TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/6 W253 2142723-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2020
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Entscheidungsdatum

06.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2142723-1/33E

Im Namen der Republik!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.11.2016, Zl. 1108476904/160386278, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.06.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 15.03.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Noch am selben Tag fand die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er in Kabul geboren worden sei, dort auch zuletzt gelebt habe und ledig sei. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem. Er habe fünf Jahre lang die Grundschule in und nachfolgend drei Jahre lang die Hauptschule in Kabul besucht. Anschließend habe er vier Jahre lang eine allgemeinbildende höhere Schule ebendort abgeschlossen. Er habe eine Berufsausbildung als Designer absolviert. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter und eine Schwester würden in Afghanistan leben, eine weitere Schwester und ein Bruder in Pakistan. Er sei bis in den Iran legal am 24.12.2015 aus Afghanistan ausgereist. Der Beschwerdeführer habe bereits sechs Jahre lang in Kanada gelebt und habe dort auch einen Asylantrag gestellt, dieser sei auch „positiv“ gewesen, aber er habe damals keinen Reisepass gehabt und habe deswegen seine Identität nicht nachweisen können, weswegen er wieder nach Afghanistan zurückgewiesen worden sei. In der EU habe er keinen Asylantrag gestellt. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er mehrere Jahre in Kanada gelebt habe und ein „unreligiöser Mensch“ sei. Er sei deswegen in Afghanistan unter Druck gestanden und habe sich dort kein Leben vorstellen können. Er habe eines Tages die Kontrolle über sich verloren, sei nach Hause gegangen und habe dort den Koran „vernichtet“. Ein paar Tage später habe er einen Brief von einem Unbekannten bekommen, der sich als „sein Freund“ ausgegeben habe. In diesem Brief sei gestanden, dass „sie“ wüssten, was der Beschwerdeführer getan habe, dass er ungläubig sei und deswegen sei ihm gedroht worden. Es sei ihm gesagt worden, dass er so schnell wie möglich das Land verlassen solle, sonst sei sein Leben in Gefahr. Er habe nicht mehr dort bleiben wollen, deswegen sei er „hier“. Bei einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Vorgelegt wurde ein afghanischer Reisepass.

2. Die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) fand am 23.11.2016 statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er bei der Erstbefragung die Wahrheit gesagt habe. Das Protokoll sei ihm nicht rückübersetzt worden, er habe aber eine Kopie erhalten. Eine Rückübersetzung habe er für nicht notwendig erachtet, da, soweit er es beurteilen könne, das protokolliert worden sei, was er angegeben habe.

In Österreich befinde er sich in der Grundversorgung, er sei kein Mitglied in einem Verein oder in einer sonstigen Organisation und habe keine Verwandte in Österreich. Er habe vier bis fünf österreichische Freunde.

