Entscheidungsdatum
23.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W150 2198702-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KLEIN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 1999 , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, ZVR-Zahl 460937540, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29.05.2018, Zl. 1105456004 – 160248541/BMI_BF_STM_AST_01_TEAM_03, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.06.2020, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird in sämtlichen Punkten als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein lediger wie auch kinderloser Staatsangehöriger Afghanistan, welcher der ethnischen Gruppe der Paschtunen angehört sowie sich selbst als sunnitischen Moslem definiert, stellte am 16.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Genannten statt. Hinsichtlich seiner ethnischen Zugehörigkeit behauptete der Rechtsmittelwerber Tadschike zu sein (vgl. Seite 11 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes), sowie über keinerlei Schul- oder Berufsausbildung zu verfügen, wenngleich er den Beruf des Fliesenlegers ausgeübt hätte. Sein Vater wäre etwa 50 seine Mutter ungefähr 45 Jahre alt und verfüge er darüber hinaus auch noch über drei minderjährige Schwestern und ebensoviele – teilweise volljährige – Brüder.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Asylwerber im Wesentlichen an, wonach er aus Angst vor einem wohlhabenden Mann und dessen Familie sein Heimatland verlassen habe. Konkret hätte dieser in XXXX mit seinem Motorrad einen anderen Verkehrsteilnehmer überfahren und sei letzterer in weiterer Folge an den daraus erlittenen Verletzungen verstorben. Der Unfalllenker hätte daraufhin vom Bruder des Antragtellers namens XXXX verlangt, dass dieser nunmehr die Schuld mit sämtlichen daraus resultierenden Konsequenzen auf sich nehmen solle, was selbiger jedoch verweigert habe. Stattdessen wäre der wohlhabende Motorradfahrer von der Polizei festgenommen worden. In weiterer Folge sei es dann zu einem Racheakt von Seiten der Brüder des Unfallenkers gekommen, in deren Verlauf der zuvor erwähnte Bruder des Beschwerdeführers verprügelt worden wäre. Der Rechtsmittelwerber selbst sei ebenso wie auch sämtliche seiner anderen männlichen Geschwister nunmehr nicht mehr sicher, zumal „sie uns alle töten wollten (Seite 19 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).“ Im Gegensatz zu ihm selbst wären seine Brüder allerdings „noch in Afghanistan (Seite 19 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).“ Im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland befürchte der Rechtsmittelwerber nunmehr nicht näher dargelegte Aktionen seitens der Brüder des reichen Unfalllenkers. „Das sind alle meine Fluchtgründe. Ich habe sonst keine weiteren Fluchtgründe (Seite 19 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).“
2. Am 22.05.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.
Anlässlich seiner Ersteinvernahme habe er stets die Wahrheit gesagt und wäre ihm anschließend das Protokoll rückübersetzt worden, wobei alles den Tatsachen entsprochen hätte.
Uneingeschränkt gesund und arbeitsfähig, würde er seine zwischenzeitlich erworbenen Deutschkenntnisse als „mittelmäßig“ einstufen. Als Analphabet könne der Genannte aber weder schreiben noch lesen.
Den Entschluss, sein Herkunftsland zu verlassen, hätte der Asylwerber ungefähr zwei Monate vor seiner tatsächlichen Ausreise in Abstimmung mit seiner nach wie vor in XXXX lebenden Familie gefasst. Zwischenzeitlich würde einer seiner Brüder allerdings in der Türkei, ein anderer im Iran leben.
Abgesehen von seiner Berufstätigkeit als Fliesenleger, welche er bis eine Woche vor seiner illegalen Ausreise ausgeübt habe, würde sich sein Alltag in Österreich nicht von jenem in Afghanistan unterscheiden.
Fluchtauslösend sei ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht gewesen, den einer seiner Brüder als Passant zufällig beobachtet hätte. Der Polizei gegenüber habe der zunächst selbst als Verdächtiger verhaftete Zeuge dann seine Wahrnehmungen realitätskonform zu Protokoll gegeben und im Zuge dessen auch den Namen und die Adresse des davongeeilten Motorradfahrers genannt. Im Rahmen der daraufhin eingeleiteten Überprüfung der Aussagen des Bruders sei dann die zuständige Sicherheitsbehörde auf das Unfallfahrzeug gestoßen, welches auch noch deutlich sichtbare Spuren von der Kollision aufgewiesen hätte. Der Motorradfahrer wäre angesichts dieser Faktenlage sofort festgenommen und der Bruder des Antragstellers dafür enthaftet worden. Noch am selben Abend seien dann zwei Männer am Wohnort der Familie des Genannten erschienen, um in weiterer Folge den Unfallzeugen dazu zu bewegen, ein Geständnis anstelle des eigentlich Verantwortlichen abzulegen. Im Gegenzug sei diesem zugesichert worden, ihn nach kurzer Zeit am Korruptionsweg aus der Strafhaft freizukaufen – eine Vorgangsweise, welche vom ebenfalls anwesenden Vater des Beschwerdeführers entschieden zurückgewiesen worden wäre. Wenngleich es aufgrund der solcherart hochgekochten Emotionen aller Beteiligten zu diversen Drohungen sowie einer kurzen Rangelei gekommen sei, wären die beiden Männer kurze Zeit später aber wieder gegangen.
