Entscheidungsdatum
03.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W240 2231090-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.04.2020, Zl. 1089740105-200220054, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren
Der Beschwerdeführer (in der Folge auch BF) reiste spätestens am 02.10.2015 schlepperunterstützt und unter Umgehung der Grenzkontrolle in das österreichische Bundesgebiet ein.
Am selben Tag stellte er einen ersten Antrag auf internationalen Schutz gem. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Österreich und gaben an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein.
In der Einvernahme vor dem BFA führte er insbesondere aus, dass seine Eltern aus Daykundi stammen würden, er im Iran geboren sei und nie in Afghanistan gewesen sei, weil seine Eltern wegen des Krieges aus Afghanistan in den Iran gezogen seien. Er habe drei Jahre lang eine afghanische Schule im Iran besucht, er habe im Iran Arbeitstätigkeiten in einer Küche, bei einem Mechaniker, bei einem Kücheneinrichter, als Schweißer, als Blumenverkäufer geleistet und sei weiteren Gelegenheitsarbeiten vor der Ausreise im Iran nachgegangen. Er habe von seinen Eltern kein Geld erhalten, sondern habe sich sein Leben selbst finanziert. Seine Schwester sei als Schneiderin tätig. Sein Onkel mütterlicherseits lebe in Kabul, sein Onkel väterlicherseits in Daykundi. Im Iran würden neben den Eltern, seine Schwester und eine Tante mütterlicherseits leben. Ein afghanischer Freund von ihm sei freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt, weil seine Mutter krank gewesen sei.
Mit Bescheid des BFA vom 11.04.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen und es wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt IV und V.). Der Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.). Es wurde festgestellt, dass es keine Frist für die freiwillige Ausreise gebe (Spruchpunkt VII.). In Spruchpunkt VIII. wurde ausgesprochen, dass der BF gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AslyG das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 16.07.2017 verloren habe. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 AsylG wurde ein Einreiseverbot für die Dauer von 7 Jahren erlassen (Spruchpunkt IX.).
Begründend wurde im Bescheid vom BFA vom 11.04.2018 im Wesentlichen ausgeführt, dass mangels der Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments oder sonstigen Bescheinigungsmittels die Identität des BF nicht feststehe. Aufgrund der Orts- und Sprachkenntnisse sowie aufgrund der Ausführungen wurde die afghanische Staatsangehörigkeit, die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara festgestellt sowie, dass der Beschwerdeführer Dari sowie Farsi spreche und schiitischer Moslem sei. Er sei volljährig, arbeitsfähig, ledig, kinderlos und gesund. Der Beschwerdeführer habe behauptet, seine Eltern seien aufgrund des Krieges und der allgemein schlechten Situation aus Afghanistan ausgereist, er selbst sei nie in Afghanistan gewesen und wäre deshalb auch in Afghanistan nie persönlich bedroht oder verfolgt worden. Aufgrund der allgemeinen Situation im Iran habe er bereits Jahre vor der Ausreise beschlossen, nach Europa zu gelangen. Es sei in Summe den Ausführungen des BF keine individuelle Verfolgungsgefährdung zu entnehmen. Alleine die Tatsache, dass er Schiit und Hazara sei, erfülle nicht die Voraussetzungen einer asylrelevanten Verfolgung, solange keine den BF individuell treffenden Gründe vorliegen. Auch aus den geschilderten Schwierigkeiten im Iran lasse sich keine asylrelevante Verfolgung ableiten. Prüfungsrelevant sei der Staat dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitze und dass sei im Fall des Beschwerdeführers Afghanistan, eine Asylrelevanz sei daher im gegenständlichen Fall auszuschließen, da es bei den Problemen im Iran die Möglichkeit gebe, sich unter den Schutz des Heimatlandes Afghanistan zu stellen. Schließlich wurde vom BFA darauf verwiesen, dass der BF durch zahlreiche Länder gereist sei, bevor er in Österreich einen Asylantrag