Der Beschwerdeführer sei in Kabul geboren worden und sei mit sieben Jahren in die Schule gegangen, diese Schule habe er zwölf Jahre lang besucht. Aufgrund einiger Schwierigkeiten seien „sie“ gezwungen gewesen nach Pakistan zu ziehen. Nach einiger Zeit seien sie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei sie nach einiger Zeit wieder gezwungen gewesen seien Afghanistan zu verlassen und sie seien in den Iran gegangen. Dann seien sie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Der Beschwerdeführer habe eine Militärschule besucht, welche sechs Monate gedauert habe. Er hätte dort die Ausbildung zum Offizier absolvieren können, er habe aber die Schule abgebrochen. Dann sei das Regime der Taliban „gekommen“ und sie seien gezwungen gewesen Afghanistan erneut zu verlassen und sie seien nach Pakistan gegangen. In Pakistan habe sich der Beschwerdeführer einen Reisepass organisiert und sei nach Kanada gereist. Dort habe er fünfeinhalb Jahre verbracht, sei dort in Schwierigkeiten geraten und deswegen wieder nach Afghanistan gegangen, wo er „einige Jahre“ verbracht habe. In Afghanistan hätten ihm einige Personen „Schwierigkeiten gemacht“, er kenne aber den Grund dafür nicht. Wegen der „Schwierigkeiten“ sei er in Richtung Europa gereist. Der Beschwerdeführer vermeinte „50 Jahre“ alt zu sein, er wisse aber sein genaues Geburtsdatum nicht. Bis zur ersten Ausreise nach Pakistan habe der Beschwerdeführer 20 Jahre lang in Afghanistan gelebt. In Pakistan sei er drei bis vier Jahre gewesen, dann wieder zehn Jahre in Afghanistan. Dann im Iran, dort habe er fünf bis sechs Jahre gelebt. Dann wieder fünf bis sechs Jahre in Afghanistan. Danach für zwei bis drei Jahre in Pakistan. In Kanada habe er knapp sechs Jahre lang gelebt. Dann wieder in Afghanistan für 15 Jahre. Danach sei er in „Richtung Europa“ gegangen. Darauf angesprochen, dass er nach diesen Angaben zwischen 68 und 71 Jahre alt sein müsse gab der Beschwerdeführer an, dass er vor der ersten Ausreise aus Afghanistan zwischen 18 und 20 Jahre alt gewesen sei, danach sei er nur zwei Jahre in Afghanistan gewesen, es könne auch sein, dass er nur zwei Jahre im Iran gewesen sei. Der letzte Aufenthalt in Afghanistan sei zwischen 12 und 15 Jahren gewesen. Nochmals darauf angesprochen, dass er dann älter wäre als angegeben, gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht wisse, wie lange er wo aufhältig gewesen sei. Das erste Mal Afghanistan verlassen habe er, da dort Krieg geherrscht habe und es keine Sicherheit gegeben habe. Die zweite Ausreise sei erfolgt, da der Beschwerdeführer „dort keine Möglichkeiten“ gehabt habe und er in ein anderes Land gewollt habe um dort zu leben. Die dritte Ausreise sei erfolgt, da die Lage schlecht gewesen sei und die Taliban und Krieg geherrscht hätten. Der Beschwerdeführer habe eigentlich aus dem Iran nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren wollen, aber er sei dorthin abgeschoben worden. Pakistan sei nicht sein Heimatland gewesen, er habe in ein anderes Land gehen wollen, in dem er Leben hätte können. In Kanada sei er mit einem Problem konfrontiert gewesen, er sei telefonisch bedroht worden. Er habe damals keine Dokumente gehabt. Auf Vorhalt, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, dass er sich in Pakistan einen Reisepass organisiert hätte, gab er an, dass dieser Reisepass gefälscht gewesen sei. Zur „Zeit der Taliban“ habe es keine Dokumente gegeben und die Leute seien gezwungen gewesen mit falschen Dokumenten zu reisen. Dazu befragt, wann das „Talibanregime“ gewesen sei gab der Beschwerdeführer an, dass es seit 15 Jahren die „neue Regierung“ gebe, davor habe es keine Dokumente gegeben, jetzt gäbe es welche. Er habe auf Baustellen gearbeitet im Iran. In Afghanistan sei er Taxifahrer gewesen, in Pakistan habe er nicht gearbeitet. Auch in Kanada habe er auf Baustellen gearbeitet. In Kanada sei er legal aufhältig gewesen, er sei anerkannter Flüchtling gewesen. Er kehre nicht nach Kanada zurück, da er dort bedroht worden sei, er wisse nicht von wem. Er habe keine Angehörigen in seinem Heimatland mehr, seine Eltern seien verstorben, seine Geschwister würden in Holland, Deutschland und Amerika leben. Sein Onkel väterlicherseits lebe in Frankreich, die Tante väterlichtseits sei in Holland, eine weitere in Frankreich. Sonst habe er niemanden. Er habe zuletzt mit seiner Schwester gemeinsam in Kabul gelebt, sein Neffe könne vermutlich noch in Afghanistan sein. Zu seiner Schwester habe er zuletzt bei seiner Ausreise aus Afghanistan Kontakt gehabt, so weit er wisse, sei diese auch ausgereist.