Zehn Tage später habe man den Unfallzeugen von dessen Arbeitsplatz unter dem Vorwand, einen Bauauftrag mit diesem abschließen zu wollen, weggelockt und anschließend schwer verprügelt. Das Opfer hätte sich erfolgreich totgestellt und dadurch allfällige lebensbedrohliche Verletzungen verhindert. Polizisten wäre es schließlich zu verdanken gewesen, dass der Verletzte am nächsten Tag gefunden und noch rechtzeitig ins Krankenhaus eingeliefert werden hätte können. Durch diesen dramatischen Vorfall wäre allen Mitgliedern der Familie der Ernst der Lage zu Bewusstsein gekommen und habe man nunmehr die knapp zwei Wochen zurückliegenden Drohungen der beiden ungebetenen Besucher deutlich ernster genommen. Der Vater des Rechtsmittelwerbers hätte daraufhin den Entschluss gefasst, wonach seine ältesten Söhne ausreisen sollten. Einer der Brüder des Asylwerbers sei dann zunächst nach XXXX gegangen, um dort sein Studium erfolgreich beenden zu können, wäre aber mittlerweile zu einem in der Türkei lebenden Bruder übersiedelt, da angeblich ein Attentäter auf ihn angesetzt worden sein soll.
Trotz der dramatischen Auswirkungen des tödlichen Verkehrsunfalls würden keinerlei Zeitungsberichte oder Photos existieren, die nunmehr als Beweismittel beigeschafft werden könnten. Wann genau dieses Ereignis stattgefunden habe, könne der Beschwerdeführer auch nicht sagen. Die zuständigen Sicherheitsbehörden diesbezüglich zu kontaktieren wäre nach Ansicht des Rechtsmittelwerbers ebenfalls aussichtslos, da sich diese in der Vergangenheit nicht als sehr hilfreich erwiesen hätten, obwohl sein Vater eine entsprechende Anzeige erstattet habe. Eine Bestätigung könne er aber weder vorlegen noch beschaffen. Auf entsprechende Nachfrage seitens des Einvernahmeleiters musste der Antragsteller schließlich einräumen, wonach tatsächlich überhaupt keine Anzeige stattgefunden hätte.
Was aus dem wohlhabenden Unfallenker letztlich geworden sei, entziehe sich der Kenntnis des Genannten, aber „glaube ich, er ist jetzt auf freiem Fuß, er kam gegen Bestechung frei (Seite 118 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).“ Generell wäre es gängige Praxis, durch Geldzahlungen an die Hinterbliebenen deren Zustimmung zur Freilassung des Täters zu erwirken. Wie lange der Unfallenker im vorliegenden Fall tatsächlich im Gefängnis gesessen beziehungsweise ob dieser mittlerweile schon wieder frei sei, könne der Rechtsmittelwerber nicht mit Sicherheit sagen.
Eine innerstaatliche Wohnsitzverlegung wäre dem Asylwerber nicht hinreichend sicher erschienen, zumal der Täter wie auch dessen Brüder Mitglieder einer gefährlichen kriminellen Vereinigung namens „ XXXX “ angehören würden. Diese radikalislamische Organisation würde insgesamt über bis zu 300 Männer verfügen und „sogar gegen die Amerikaner Krieg führen (Seite 119 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).“
Als Begründung, weshalb sein Vater weiterhin völlig problemlos unter seiner bisherigen Wohnadresse leben könne, führte der Antragsteller dessen hohes Alter von „52“ ins Treffen. Auch den weiblichen Familienmitgliedern drohe aufgrund deren Geschlechtszugehörigkeit keinerlei Gefahr. Der jüngste Bruder wäre wiederum nicht alt genug, um bedroht zu sein. Ein Familienphoto existiere nicht, weshalb die Präsentation eines solchen als Beweismittel auch nicht möglich sei.