gestellt habe, hätte er tatsächlich Schutz vor Verfolgung gesucht, hätte er zweifellos ehestmöglich einen Asylantrag gestellt. Der BF hätte die Möglichkeit sich im Falle einer Rückkehr in Afghanistan niederzulassen. Familienangehörige des BF würden nach wie vor in Afghanistan leben, nämlich der Onkel mütterlicherseits, der in Kabul lebe, und ein Onkel väterlicherseits in Daykundi. Des Weiteren würden die Eltern, die Schwester sowie eine Tante im Iran leben. Der BF behaupte zwar, dass er mit seinen Verwandten rund einen Monat nach Ankunft in Österreich keinen Kontakt mehr habe, weil er deren Telefonnummer verloren hätte, es wurde vom BFA jedoch festgestellt, es sei davon auszugehen, dass der BF tatsächlich doch noch in Kontakt mit seinen Verwandten stehe. Er habe beispielsweise bei einer Einvernahme im Oktober 2016 ausgeführt, er habe drei Monate zuvor Kontakt mit Verwandten seines Vaters gehabt, die ihm Drogen angeboten hätten. Schließlich habe der BF auch den Namen eines Freundes, der in Afghanistan lebe und zu dem er in Kontakt stehe, genannt. Aufgrund der vorhandenen familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan und im Iran und aufgrund der Feststellungen zur gewährleisteten Grundversorgung in Kabul und des Umstandes, dass es sich beim BF um einen jungen, arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung und langjähriger Berufserfahrung handle, sei davon auszugehen, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in Afghanistan nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage gelangen würde. Der BF habe selbst angegeben, dass es ihm bereits in der Vergangenheit möglich gewesen sei, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und es sei sogar möglich, seine Mutter mit seinen Einkünften zu unterstützen.
Mit Bescheid vom 09.05.2018 wurde gegen den BF das gelindere Mittel der täglichen Meldung bei einer PI erlassen. Dem war der BF seit 11.05.2018 nicht mehr nachgekommen.
Mit rechtskräftigem Bescheid des BFA zur Zahl 1089740105/180538269 vom 03.12.2018 wurde neuerlich ein Einreiseverbot auf die Dauer von nunmehr 10 Jahren erlassen.
Verfahren über gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz:
Am 17.02.2020, bei der Behörde eingelangt am 20.02.2020, stellte der BF schriftlich einen zweiten – den gegenständlichen – Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am 26.02.2020 wurde er von Beamten der PI Fremdenpolizei Wels erstbefragt. Dabei gab er im Wesentlichen Folgendes an:
„(…)
Ich habe Angst vor meinem Vater, weil mein Vater mich mit einem anderen Mann nackt gesehen hat und jetzt denkt, dass ich schwul bin. Daraufhin hat mir mein Vater als ich 13 Jahre alt war ein Messer in den Bauch gerammt.
Mein Vater hat mich immer geschlagen und mich nicht in die Schule geschickt.
Haben Sie alle Ausreise-, Flucht, oder Verfolgungsgründe genannt?
Ja
Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?
Ich habe Angst vor meiner ganzen Familie. Mein Vater hat gesagt, dass er mich töten wird, wenn ich zurückkomme.
Gibt es konkrete Hinweise, dass Ihnen bei Ihrer Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, die Todesstrafe droht, oder sie mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen haben?
Ich habe keine konkreten Hinweise, nur meine Narbe am Bauch.
Seit wann sind Ihnen die Änderungen der Situation/Ihrer Fluchtgründe bekannt?
Ich habe in den vorherigen Verfahren nicht die Wahrheit gesagt, weil ich mich geschämt habe. Das ist jetzt der wahre Grund.
Sonstige sachdienliche Hinweise
Der AW gab an, dass sein bekanntes Geburtsdatum falsch ist. Er ist eigentlich am XXXX .2000 geboren. Außerdem bin ich kein afghanischer Staatsbürger, sondern staatenlos.
(…)“
Am 09.03.2020 wurde der BF in der Erstaufnahmestelle West zu Ihrem Asylantrag einvernommen. Die wesentlichen Passagen gestalteten sich wie folgt:
„(…)
LA: Wie heißen Sie und wann sind Sie geboren?
VP: XXXX .
LA: Woher kennen Sie Ihr Geburtsdatum?
VP: Das hat mir meine Mutter gesagt. Ich habe keine Tazkira oder einen anderen Ausweis, womit ich mich identifizieren könnte.