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er als er von Kanada nach Afghanistan zurückgekehrt sei er eigentlich dort bleiben und nicht woanders hin wollte. Er sei „gelegentlich“ von „einigen Leuten“ bedroht worden. Er vermute, dass auch seiner Schwester aus diesem Grund Afghanistan verlassen habe, denn die Kinder der Schwester seien als Familie der „Koranverbrenner“ bezeichnet worden. Dies sei aber „zwischen den Kindern“ gewesen. Eines Tages habe er einen Brief „gefunden“. In diesem Brief sei gestanden, dass er von „einem Freund“ sei, der Beschwerdeführer wisse nicht, von wem dieser Brief tatsächlich gewesen sei. In dem Brief sei gestanden, dass der Beschwerdeführer „eine Tat“ vollbracht habe und dass deswegen „einige Leute“ die Absicht hätten ihn zu töten. Da er den Koran verbrannt habe, solle er so schnell wie möglich Afghanistan verlassen und sich in keinem anderen islamischen Staat mehr aufhalten. Er werde in das „Monitoring-System“ aufgenommen. Er glaube, dass das ein System sei, das „das Gehirn eines Menschen unter Kontrolle habe“. Angenommen er sei auf dem Fahrrad und plötzlich werde „sein Gehirn kontrolliert“, das Gehirn sei gelähmt und man starre in eine Richtung. Ihm sei sowas auch passiert. Er sei auf dem Fahrrad unterwegs gewesen, vor zwei Monaten in Österreich und sein Gehirn sei „erstarrt gewesen“ und er sei „an der Mauer angekommen“ und habe sich dabei das Schlüsselbein gebrochen. Er glaube an das, was die Person in diesem Brief geschrieben habe. Sie habe Recht gehabt, er sei psychisch angeschlagen gewesen und habe den Koran zerrissen und angezündet. Auf die Frage, ob er dann in Österreich auch nicht sicher sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er das nicht wisse, wenn tatsächlich Menschen wüssten, was in seinem Gehirn vor sich geht, dann denke er, dass es nirgendwo auf der Welt sicher für ihn sei, da die Moslems auf der „ganzen Welt zerstreut“ seien. In Kanada habe er gemerkt, dass sein „Gehirn gesteuert“ werde und dass er Stimmen höre. Er sei bereits in Kanada zu einem Arzt gegangen und habe diesem gesagt, dass er Stimmen und Geräusche höre, dieser habe keine weiteren Untersuchungen vorgenommen. Dann sei er nach Afghanistan zurückgekehrt. Jetzt aus Afghanistan ausgereist sei er wegen des Briefes. Er sei die letzten Jahre in Afghanistan nicht persönlich bedroht worden, aber er habe von einigen Leuten gehört, dass er „kein Moslem“ sei. Den Brief habe er etwa ein Jahr vor der Befragung erhalten, dieser sei im Postkasten gelegen. Er habe den Koran zerrissen und angezündet, da er an diesem Tag sehr aggressiv gewesen sei, dies sei vor etwa drei Jahren gewesen und sei zu Hause bei seiner Schwester passiert. Er habe selbst keinen Koran gehabt, aber es habe drei Stück in der Wohnung gegeben, die seien alle in einem Zimmer aufbewahrt worden. Er sei sehr verärgert über die Lage in Afghanistan und die „gesamte Situation“, deswegen habe der den Koran angezündet. Der Grund sei gewesen, dass er aus Kanada nach Afghanistan zurückgekehrt und sehr aggressiv gewesen sei. Sein psychischer Zustand sei „nicht normal gewesen“. Er sei über „die Extremisten“ sehr verärgert gewesen. Er sei verärgert gewesen, seit er aus Kanada zurückgekehrt sei, weil „der Vorfall“ passiert sei. Er sei damals alleine in der Wohnung gewesen und es sei fraglich, woher „er“ das wisse, denn außer ihm sei niemand in der Wohnung gewesen. Den Brief habe er nicht mitgenommen, er sei über „islamische Länder“ nach Österreich gereist, er konnte ihn nicht mitnehmen. Sonst habe es keine Vorfälle in Afghanistan gegeben. Er wisse nicht, wieso er erst nach zwei Jahren diesen Brief erhalten habe, sei aber sicher, dass er diesen erhalten habe und dass dieser auch an ihn adressiert gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe drei bis vier Jahre alleine in Kabul gelebt, dann ca. zehn Jahre bei seiner Schwester. Bei einer Rückkehr gehe es „um den Tod“, wenn man in einem islamischen Land den Koran anzünde, dann sei es unmöglich dort zu leben. Jeder beliebige Mensch könne einen dort auf der Straße töten. Er habe zwei Jahre dort leben können, da er glaube, dass „sie“ es zwei Jahre lang nicht gewusst hätten. Er frage sich selbst, von wem „sie“ es erfahren haben.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leide und er „persönlich unglaubwürdig“ sei. Er sei arbeitsfähig.