Er selbst habe nur einmal, im Rahmen des zuvor geschilderten Besuchs zweier Männer, direkten Kontakt zu Vertretern dieser Personengruppe gehabt. Die Nichtumsetzung der bei dieser Gelegenheit geäußerten Morddrohung über Monate hindurch bis zu seiner Ausreise erkläre sich der Genannte spekulativ mit der potentiellen Angst der Fundamentalisten vor der Polizei oder den Nachbarn seiner Familie.
Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte der Beschwerdeführer Racheaktionen der in Rede stehenden Gruppe gegen seine Person.
Weder im Bundesgebiet noch in sonstigen Teilen Europas verfüge er über Verwandte. Zu seinen Nachbarn in Österreich pflege er ein gutes Verhältnis und lerne er mit einer Vertrauensperson Deutsch.
3. Mit Bescheid vom 29.05.2018, Zl. 1105456004 – 160248541/BMI_BF_STM_AST_01_TEAM_03, wies die Erstinstanz den Antrag des Beschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG wurde Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, wonach der Genannte keinerlei Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht hätte. Im vorliegenden Fall hätte keine individuelle Gefährdungslage in Bezug auf den Asylwerber festgestellt werden können und bestehe zudem eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative.
Insgesamt sei die behauptete Fluchtgeschichte ausgesprochen lebensfremd und unplausibel geschildert worden, wobei auch diverse gravierende Wiedersprüche zutage getreten wären.
Subsidiärer Schutz würde ihm nicht zuerkannt, da im Falle seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes auf Grund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe.
Dass der Beschwerdeführer über keinerlei nennenswerte private oder familiäre Bindungen im Bundesgebiet verfüge, ergebe sich aus seinen eigenen diesbezüglichen Angaben. Es liege keine berücksichtigungswürdige Eingliederung in die österreichische Gesellschaft vor, es seien lediglich vereinzelte Integrationsschritte gesetzt worden und sei der Genannte seit seiner illegalen Einreise mangels Selbsterhaltungsfähigkeit permanent von Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand abhängig.
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Rechtsmittelwerber über seinen rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde. Inhaltlich wurde zentral auf die aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen.
5. Am 22.06.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden die Fluchtgründe, die maßgebliche Lage in Afghanistan, das Privat- und Familienleben des Rechtsmittelwerbers und seine Integrationsschritte erörtert.
Uneingeschränkt gesund und verhandlungsfähig, benötige er auch keinerlei Medikamente.
In der Provinz XXXX aufgewachsen, hätte der Asylwerber stets in unmittelbarerer Nähe zur gleichnamigen Stadt gelebt. So sei sein Heimatdorf lediglich 15 Autominuten von der Provinzhauptstadt entfernt gelegen und habe er dort sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise verbracht.
Dokumente, welche seine Person oder nahe Angehörige beträfen, könne der Antragsteller weder vorlegen noch aus seiner Heimat beischaffen.
Wenngleich sunnitischer Moslem, würde er seine Religion seit seiner illegalen Einreise nach Österreich nicht mehr aktiv praktizieren.
Ethnisch einer Untergruppe der Paschtunen zugehörig sei seine Muttersprache dennoch Dari.
Seine Eltern würden ebenso wie auch seine drei noch ledigen Schwestern nach wie vor in seinem Heimatdorf leben, der jüngste seiner insgesamt fünf Brüder hingegen in XXXX .
Im Bundesgebiet oder anderen europäischen Ländern wären demgegenüber keine Verwandten des selbst noch ledigen und kinderlosen Beschwerdeführers aufhältig.
Ausbildungsmäßig könne er keinerlei Erfolge verbuchen, zumal „ich weder hier (Anmerkung: gemeint Österreich) noch in Afghanistan zur Schule gegangen bin (Seite 6 der Niederschrift vom 22.06.2020).“ Folgerichtig könne er weder schreiben noch lesen. Auch die deutsche Sprache habe der Genannte ohne Zuhilfenahme einer traditionellen Bildungseinrichtung zu erlernen versucht. „Keine Schule (Seite 6 der Niederschrift vom 22.06.2020).“ Seinen Namen und ein paar vereinzelte Worte respektive häufig wiederkehrende Standardfloskeln wäre er aber durchaus in der Lage zu schreiben.