LA: Was hat Ihnen Ihre Mutter genau gesagt?
VP: Als ich mich in Griechenland befand, rief ich meine Mutter an und meine Mutter nannte mir das Geburtsdatum XXXX .
LA: Hat Ihre Mutter den XXXX verwendet, oder hat sie ein anderes Datum gesagt, das Sie umgerechnet haben?
VP: Sie hat das abendländische Datum gesagt.
LA: Warum sollte Ihre Mutter das tun?
VP: Ich weiß es nicht, ich habe meine Mutter gefragt und sie sagte, dass ich das Datum so angeben könne, das persische Datum hat sie mir nicht gesagt. Ich habe ein falsches Geburtsdatum angegeben, weil ich in Schweden und nicht in Österreich um Asyl ansuchen wollte.
LA: Welche Sprachen sprechen Sie?
VP: Nur Farsi.
LA: Sprechen Sie schon etwas Deutsch.
VP: Ja, Deutsch auch.
LA: Verstehen Sie den anwesenden Dolmetscher einwandfrei?
VP: Ja.
LA: Leiden Sie an irgendwelchen schwerwiegenden Krankheiten?
VP: Nein.
LA: Haben Sie in der Erstbefragung die Wahrheit gesagt?
VP: Ja.
LA: Wurden Ihre Angaben rückübersetzt?
VP: Ja.
LA: Möchten Sie etwas korrigieren oder ergänzen?
VP: Nein, es passt alles.
LA: Sie haben am 03.10.2015 einen Asylantrag gestellt, der rechtskräftig abgewiesen wurde. Warum stellen Sie neuerlich einen Antrag?
VP: Das Problem war, dass ich damals nicht die Wahrheit gesagt habe und als ich den negativen Bescheid erhalten habe, habe ich keine Beschwerde eingelegt.
LA: Warum haben Sie nicht die Wahrheit gesagt?
VP: Ich habe mich geschämt.
LA: Warum befürchten Sie eine Verfolgung?
VP: Das Problem war, dass ich an einem regnerischen Tag mit einem Freund nach Hause kam, wir zogen uns die nassen Kleider aus, mein Vater ist ein Mullah, als er nach Hause kam, schöpfte er den Verdacht, dass wir etwas gehabt hätten und er attackierte mich mit einem Messer. Er stieß mir das Messer in den Bauch. Mein Vater dachte, dass ich homosexuell wäre.
LA: Gibt es noch andere Gründe warum Sie eine Verfolgung befürchten?
VP: Ich durfte keine Schule besuchen, ich durfte nur die Koranschule besuchen. Ich habe täglich eine Sure des Koran auswendig lernen müssen, ansonsten hätte ich von meinem Vater Schläge bekommen.
LA: Was war das für eine Schule in der Sie waren?
VP: Es war Koranunterricht in der Moschee.
LA: Wo war das?
VP: In Teheran.
LA: Welche Leute waren da noch?
VP: Es waren Iraner und Afghanen, die sich dort versammelten. Es waren islamische Fanatiker.
LA: Haben Sie außer den geschilderten Problemen noch weitere?
VP: Dazu kommt noch, dass mein Vater mir verboten hat fernzusehen, Musik zu hören und so weiter. Das heißt für mich war fast alles verboten.
LA: Haben Sie außer den geschilderten Problemen noch weitere?
VP: Ich stand unter Stress, da mein Vater von mir verlangte, dass ich monatlich 200.000 Toman nach Hause bringe um ihm finanziell zu helfen. Das war alles.
LA: Was haben Sie gemacht um das Geld zu verdienen?
VP: Ich habe in einer Autospenglerei gearbeitet. Nebenbei habe ich neben der Autobahn, die zum großen Friedhof Teherans, XXXX , führt Blumen verkauft.
LA: Waren Sie jemals in Afghanistan?
VP: Nein. Meine ganze Familie und Verwandtschaft lebt im Iran.
LA: Haben Sie Kontakt zu Personen, die in Afghanistan leben?
VP: Nein.
LA: Haben Sie Kontakt zu afghanischen Staatsangehörigen?