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Furcht vor Verfolgung sei nicht festzustellen und es läge in seinem Fall „keine Gefährdungslage in Bezug auf Afghanistan“ vor.

Begründet wurde die Entscheidung damit, dass aufgrund der massiv divergierenden Angaben im Lebenslauf des Beschwerdeführers dieser „erfunden“ sei und er keine wahrheitsgemäßen Angaben gemacht habe. Davon abgesehen sei seinem Vorbringen zum behaupteten Fluchtgrund zur Gänze jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen, da die Ausführungen dazu in höchstem Maße vage, widersprüchlich und in keiner Weise plausibel gewesen seien. Er habe es unterlassen anzugeben, wann sich die behaupteten Vorfälle ereignet hätten. Erst auf konkrete Nachfrage habe er angegeben, dass er die Probleme ungefähr vor einem Jahr gehabt habe. Er habe nicht angegeben, wann der Vorfall sich ereignet habe, obwohl davon auszugehen sei, dass ein vernunftbegabter Mensch mit diesem Detail seine Schilderung begonnen hätte. Auch den Brief betreffend seien die Angaben des Beschwerdeführers vage gewesen. Der Beschwerdeführer habe nicht wissen können, ob der Brief von einem Freund geschickt worden sei oder nicht, da er angegeben habe, dass er nicht wisse, von wem dieser Brief gewesen sei, er habe angegeben, er habe diesen von einem „Unbekannten“ erhalten. Auch wenn dies in diesem Brief gestanden hätte, wisse er nicht, ob dieser Brief wirklich von einem Freund stamme oder nicht. Kein halbwegs vernunftbegabter Mensch würde seine Heimat verlassen, nur aufgrund dessen, dass er einen Brief erhalten haben solle, in dem nicht stehe, von wem dieser sei und in dem auch keine wirkliche Drohung enthalten wäre. Auch ein Widerspruch habe sich ergeben, als der Beschwerdeführer gefragt worden ist, ab wann er wütend gewesen sei. Er habe auch zuerst angegeben, dass in dem Haus nur ein Koran gewesen sei, dann seien es wieder drei gewesen, er habe aber nur einen angezündet. Bei der Fluchtgeschichte handele es sich bloß um ein Lügenkonstrukt. Wenn er wirklich eine solche Wut gehabt hätte, hätte er alle drei Korane angezündet und nicht nur einen. Der Beschwerdeführer habe auch angegeben, dass er niemals persönlich bedroht worden sei, er sei nur wegen des Briefes ausgereist, von dem er nicht einmal wisse, von wem dieser stamme. Es sei auch nicht nachvollziehbar, wieso der Beschwerdeführer den Brief überhaupt erhalten habe, da er bei der Verbrennung des Korans alleine im Zimmer gewesen sei und somit habe keiner davon wissen können. Auch wieso der Beschwerdeführer den Brief erst zwei Jahre nach dem Vorfall erhalten habe, sei nicht nachvollziehbar. Auch, dass er angab, dass er nicht genau wisse, wieso er den Koran angezündet habe, sei nicht nachvollziehbar. Somit sei auch nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer den Koran wirklich angezündet habe.

Der Beschwerdeführer könne seinen Lebensunterhalt aufgrund seiner sozialen Anknüpfungspunkte, die er in Kabul sicher habe, da er die letzten Jahre dort verbracht habe dort bestreiten. Es bestehe kein Zweifel, dass er als erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der eine gute schulische Ausbildung genossen hat im Falle einer Rückkehr seinen Unterhalt bestreiten könne, umso mehr, als er die dortige Sprache beherrsche und auch mit der dort ansässigen Kultur vertraut sei, was für Österreich nicht der Fall sei.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass der Bescheid mir schweren Ermittlungs- und Beweiswürdigungsfehlern behaftet sei. Die Behörde habe vollkommen ignoriert, dass der Beschwerdeführer offensichtlich psychisch krank sei. Auch das rastlose Leben des Beschwerdeführers zeige, dass er sich nirgendwo sicher fühle, da er meine, verfolgt zu werden. Betreffend eine Flüchtlingseigenschaft wurde ausgeführt, dass er Beschwerdeführer sowohl von staatlicher, als auch von dritter Seite aufgrund seiner religiösen Überzeugung in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt sei. Er könne sich aufgrund seines psychischen Zustandes auch nicht gut kontrollieren und es bestehe die Gefahr, dass er weitere, auch öffentliche, Handlungen „gegen den Islam“ vornehme. Da die Verfolgung auch von staatlicher Seite bestehe, gebe es auch keine innerstaatliche Fluchtalternative und es wäre dem Beschwerdeführer deswegen Asyl zu gewähren gewesen. Auch abgesehen von der Verfolgungsgefahr könne der Beschwerdeführer nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, Er habe keinen Kontakt mehr zu seiner Familie in Afghanistan, seine Schwester, bei der er in Kabul gelebt habe, habe mit hoher Wahrscheinlichkeit auch aus Afghanistan flüchten müssen, da sie als Verwandte des „Koranverbrenners“ sehr gefährdet gewesen sei. Den Kontakt zu dieser habe der Beschwerdeführer verloren. Ohne Vermögen, spezifische Berufsausbildung und familiäre Unterstützung sei es dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr unmöglich sich ein sicheres und menschenwürdiges Leben in Afghanistan aufzubauen. Besonders prekär sei die Situation aufgrund der psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers.