Beruflich hätte der Asylwerber in seinem Herkunftsland seit seinem neunten Lebensjahr als Fliesenleger gearbeitet. „Genau kann ich es nicht sagen, aber mehr als drei Monate (Seite 6 der Niederschrift vom 22.06.2020).“ In weiterer Folge korrigierte dieser seine diesbezüglichen Angaben auf drei Jahre. Des Weiteren habe der Antragsteller aber auch seinem Vater in dessen Gewerbe, konkret An- du Verkauf von Schafen und Ziegen, ebenso geholfen, wie auch seinen Brüdern in deren Unternehmen, welches Bauteile für Dächer produziert hätte.
Auslöser für seine Flucht sei ein Vorfall gewesen, in dem nicht er selbst, sondern sein Bruder Bashir involviert gewesen wäre. Konkret habe dieser auf seinem Motorrad in einer Seitengasse der Ortschaft XXXX einen Verkehrsunfall zwischen einem anderen Motorradfahrer und einem Fußgänger wahrgenommen, in deren Verlauf der Passant zu Tode gekommen sei. Da selbst nicht an diesem tragischen Ereignis unmittelbar beteiligt, wäre der Bruder einfach weitergefahren. Die Polizei hätte dieses Verhalten jedoch zunächst als Fahrerflucht qualifiziert und daher den Zeugen der eigentlichen Tat verdächtigt. Verhaftet und auf dem Polizeirevier zum Unfallhergang einvernommen, habe der Bruder den Sachverhalt letztlich aufgeklärt. Da dieser zudem noch Namen und Adresse des ihm persönlich bekannten tatsächlichen Unfalllenkers angegeben hätte, sei er selbst umgehend freigelassen worden. An seiner Statt wäre der wahre Täter festgenommen worden. Den Unfallhergang habe aber außer dem Bruder und dem anderen selbst in die Kollision verwickelten Motorradfahrer niemand gesehen.
Am nächsten Tag hätten dann zwei Brüder des Täters die gemeinsame Wohnstätte der Familie aufgesucht und vorgeschlagen, wonach sich der Zeuge des Vorfalls als Täter vor der Exekutive schuldig bekennen solle. Als Gegenleistung würde diesem sodann ein hoher Geldbetrag ausgezahlt werden. Auch könne man dessen Haftentlassung binnen zehn Tage garantieren. Dieses Angebot sei vom ebenfalls anwesenden Vater des Beschwerdeführers brüsk zurückgewiesen worden, woraufhin sich eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den Besuchern und den männlichen Mitgliedern seiner Familie entsponnen habe. In deren Verlauf wären auch der Asylwerber sowie seine beiden älteren Brüder mit dem Tod bedroht worden, für den Fall einer endgültigen Weigerung, den Vorschlag anzunehmen.
Einige Tage später hätte sein Bruder XXXX telephonisch das Angebot für einen beruflichen Auftrag erhalten. Unter diesem Vorwand habe man diesen aus seinem Büro gelockt und schwer verprügelt. Die Schläge wären dermaßen massiv ausgefallen, dass dieser sein Bewusstsein verloren hätte und ins Koma gefallen sei. Die Angreifer wären in dieser Situation vermutlich davon ausgegangen, wonach ihr Opfer nunmehr tot sein müsse, weshalb sie ihre Attacken nicht weiter fortgesetzt, sondern stattdessen das Weite gesucht hätten. Der zufällig von Polizisten in einem Bach vorgefundene Bruder sei dann von diesen in ein Krankenhaus gebracht worden, wo einer der Bediensteten den Verletzten wiedererkannt habe. Ein daraufhin vom gemeinsamen Bekannten informierter anderer Bruder des Rechtsmittelwerbers wäre dann ins Spital gefahren, wo er den Patienten zweifelsfrei identifiziert hätte.
Nach zwei Wochen sei dann der schwer verletzte Bruder entgegen aller ärztlicher Prognosen aus dem Koma erwacht und über einen längeren Zeitraum hindurch wieder genesen. Da dieser Heilungsverlauf ursprünglich allerdings nicht erwartet worden wäre, sondern man sogar mit dem Tod des Opfers gerechnet hätte, habe der Vater der Familie in diesem Zeitraum den Entschluss gefasst, demzufolge der Beschwerdeführer das Land verlassen solle. „Mit diesem Gedanken hat er auch schon früher gespielt (Seite 15 der Niederschrift vom 22.06.2020).“
Im Falle seiner Rückkehr müsse sich der Genannte vor jenen Personen fürchten, die seinen Bruder krankenhausreif geschlagen hätten. Im Juni 2018 sei zudem jener Bruder, der bei seiner Tante aufgewachsen wäre, von vier bewaffneten Männern vor seinem Haus erschossen worden.