VP: In Österreich schon, ich habe Freunde aus vielen Nationen.
LA: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie?
VP: Nein.
LA: Wie lange haben Sie gearbeitet?
VP: Seit meinem 10. Lebensjahr bis zu meinem 13. Lebensjahr. Nach dem erwähnten Vorfall habe ich das Land verlassen.
LA: Sind Sie tatsächlich homosexuell?
VP: Nein.
LA: Wieso haben Sie sich geschämt, diesen Vorfall zu erwähnen?
VP: Aus kulturellen Gründen, ich bin anders aufgewachsen. Vieles wurde geheim gehalten.
LA: Was meinen Sie damit, dass vieles geheim gehalten wurde?
VP: Das war praktisch nicht üblich über diese Dinge zu reden, weil die Eltern das aus kulturellen Gründen verheimlichten. Deswegen schämte ich mich davor, so etwas zu erzählen, da ich mich in dieser Kultur nicht auskannte.
LA: Wenn ich es richtig verstehe, hat Ihr Vater Sie beschuldigt, dass Sie homosexuell sind, was nicht stimmt.
VP: Genau, wir wollten uns nur umziehen und mein Vater glaubte, dass wir homosexuell wären.
LA: Warum haben Sie sich dann geschämt? Sie wurden aus einem falschen Grund angegriffen.
VP: Das Problem ist, dass mein Vater mir nicht glaubte, was ich erzählt habe und ging davon aus, dass ich mit dem Freund etwas gehabt hätte. Er nahm seinen Turban ab, stellte ihn aufs Fensterbrett und nahm das Messer und stieß mir in den Bauch.
LA: Sie haben in der Erstbefragung angegeben, dass Sie staatenlos wären, was meinen Sie damit.
VP: Ich habe nur angegeben, dass ich weder einen persischen noch einen afghanischen Pass besitze. Der Beamte meinte, dass ich dann staatenlos wäre. Ich wurde im Iran geboren.
LA: Ihre Eltern sind beide Afghanen?
VP: Woher sie stammen weiß ich nicht, sie wurden auch im Iran geboren. Nachgefragt gebe ich an, dass ich nicht weiß, welche Staatsangehörigkeit meine Eltern haben.
LA: Wieso durften Sie im Iran keine Schule besuchen?
VP: Ich konnte die Schule besuchen, die Eltern hätten viel Geld zahlen müssen, mein Vater wollte nicht, dass ich in die Schule gehe.
LA: Ein Mullah ist ja eine gesellschaftliche anerkannte Persönlichkeit, ich verstehe nicht, warum er in so prekären Verhältnissen gelebt haben soll.
VP: Es ging uns finanziell und wirtschaftlich nicht schlecht. Der Vater wollte, dass wir arbeiten gehen und Geld nach Hause bringen, meine Schwester tat auch dasselbe.
LA: Wieso haben Sie keinen Kontakt mehr zu Ihrer Mutter?
VP: Ich habe weder eine Telefonnummer noch einen Kontakt zu ihr. Die Denkweise meiner Mutter ähnelt der meines Vaters, deshalb will ich mit ihnen nichts mehr zu tun haben.
LA: Seit wann haben Sie keinen Kontakt mehr.
VP: Mein letzter Kontakt war in Griechenland.
LA: Wie kam er zustande?
VP: In Griechenland nahm ich mit zuhause Kontakt auf, ich sagte meiner Mutter, dass ich nach Hause zurückkehren möchte. Sie meinte, im Falle einer Rückkehr müsste ich damit rechnen, dass mich mein Vater umbringt.
LA: Waren Sie legal im Iran aufhältig.
VP: Soweit ich das weiß, war ich nicht legal aufhältig. Mein Vater hat ein Altbauhaus gekauft, aber nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Namen eines Iraners.
LA: Warum hat Ihr Vater das gemacht?
VP: Ich gehe davon aus, dass er keine Papiere gehabt hat, dadurch war er gezwungen, die Wohnung im Namen von jemand anders zu kaufen.
LA: Wie lange sind Sie noch in Haft?
VP: Noch bis XXXX 2021, im XXXX 2020 habe ich ein Drittel abgesessen.