5. Mit Schreiben vom 16.12.2016 wurde die gegenständliche Beschwerde – ohne von der Möglichkeit eine Beschwerdevorentscheidung zu erlassen – dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

6. Am 11.01.2017 erlangte das Bundesverwaltungsgericht Kenntnis vom Projektantrag des Beschwerdeführers betreffend die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Integration für Rückkehrerinnen nach Afghanistan.

7. Am 12.01.2017 übermittelte das BFA ein Schreiben an die Rückkehrhilfe betreffend die freiwillige Rückkehr des Beschwerdeführers und die damit durch das BFA geplant Übernahme der Kosten der Rückreise.

8. Mit E-Mail vom 26.01.2017 teilte der Verein Menschenrechte Österreich mit, dass der Beschwerdeführer untergetaucht sei.

9. Am 22.02.2017 erfolgte eine fernmündliche Nachfrage über den Verbleib des Beschwerdeführers beim Verein Menschenrechte Österreich. Seitens des Vereines wurde nochmals bestätigt, dass der Beschwerdeführer untergetaucht sei.

Eine am selben Tag erfolgte Abfrage im ZMR ergab, dass der Beschwerdeführer über keinen aktuellen Wohnsitz im Bundesgebiet verfügte. Ebenso negativ verlief die Abfrage des aktuellen Wohnsitzes im Speicherauszug aus dem GVS-Informationssystem.

10. Mit Beschluss vom 24.02.2017 wurde das Beschwerdeverfahren eingestellt.

11. Mit E-Mail vom 23.03.2017 unterrichtete das Polizeikommissariat Wiener Neustadt das Bundesverwaltungsgericht darüber, dass der Beschwerdeführer seit dem 13.03.2017 in einem organisierten Quartier wohnhaft sei. Dieser Nachricht war ein aktueller GVS-Auszug mit der Wohnadresse des Beschwerdeführers beigeschlossen.

12. Am 27.03.2017 übersendete der Beschwerdeführer einen aktuellen Meldezettel und gab an, an dieser Adresse aufhältig und gewillt zu sein, am Verfahren zum Antrag auf internationalen Schutz mitzuwirken. Er rege daher an, sein Verfahren fortzusetzen.

13. Mit Beschluss vom 28.03.2017 wurde das mit Beschluss eingestellte Verfahren fortgesetzt.

14. Datiert mit 23.04.2018 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehr.

15. Mit 09.05.2018 widerrief der Beschwerdeführer den Antrag auf freiwillige Rückkehr, da er „sich die Rückkehr nicht gut genug überlegt“ habe. Er sei in einer „psychisch labilen Verfassung“ gewesen, als er den Antrag gestellt habe.