In Österreich verbringe er seine Zeit mit der Unterstützung seiner Nachbarin sowie künstlerischen Aktivitäten, insbesondere Malen. Auch habe er schon einen Sprachkurs absolviert.
Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde zudem ein Mal- und Gestaltungstherapeut zeugenschaftlich einvernommen, der dem Rechtsmittelwerber im Rahmen seiner Tätigkeit verschiedene Kunsttechniken nähergebracht hat. Dieser schilderte seine persönlichen Eindrücke in Bezug auf den Asylwerber.
Der Beschwerdeführer legte im Zuge seines Verfahrens folgende Dokumente und Schriftstücke vor:
- Arbeitsbestätigung der LEBENSHILFE – WERKSTATT – XXXX für den Zeitraum von Juli 2019 bis Februar 2019 über freiwillige Hilfstätigkeiten in der Tonwerkstatt, undatiert;
- Bestätigung der LEBENSHILFE XXXX über die Absolvierung eines Praktikums in einer Tonwerkstatt in der Zeit vom 11.06.2018 bis zum 13.07.2018, datiert vom 13.07.2018;
- Bestätigung der Marktgemeinde XXXX einer gemeinnützigen Beschäftigung im Ausmaß von 168 Stunden im Zeitraum zwischen August 2019 und Juni 2020, datiert vom 19.06.2020;
- Empfehlungsschreiben einer Sprachlehrerin, datiert vom 11.06.2020;
- Empfehlungsschreiben des in der Beschwerdeverhandlung als Zeugen einvernommenen Mal- und Gestaltungstherapeuts, datiert vom 10.06.2020;
- Empfehlungsschreiben und Arbeitsbestätigung des XXXX , datiert vom 10.06.2020;
- Empfehlungsschreiben einer ehrenamtlichen Helferin für Asylwerber, undatiert;
- Konvolut von insgesamt zehn Empfehlungsschreiben diverser Privatpersonen;
- Konvolut an Photos.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Die Identität des Asylwerbers konnte in Ermangelung unbedenklicher Urkunden respektive Personaldokumente nicht positiv festgestellt werden. Seine Muttersprache ist DARI und stammt er aus dem unmittelbaren lokalen Umfeld der Provinzhauptstadt XXXX . Konfessionell dem sunnitischen Islam zugehörig, ist der Rechtsmittelwerber ledig und kinderlos. Gänzlich ohne Schulbildung arbeitete der Analphabet zumindest drei Jahre lang als Fliesenleger und unterstützte zudem über mehrere Jahre hindurch seinen Vater im Handel mit Tieren sowie seine älteren Brüder in deren Unternehmen zur Herstellung von Dachmaterialien. Bis zu seiner Ausreise hat er mit seiner Kernfamilie (Eltern plus sechs Geschwister) im gleichen Haushalt in XXXX gewohnt. Der Genannte verfügt im Heimatland über familiäre Anknüpfungspunkte in Form beider Eltern, dreier Schwestern sowie einer Tante und zumindest eines Bruders. Generell gesund und arbeitsfähig, sind keine Hinweise auf lebensbedrohende oder schwerwiegende Krankheiten des Asylwerbers im Verfahren hervorgetreten und wurden solche auch nicht behauptet. Der Antragsteller gehört aufgrund seiner Gesundheit und seines jungen Alters nicht der Risikogruppe einer COVID-19 Erkrankung an.
1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich zumindest seit dem 16.02.2016 durchgehend in Österreich auf. Aktuell verfügt der Genannte über äußerst rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache, die ihm die Kommunikation über Dinge des täglichen Lebens partiell ermöglichen. Nach dem Besuch von Deutschkursen wurden keine Sprachprüfungen erfolgreich abgelegt. Der Rechtsmittelwerber beschäftigt sich primär künstlerisch und hat in der Vergangenheit diverse gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet, wobei dieser derzeit weder einer legalen Beschäftigung nachgeht oder eine Ausbildung absolviert. Als Analphabet, der des Schreibens und Lesens generell nicht mächtig ist, bezieht der Antragsteller seit seiner illegalen Einreise durchgehend Leistungen der öffentlichen Hand und sind Anstrengungen zu einer künftigen Selbsterhaltungsfähigkeit aktuell nicht ersichtlich.
Im österreichischen Bundesgebiet verfügt der Asylwerber weder über Kernfamilienmitglieder noch entfernte Verwandte.
