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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. A B und 2. A T, beide vertreten durch Dr. David Christian Bauer als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Katrin Blecha-Ehrbar, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Dorotheergasse 6-8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Februar 2020, W254 2225895-1/2E und W254 2225896-1/2E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Ehegatten, syrische Staatsangehörige der kurdischen Volksgruppe und stammen beide aus dem Distrikt Afrin in der Provinz Aleppo.
2 Sie beantragten am 5. September 2019 internationalen Schutz und brachten im Wesentlichen vor, die türkische Armee habe beim Einmarsch in ihre Heimatregion das Haus der revisionswerbenden Parteien zerstört und ihr Vieh getötet. Sie hätten Angst gehabt, dort zu bleiben und seien deshalb geflohen.
3 Mit Bescheiden jeweils vom 29. Oktober 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien in Bezug auf den begehrten Status von Asylberechtigten ab, gewährte ihnen jedoch den Status von subsidiär Schutzberechtigten und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.
4 Gegen die Abweisung der Anträge in Bezug auf Asyl erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der sie geltend machten, ihnen drohe nicht nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden, sondern auch wegen einer näher umschriebenen unterstellten regimefeindlichen Gesinnung asylrelevante Verfolgung durch das syrische Regime.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
6 Es stellte (unter anderem) fest, dass die Heimatregion der revisionswerbenden Parteien seit März 2018 unter türkischer Besatzung und damit nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehe. Schon deshalb hätten syrische Sicherheitskräfte keinen Zugriff auf die revisionswerbenden Parteien und könnten sie auch nicht aus den geltend gemachten Gründen verfolgen. Auch eine Verfolgung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit durch den syrischen Staat bzw. durch den jeweiligen Machthaber im Herkunftsgebiet drohe den revisionswerbenden Parteien nicht.
7 Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, in der im Wesentlichen geltend gemacht wird, das BVwG habe entgegen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine ganzheitliche Bewertung der „kumulativen Gefährdungsfaktoren“ vorgenommen, den diesbezüglichen Sachverhalt unzureichend ermittelt und zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.
8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Soweit die Revision „kumulative Gefährdungsfaktoren“ ins Treffen führt und dabei auch auf eine Verfolgungsgefahr Bezug nimmt, die vom syrischen Regime ausgehen soll, entfernt sie sich begründungslos von den zuvor wiedergegebenen Feststellungen des BVwG, wonach das syrische Regime in der Herkunftsprovinz der revisionswerbenden Parteien keinen Einfluss auszuüben in der Lage ist, weil diese unter der Kontrolle der türkischen Armee steht. Insoweit zeigt sie auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, die sie zulässig machen würde.
12 Zulässig und berechtigt ist die Revision allerdings deshalb, weil sie auch auf den Aspekt der Zugehörigkeit der revisionswerbenden Parteien zur kurdischen Volksgruppe hinweist und daraus eine mögliche asylrelevante Verfolgungsgefahr ableitet.
13 In diesem Zusammenhang begründete das BVwG seine gegenteilige Sichtweise lediglich damit, dass die revisionswerbenden Parteien eine Verfolgung aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit bei ihrer Einvernahme vor dem BFA ausdrücklich verneint hätten. Sie hätten nicht hinreichend dargelegt, welche „schweren Verfolgungen ihrer Auffassung nach in ihrem Heimatland gegen Personen kurdischer Abstammung“ stattfänden.
14 Diese Erwägungen werden dem Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien vor dem Hintergrund der gleichzeitig getroffenen Länderfeststellungen nicht gerecht:
15 Es trifft zwar zu, dass die (rechtsunkundigen) revisionswerbenden Parteien anlässlich ihrer Einvernahme vor dem BFA die Frage, ob sie aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit persönlich einer Verfolgung ausgesetzt gewesen seien, verneint hatten. Gleichzeitig schilderten sie den Grund ihrer Flucht allerdings dahingehend, dass die türkische Armee im Zuge des Einmarsches in ihre Herkunftsprovinz ihr Haus zerstört und ihr Vieh getötet habe.
16 In den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses heißt es:
„Am 20.1.2018 begann eine Offensive der Türkei gegen die kurdisch kontrollierte Stadt Afrin (DS 20.1.2018; vgl. DZO 23.1.2018, HRW 17.1.2019). Die Operation ‚Olivenzweig‘ begann mit Artillerie- und Luftangriffen auf Stellungen der YPG in der Region Afrin, denen eine Bodenoffensive folgte (Presse 24.1.2018). Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Seit der Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind (Bellingcat 1.3.2019). Von der Unabhängigen Untersuchungskommission für Syrien des UN-Menschenrechtsrates wird die Sicherheitslage in der Gegend von Afrin als prekär bezeichnet (UNHCR 31.1.2019).“
17 Die Länderfeststellungen bestätigen das Vorbringen der revisionswerbenden Parteien zu ihren Fluchtgründen, das vom BVwG auch nicht in Zweifel gezogen wurde. Sie dokumentieren die massiven Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen auf die kurdische Zivilbevölkerung, zu der auch die revisionswerbenden Parteien gehörten. Diesem Umstand wurde durch die Gewährung von subsidiärem Schutz zwar grundsätzlich Rechnung getragen. Die getroffenen Feststellungen lassen aber auch die Möglichkeit offen, dass das Vorgehen der türkischen Armee und ihrer Verbündeten gegen die bewaffneten kurdischen Verbände (YPG) und die kurdischen Zivilisten vom Motiv der ethnischen Vertreibung der Angehörigen dieser Volksgruppe aus dem betreffenden Gebiet getragen war. Wäre dies - nach ergänzender Prüfung des Sachverhalts - zu bejahen, könnte dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien Asylrelevanz nicht abgesprochen werden.
18 Da sich das BVwG mit dieser Frage nur unzureichend beschäftigt und erforderliche ergänzende Ermittlungen dazu nicht angestellt hat, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Der Kostenausspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 8. Oktober 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180120.L00Im RIS seit
04.12.2020Zuletzt aktualisiert am
04.12.2020