2-october-2019/, Zugriff 7.10.2019

ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (4.9.2019): Regional Overview – Middle East 4 September 2019, https://www.acleddata.com/2019/09/04/regional-overviewmiddle-east-4-september-2019/, Zugriff 2.10.2019

ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (17.7.2019): Regional Overview – Middle East 17 July 2019, https://www.acleddata.com/2019/07/17/regional-overview-middleeast-17-july-2019/, Zugriff 2.10.2019

Al Jazeera (25.10.2019): Dozens killed as fierce anti-government protests sweep Iraq, https://www.aljazeera.com/news/2019/10/dozens-killed-fierce-anti-government-demonst

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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