Seine Zeit in Österreich verbringt der Genannte vorwiegend mit künstlerischen Aktivitäten und sozialen Kontakten.
Zum Entscheidungszeitpunkt erweist sich der Rechtsmittelwerber als unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Das vom Asylwerber ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen, er sei in seiner Eigenschaft als Bruder eines Unfallzeugens von den Brüdern des Unfalllenkers respektive Mitgliedern einer kriminellen radikalislamischen Organisation in der Größenordnung von landesweit ungefähr 300 Personen bedroht, wird aus nachfolgend im Detail ausgeführten Gründen ausdrücklich nicht festgestellt.
Es wird ausdrücklich nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat auf Grund einer konkreten individuellen Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe zu befürchten hätte.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Antragstellers in den Herkunftsstaat
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan kann der Rechtsmittelwerber grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen. Es wird festgestellt, dass er nicht in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten könnte. Im Falle einer Verbringung des Genannten in seinen Herkunftsstaat droht diesem daher kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Es wird nicht festgestellt, dass der Rechtsmittelwerber aufgrund seines in Österreich ausgeübten westlichen Lebensstils (selbstbestimmtes Leben, westlicher Kleidungsstil und westliches Frauenbild) in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Dem Genannten steht jedoch als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in eine der Städte KABUL, XXXX oder XXXX zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem Beschwerdeführer würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Die Städte KABUL, XXXX oder XXXX sind von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichbar.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan könnte die Familie des Asylwerbers diesen finanziell unterstützen.
Der Beschwerdeführer hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innenwohnenden Umständen eine Gewährung von subsidiärem Schutz auch bei einem niedrigeren Grad von willkürlicher Gewalt angezeigt hätten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
(Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, letzte Information 18.05.2020 - Anm.: die Quellenangaben finden sich in den Länderberichten selbst):
Neueste Ereignisse:
KI vom 4.6.2019, politische Ereignisse, zivile Opfer, Anschläge in Kabul, IOM (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 23/Rückkehr).
Politische Ereignisse: Friedensgespräche, Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl
Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, dieTaliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a). Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u. a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).
Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).
Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht.
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).
Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019). Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).
Anschläge in Kabul-Stadt
Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b). Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).
Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).
Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).
Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019).
Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019).
US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).
KI vom 26.3.2019, Anschläge in Kabul, Überflutungen und Dürre, Friedensgespräche, Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 21/Grundversorgung und Wirtschaft).
Anschläge in Kabul-Stadt
Bei einem Selbstmordanschlag während des persischen Neujahres-Fests Nowruz in Kabul-Stadt kamen am 21.3.2019 sechs Menschen ums Leben und weitere 23 wurden verletzt (AJ 21.3.2019, Reuters 21.3.2019). Die Detonation erfolgte in der Nähe der Universität Kabul und des Karte Sakhi Schreins, in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegend. Quellen zufolge wurden dafür drei Bomben platziert: eine im Waschraum einer Moschee, eine weitere hinter einem Krankenhaus und die dritte in einem Stromzähler (TDP 21.3.2019; AJ 21.3.2019). Der ISKP (Islamische Staat - Provinz Khorasan) bekannte sich zum Anschlag (Reuters 21.3.2019).
Während eines Mörserangriffs auf eine Gedenkveranstaltung für den 1995 von den Taliban getöteten Hazara-Führer Abdul Ali Mazari im überwiegend von Hazara bewohnten Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi kamen am 7.3.2019 elf Menschen ums Leben und 95 weitere wurden verletzt. Der ISKP bekannte sich zum Anschlag (AJ 8.3.2019).
Überflutungen und Dürre
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt (UN OCHA 19.3.2019). Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen (UN OCHA 19.3.2019). Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (IFRCRCS 17.3.2019).
Friedensgespräche
Kurz nach der Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und Vertretern der USA in Katar Ende Jänner 2019 fand Anfang Februar in Moskau ein Treffen zwischen Taliban und bekannten afghanischen Politikern der Opposition, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere "Warlords", statt (Qantara 12.2.201). Quellen zufolge wurde das Treffen von der afghanischen Diaspora in Russland organisiert. Taliban-Verhandlungsführer Sher Muhammad Abbas Stanaksai wiederholte während des Treffens schon bekannte Positionen wie die Verteidigung des "Dschihad" gegen die "US-Besatzer" und die gleichzeitige Weiterführung der Gespräche mit den USA. Des Weiteren verkündete er, dass die Taliban die Schaffung eines "islamischen Regierungssystems mit allen Afghanen" wollten, obwohl sie dennoch keine "exklusive Herrschaft" anstrebten. Auch bezeichnete er die bestehende afghanische Verfassung als "Haupthindernis für den Frieden", da sie "vom Westen aufgezwungen wurde"; Weiters forderten die Taliban die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Führer und die Freilassung ihrer gefangenen Kämpfer und bekannten sich zur Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder, zur Bekämpfung des Drogenhandels, zur Vermeidung ziviler Kriegsopfer und zu Frauenrechten.
