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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des A S in P, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. März 2020, W238 2178700-1/23E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 22. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab er an, sein Vater sei Mitglied der Partei Harakt-e Islami gewesen und deshalb von den Taliban bedroht worden. Aus diesem Grund habe die Familie Afghanistan zwölf Jahre zuvor verlassen und seitdem im Iran gelebt.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 27. Oktober 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und setzte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Bei einer Rückkehr in die Heimatprovinz Ghazni drohe dem Revisionswerber eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Er könne aber in zumutbarer Weise auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif verwiesen werden. Der Revisionswerber sei jung, gesund und arbeitsfähig. Er sei mit den Gepflogenheiten Afghanistans vertraut, weil er dort geboren und in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen sei. Ab dem elften Lebensjahr habe er sich im islamisch geprägten Iran aufgehalten. Er spreche eine in Afghanistan weit verbreitete Sprache als Muttersprache, habe Berufserfahrung auf Baustellen und als Taschenschneider gesammelt und eine Lehre als Bekleidungsfertiger abgeschlossen. In Hinblick auf die derzeit bestehende Pandemie aufgrund des Corona-Virus sei festzuhalten, dass der Revisionswerber im Entscheidungszeitpunkt 27 Jahre alt sei und an keinen schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen leide, womit er nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit spezifischen physischen Vorerkrankungen falle. Ein bei der Überstellung des Revisionswerbers nach Afghanistan vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK sei somit auch nicht erkennbar. Im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidung führte es zur Interessenabwägung - unter Berücksichtigung aller Aspekte des Privat- und Familienlebens - aus, dass die öffentlichen Interessen überwögen.
5 Mit Beschluss vom 26. Juni 2020, E 1303/2020-7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat diese mit Beschluss vom 10. Juli 2020, E 1303/2020-9, zur Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof ab.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die Revision wendet sich zunächst gegen die Nichtgewährung subsidiären Schutzes. Das BVwG übersehe bei der Annahme der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat, dass der Revisionswerber Afghanistan im Alter von zehn Jahren verlassen habe, seine Kernfamilie im Iran lebe, er in Afghanistan über kein soziales Netz verfüge und mit den Gepflogenheiten Afghanistans nicht mehr vertraut sei. Zudem sei er Hazara und Schiit und gehöre damit ohnehin einer in Afghanistan in allen Lebensbereichen benachteiligten Gruppe an. Auch das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation führe aus, dass soziale, ethnische und familiäre Netzwerke für Rückkehrer unentbehrlich seien.
10 Diesem Vorbringen ist zu entgegnen, dass die Frage der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative letztlich eine - von der Asylbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu treffende - Entscheidung im Einzelfall darstellt, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu treffen ist (vgl. etwa VwGH 30.1.2020, Ra 2020/20/0003, mwN).
11 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung, dass weder EASO (Country Guidance Notes zu Afghanistan vom Juni 2018) noch UNHCR (Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018) von der Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehen. Es entspricht zudem der - auch zu dieser Berichtslage ergangenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. etwa VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN).
12 Weiters ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf Afghanistan zu verweisen, wonach es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. zum Ganzen VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).
13 Das BVwG hat sich sowohl mit der Sicherheits- und Versorgungslage in den genannten Städten als auch mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinandergesetzt und entgegen dem Revisionsvorbringen auch die Folgen der Dürre im Jahr 2018 in den Städten Herat und Mazar-e Sharif in seine Betrachtungen einbezogen. Fallbezogen begegnet die Einschätzung des BVwG, dem Revisionswerber stehe als jungem, gesunden Mann im erwerbsfähigen Alter, welcher über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, Sprachkenntnisse in Dari, Farsi und Deutsch aufweise und mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, in Mazar-e Sharif und Herat eine zumutbare innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative zur Verfügung, nach dem Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes keinen Bedenken. Entgegen den Revisionsausführungen berücksichtigte das BVwG ausdrücklich auch den Umstand, dass der Revisionswerber seit seinem elften Lebensjahr mit seiner Familie im Iran gelebt habe. Vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung vermag die Revision somit der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht substantiiert entgegen zu treten (vgl. auf ähnlicher Sachverhaltsgrundlage zu nicht im Herkunftsstaat aufgewachsenen Angehörigen der Volksgruppe der Hazara erneut VwGH 30.1.2020, Ra 2020/20/0003).
14 Soweit der Revisionswerber darüber hinaus vorbringt, das BVwG habe nur ungenügende Berichte zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Gesundheits-, Versorgungs- und Wirtschaftssystem in Afghanistan eingeholt, macht er Verfahrensmängel geltend und ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach es nicht ausreicht, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der Verfahrensmängel in konkreter Weise darzulegen (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/14/0179, mwN). Diesem Erfordernis entspricht die Revision nicht.
15 Wenn die Revision darüber hinaus ausführt, das Erkenntnis des BVwG sei über drei Monate nach der mündlichen Verhandlung erlassen und dadurch dem Revisionswerber jegliche Möglichkeit genommen worden, zur Covid-19-Situation Stellung zu nehmen, wodurch sein Parteiengehör verletzt worden sei, macht sie erneut einen Verfahrensmangel geltend, ohne dessen Relevanz aufzuzeigen.
16 Dem weiteren Vorbringen in der Revision, das BVwG hätte Erhebungen im Herkunftsstaat unterlassen, ist entgegenzuhalten, dass ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens des Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht besteht (vgl. VwGH 15.5.2020, Ra 2020/14/0176, mwN)
17 Wenn die Revision schließlich betreffend die Rückkehrentscheidung die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK rügt, ist festzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. etwa VwGH 4.11.2019, Ra 2019/18/0326, mwN).
18 Mit dem pauschalen Vorbringen, das BVwG habe keine Gesamtbetrachtung durchgeführt, gelingt es der Revision jedenfalls nicht aufzuzeigen, dass die die persönlichen Umstände des Revisionswerbers berücksichtigende Interessenabwägung unvertretbar wäre (vgl. VwGH 30.12.2019, Ra 2019/18/0491).
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 29. September 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190304.L00Im RIS seit
10.11.2020Zuletzt aktualisiert am
10.11.2020