Es wird rückübersetzt. Ast wird aufgefordert genau aufzupassen und sofort bekannt zu geben, wenn etwas nicht korrekt sein sollte bzw. er noch etwas zu ergänzen hat.
Nach erfolgter Rückübersetzung gebe ich an, dass alles richtig und vollständig ist und alles richtig wiedergegeben wurde.
LA: Sie haben in Ihrem letzten Verfahren völlig andere Angaben hinsichtlich Ihrer Familie gemacht. Wie erklären Sie das?
VP: Ich habe Ihnen jetzt geschildert, wie meine Denkweise damals war und wie ich mich geschämt habe. Aus diesem Grund konnte ich nicht die Wahrheit erzählen, weil die kulturellen Unterschiede immens waren. Auch wollte ich nach Schweden.
LA: Sie gaben zum Beispiel an, dass Ihr Vater Plastik und Papier gesammelt hätte und so ein wenig Geld bekommen hätte. Davon, dass er Mullah wäre, war nicht die Rede.
VP: Ich habe das gesagt, aber das stimmt nicht.
LA: Das lässt sich mit kulturellen Unterschieden nicht erklären.
VP: Ich habe damals nicht die Wahrheit gesagt. Es ist meine Schuld, dass ich die Wahrheit nicht gesagt habe.
LA: Auch haben Sie angegeben, dass Ihre Eltern Afghanistan verlassen hätten, weil in Afghanistan Krieg geherrscht hätte.
VP: Das weiß ich nicht. Mein Großvater war Soldat im Krieg gegen den Irak.
LA: Sie haben sich auch erkundigt, wie Sie wieder Kontakt zu Ihren Eltern herstellen könnten.
VP: Nein, das habe ich nicht.
Vorhalt wird erklärt.
VP: Damals habe ich komplett gelogen, ich wollte nicht hierbleiben. Das Problem war, dass ich meine Fingerabdrücke abgegeben habe und nirgends anders hinkonnte. Seit 5,5 Jahren habe ich keine Ahnung, wo sich meine Familie befindet und wie es ihr geht.
Anmerkung: Ihnen wird eine Verfahrensanordnung gem. § 29 Abs. 3 AsylG 2005 ausgehändigt. Anhand dieser Verfahrensanordnung wurde Ihnen zur Kenntnis gebracht, dass geplant ist Ihren Antrag in Österreich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. AW wird über das Konzept der entschiedenen Sache aufgeklärt.
LA: Möchten Sie dazu Stellung nehmen?
VP: Ich kann nicht zurück. Dh. ich bekomme einen Bescheid von Ihnen?
AW wird über den weiteren Verfahrensgang aufgeklärt.
LA: Außerdem haben Sie die Möglichkeit Einsicht in die Länderberichte zu Ihrem Herkunftsstaat zu nehmen und eine Stellungnahme dazu abzugeben. Möchten Sie das?
VP: Nein, ich brauche das nicht.
LA: Wurde Ihnen ausreichend Zeit eingeräumt, Ihre Angaben vollständig und so ausführlich wie Sie es wollten zu machen?
VP: Ja.
LA: Wollen Sie noch etwas angeben, was Ihnen besonders wichtig erscheint?
VP: Ich will nicht nach Afghanistan oder in den Iran zurück. Ich möchte keinen gefälschten afghanischen Pass.
Anmerkung: Die gesamte Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt. Nach erfolgter Rückübersetzung:
LA: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Befragung einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
LA: Hat Ihnen der Dolmetscher alles rückübersetzt?
VP: Ja.
LA: Haben Sie nun nach Rückübersetzung Einwendungen gegen die Niederschrift selbst, wurde alles richtig und vollständig protokolliert?
VP: Keine Einwände.
(…)“
Am 13.03.2020 wurde der BF in der Erstaufnahmestelle West im Beisein seiner Rechtsberatung im Zulassungsverfahren neuerlich einvernommen. Die wesentlichen Passagen gestalteten sich wie folgt:
„(…)
LA: Verstehen Sie den anwesenden Dolmetscher einwandfrei?
VP: Ja.
LA: Haben Sie in der letzten Einvernahme am 09.03.2020 die Wahrheit gesagt?
VP: Ja.