Diesbezüglich aber nur zu jenen, "die im Islam vorgesehen seien" (z.B. lernen, studieren und sich den Ehemann selbst auswählen). In dieser Hinsicht kritisierten sie dennoch, dass "im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden" (Taz 6.2.2019). Ende Februar 2019 fand eine weitere Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und USVertretern in Katar statt, bei denen die Taliban erneut den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan forderten und betonten, die Planung von internationalen Angriffen auf afghanischem Territorium verhindern zu wollen.
Letzterer Punkt führte jedoch zu Meinungsverschiedenheiten: Während die USA betonten, die Nutzung des afghanischen Territoriums durch "terroristische Gruppen" vermeiden zu wollen und in dieser Hinsicht eine Garantie der Taliban forderten, behaupteten die Taliban, es gebe keine universelle Definition von Terrorismus und weigerten sich gegen solch eine Spezifizierung. Sowohl die Taliban- als auch die US-Vertreter hielten sich gegenüber den Medien relativ bedeckt und betonten ausschließlich, dass die Friedensverhandlungen weiterhin stattfänden. Während es zu Beginn der Friedensgesprächsrunde noch Hoffnungen gab, wurde mit Voranschreiten der Verhandlungen immer klarer, dass sich eine Lösung des Konflikts als "frustrierend langsam" erweisen würde (NYT 7.3.2019).
Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (Reuters 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019). Beispielsweise erklärte USUnterstaatssekretär David Hale am 18.3.2019 die Beendigung der Kontakte zwischen USVertretern und dem afghanischen nationalen Sicherheitsberater Hamdullah Mohib, nachdem dieser US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad und den Ausschluss der afghanischen Regierung aus den Friedensgesprächen öffentlich kritisiert hatte (Reuters 18.3.2019). Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Die Präsidentschaftswahl, welche bereits von April auf Juni 2019 verschoben worden war, soll Quellen zufolge nun am 28.9.2019 stattfinden. Grund dafür seien "zahlreiche Probleme und Herausforderungen" welche vor dem Wahltermin gelöst werden müssten, um eine sichere und transparente Wahl sowie eine vollständige Wählerregistrierung sicherzustellen - so die unabhängige Wahlkommission (IEC) (VoA 20.3.2019; vgl. BAMF 25.3.2019).
KI vom 22.1.2019, Anschlag auf Ausbildungszentrum des National Directorate of Security (NDS) in der Provinz Wardak und weitere (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage und Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Bei einem Anschlag auf einen Stützpunk des afghanischen Sicherheitsdienstes (NDS, National Directorate of Security) in der zentralen Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) kamen am 21.1.2019 zwischen zwölf und 126 NDS-Mitarbeiter ums Leben (TG 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019). Quellen zufolge begann der Angriff am Montagmorgen, als ein Humvee-Fahrzeug der U.S.- amerikanischen Streitkräfte in den Militärstützpunkt gefahren und in die Luft gesprengt wurde. Daraufhin eröffneten Angreifer das Feuer und wurden in der Folge von den Sicherheitskräften getötet (TG 21.1.2019; vgl. NYT 21.1.2019). Die Taliban bekannten sich zum Anschlag, der, Quellen zufolge, einer der tödlichsten Angriffe auf den afghanischen Geheimdienst der letzten 17 Jahre war (NYT 21.1.2019; IM 22.1.2019). Am selben Tag verkündeten die Taliban die Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den U.S.-amerikanischen Vertretern in Doha, Qatar (NYT 21.1.2019; vgl. IM 22.1.2019, Tolonews 21.1.2019).
Am Vortag, dem 20.1.2019, war der Konvoi des Provinzgouverneurs der Provinz Logar, Shahpoor Ahmadzai, auf dem Autobahnabschnitt zwischen Kabul und Logar durch eine Autobombe der Taliban angegriffen worden. Die Explosion verfehlte die hochrangigen Beamten, tötete jedoch acht afghanische Sicherheitskräfte und verletzte zehn weitere (AJ 20.1.2019; vgl. IM 22.1.2019).