LA. Möchten Sie etwas korrigieren oder ergänzen?
VP: Nein.
LA: Ihnen wird nun mitgeteilt, dass weiterhin beabsichtigt ist, Ihren Asylantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Möchten Sie dazu eine Stellungnahme abgeben?
VP: Ich bin mit einer negativen Entscheidung nicht einverstanden, ich kann nicht nach Afghanistan zurückkehren. Ich weiß nicht einmal, wo Afghanistan wirklich liegt, ich war immer im Iran, ich bin dort geboren und aufgewachsen, meine ganze Familie ist im Iran. In Afghanistan habe ich nichts zu suchen.
LA: Möchten Sie zu den Länderinformationen etwas angeben?
VP: Ich sagte, dass ich das nicht brauche. Ich habe alle Informationen im Jahr 2018 erhalten.
LA: Wollen Sie noch etwas vorbringen, was nicht zur Sprache gekommen ist und Ihnen wichtig erscheint?
VP: Können Sie garantieren, dass ich in Afghanistan oder woanders nicht getötet werde. Afghanistan ist kein normales Land, dort herrscht Krieg und Unsicherheit. Erst letzte Woche wurden wieder 22 Menschen getötet. Sobald ich eine Garantie bekomme, kehre ich zurück.
Frage an die Rechtsberaterin: Ist für die Rechtsberatung noch etwas offen?
Die Rechtsberaterin hat keine weiteren Fragen.
Anmerkung: Die gesamte Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt. Nach erfolgter Rückübersetzung:
LA: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Befragung einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
LA: Hat Ihnen der Dolmetscher alles rückübersetzt?
VP: Ja.
LA: Haben Sie nun nach Rückübersetzung Einwendungen gegen die Niederschrift selbst, wurde alles richtig und vollständig protokolliert?
VP: Keine Einwände.
RB: Keine Einwände.
LA: Wünschen Sie die Ausfolgung einer schriftlichen Ausfertigung?
VP: Ja (Anm.: dem ASt. wird eine schriftliche Ausfertigung dieser Niederschrift ausgefolgt)
(…)“
Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 10.04.2020, Zl. 1089740105-200220054, wies das BFA den zweiten Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.02.2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.). Den Antrag auf internationalen Schutz vom 17.02.2020 hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wies das BFA ebenfalls wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurück.
Im nunmehr angefochtenen Bescheid wurde festgestellt, dass die Identität mangels glaubhafter Identitätsdokumente nicht festgestellt werden könne. Der BF sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Er sei persönlich nicht glaubwürdig. Es seien im Verfahren keine Hinweise auf eine schwere, lebensbedrohende Erkrankung oder eine Immunschwäche hervorgekommen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen würde. Der BF habe bereits am 03.10.2015 einen ersten Asylantrag gestellt, dieser sei mit Bescheid des BFA vom 11.04.2018 abgewiesen worden, der Bescheid erwuchs am 17.05.2018 in Rechtskraft. Am 26.02.2020 habe der BF den zweiten gegenständlichen Asylantrag in Österreich gestellt, diesen habe er im Wesentlichen damit begründet, dass ihm sein Vater zu Unrecht unterstelle, homosexuell zu sein. Diese Angaben seien jedoch keinesfalls glaubhaft und sei das Vorbringen von der Rechtskraft des Vorverfahrens umfasst. Der BF habe im gegenständlichen Verfahren keine Gründe dargelegt, die zu einer neuerlichen inhaltlichen Entscheidung berechtigten würden. Bereits im Vorverfahren sei festgestellt worden, dass dem BF eine Rückkehr nach Kabul zumutbar sei. Er habe angegeben, dass er einen Onkel in Kabul habe, er sei in einem afghanischen Umfeld sozialisiert worden. Auch sei die Sicherheits- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif und Herat ausreichend.
Zur Lage in Afghanistan wurden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:
Zur Lage in Ihrem Herkunftsstaat:
Die Ihre Person treffende allgemeine maßgebliche Lage im Herkunftsstaat hat sich seit Rechtskraft Ihres ersten Asylverfahrens (17.05.2018) nicht entscheidungswesentlich geändert.
1. Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als “Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
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2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734