Des Weiteren detonierte am 14.1.2019 vor dem gesicherten Green Village in Kabul, wo zahlreiche internationale Organisationen und NGOs angesiedelt sind, eine Autobombe (Reuters 15.1.2019). Quellen zufolge starben bei dem Anschlag fünf Menschen und über 100, darunter auch Zivilisten, wurden verletzt (TG 21.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019, RFE/RL 14.1.2019). Auch zu diesem Anschlag bekannten sich die Taliban (TN 15.1.2019; vgl. Reuters 15.1.2019).
KI vom 8.1.2019, Anschlag in Kabul und Verschiebung der Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage und Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Anschlag auf Regierungsgebäude in Kabul
Am 24.12.2018 detonierte vor dem Ministerium für öffentliches Bauwesen im Osten Kabuls (PD16) eine Autobombe; daraufhin stürmten Angreifer das nahe gelegene Gebäude des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte und beschossen weitere Regierungseinrichtungen in der Umgebung (ORF 24.12.2018; vgl. ZO 24.12.2018, Tolonews 25.12.2018). Nach einem mehrstündigen Gefecht zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Angreifern konnten diese besiegt werden. Quellen zufolge kamen ca. 43 Menschen ums Leben (AJ 25.12.2018; vgl. Tolonews 25.12.2018, NYT 24.12.2018). Bisher bekannte sich keine Gruppierung zum Anschlag (Tolonews 25.12.2018; vgl. AJ 25.12.2018).
Problematische Stimmenauszählung nach Parlamentswahlen und Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Am 6.12.2018 erklärte die afghanische Wahlbeschwerdekommission (IECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Somit wurden die Stimmen von ungefähr einer Million Kabulis annulliert (Telepolis 15.12.2018; vgl. TAZ 6.12.2018). Die Gründe für die Entscheidung der IECC seien mehrere, darunter Korruption, Wahlfälschung und die mangelhafte Durchführung der Wahl durch die Unabhängige Wahlkommission (IEC) (Telepolis 15.12.2018; vgl. RFE/RL 6.12.2018). Die Entscheidung wurde von der IEC als "politisch motiviert" und "illegal" bezeichnet (Tolonews 12.12.2018). Am 8.12.2018 erklärte die IECC dennoch, die Kommission würde ihre Entscheidung revidieren, wenn sich die IEC kooperationswillig zeige (Tolonews 8.12.2018). Einer Quelle zufolge einigten sich am 12.12.2018 die beiden Wahlkommissionen auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen, welche die Transparenz und Glaubhaftigkeit dieser wahren sollte; ca. 10% der Stimmen in Kabul sollen durch diese neue Methode nochmals gezählt werden (Tolonews 12.12.2018). Die Überprüfung der Wahlstimmen in der Provinz Kabul ist weiterhin im Gange (Tolonews 7.1.2019). Dem Gesetz zufolge müssen im Falle der Annullierung der Stimmen innerhalb von einer Woche Neuwahlen stattfinden, was jedoch unrealistisch zu sein scheint (Telepolis 15.12.2018). Bisher hat die IEC die vorläufigen Ergebnisse der Wahl für 32 Provinzen veröffentlicht (IEC o.D.).
Am 30.12.2018 wurde die Verschiebung der Präsidentschaftswahl vom 20.4.2019 auf den 20.7.2019 verkündet. Als Gründe dafür werden u.a. die zahlreichen Probleme während und nach den Parlamentswahlen im Oktober genannt (WP 30.12.2018; vgl. AJ 30.12.2018, Reuters 30.12.2018).
KI vom 19.10.2018, Aktualisierung: Sicherheitslage in Afghanistan - Q3.2018 (relevant für Abschnitt 3 / Sicherheitslage)
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019).
2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt (taz 3.8.2017; Reuters 25.3.2018).
Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Herat gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018 2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote) ACLED
Tote GIM
Vorfälle ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote) ACLED
Tote
Adraskan 3 6 23 1 11 24
Chishti Sharif 12 14 73 3 4 18
Enjil 1 1 2 3
Fersi 3 5 25 5 34
Ghoryan 5 28 3 17 53
Gulran 1 4 28 1 11 48
Guzera 6 24 12 92
Herat 92 24 100 53 29 69
Karrukh 4 27
Koh-e-Zore* k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
Kohsan 3 11 1 12 30
Kushk 12 56 19 96
Kushk-i-Kohna 4 10 8 40
Obe 2 15 80 20 129
Pashtun Zarghun 4 15 84 7 22 124
Poshtko* k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
Shindand 24 51 327 9 91 352
Zawol* k.A. k.A.