16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.06.2019 eine mündliche Verhandlung durch. Im Rahmen dieser Verhandlung gab der Beschwerdeführer – in Anwesenheit seines Rechtsberaters sowie zweier Vertreter des BFA - zusammengefasst an, dass er an Schlafstörungen leide und er nachts nur drei bis vier Stunden schlafen könne. Er denke sehr viel nach und mache sich Sorgen. Er befinde sich nicht in medizinischer Behandlung und nehme auch keine Medikamente ein, an einen Arzt habe er sich nicht gewandt. Er gab an „etwas deutsch zu sprechen“, da er bereits in Afghanistan einen Deutschkurs besucht habe. Er habe in Afghanistan bis zur 11. Klasse die Schule besucht und danach fünf Monate die Militärakademie. Anschließend habe er Afghanistan verlassen und sei dann einige Monate in Pakistan aufhältig gewesen. Anschließend sei er nach Kanada gegangen, wo er fünf Jahre lang gelebt und als Dekorateur gearbeitet habe. Er habe dort auf seinem Handy Drohnachrichten erhalten. Er sei in Kanada auch dreimal verhaftet worden, weswegen er sich dort „nicht mehr gut“ gefühlt habe und 2002 freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Zwischen 2002 und bis zu seiner erneuten endgültigen Ausreise aus Afghanistan 2016 sei er einige Zeit in Pakistan, im Iran und in der Türkei aufhältig gewesen, und insgesamt ca. vier Jahre in Afghanistan. Dazu befragt, wann er das erste Mal nach Pakistan ausgereist sei, gab er an, dass es nach dem Besuch der Militärakademie gewesen sei. Auf Vorhalt, dass er beim BFA angegeben habe, dass es vor diesem Besuch gewesen sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er einmal vor der Militärakademie nur zur Durchreise in Pakistan gewesen sei, damals sei es nicht möglich gewesen, direkt nach Kabul zu reisen. Nach der Schule sei er vom Militär „festgenommen“ worden und nach Kandahar zum Pflichtmilitärdienst gebracht worden, damals habe man von Kandahar nicht direkt nach Kabul fahren können. Er sei vom Militär nach Pakistan geflüchtet und sei dann von Pakistan wieder zurück nach Afghanistan und nach Kabul gefahren. Auf Frage, ob er sich durch die Flucht nach Pakistan dem Wehrdienst entziehen habe wollen, gab der Beschwerdeführer an, dass das so stimme. Auf Frage, wieso er dann freiwillig die Militärakademie besucht habe, gab er an, dass er, wenn er den Wehrdienst gemacht hätte, er für zwei bis drei Jahre in einer Kaserne wie ein Gefangener sein hätte müssen und er wäre verpflichtet gewesen, alle Befehle auszuführen. Er habe schon damals den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen und habe sich in Kabul für einen Offizierskurs angemeldet, da er dann dort bleiben habe können und die Ausbildung sechs Monate bis zu einem Jahr dauere. Während dieser Zeit habe er eine Gelegenheit gesucht, um Afghanistan zu verlassen. Dazu befragt, wieso man den Beschwerdeführer als Deserteur zur Offizierslaufbahn zulassen hätte sollen, gab er an, dass sich Afghanistan bereits im Kriegszustand befunden habe und wenn man für den Wehrdienst verpflichtet worden sei, sei man nicht in Kabul registriert worden, sondern in der Kaserne, welche sich beim Beschwerdeführer in Kandahar befunden habe. Als er nach Kabul gekommen sei, habe das Militär noch nicht die Möglichkeit gehabt auf Daten von anderen Kasernen zuzugreifen um herauszufinden, ob der Beschwerdeführer vom Pflichtwehrdienst geflüchtet sei. Von wem die Drohanrufe in Kanada gekommen seien, wisse der Beschwerdeführer nicht. Er glaube, dass es entweder die kanadische Polizei gewesen sei, die diese Nachrichten hinterließ oder vielleicht seien es auch Mitglieder von Drogenbanden gewesen. Er gehe nicht davon aus, dass diese Anrufe mit seinem Herkunftsstaat zu tun hätten. In Afghanistan habe seine Familie den Beschwerdeführer unterstützt. Er habe über einen kurzen Zeitraum als Taxifahrer gearbeitet. In Kanada habe er eine Zeit lang Sozialhilfe bekommen und habe dort die Sprache gelernt, dann habe er auch begonnen zeitweise zu arbeiten. Er habe im Bereich „Dekoration“ gearbeitet, und auch bei Bauarbeiten, er sei Maler, Fliesenleger und Dachdecker gewesen. Seine Familie und seine Verwandten befänden sich alle im Ausland, in Deutschland, Holland, Frankreich und Amerika. Er habe einen Neffen in Afghanistan gehabt, er wisse aber nicht, ob dieser immer noch dort lebe. Die Mutter des Beschwerdeführers habe in Deutschland gelebt, diese habe, als sie dort hin kam, gesundheitliche Beschwerden gehabt, der Beschwerdeführer habe keinen Kontakt zu seiner Mutter, er wisse daher auch nicht, ob diese noch lebe und wie es ihr gehe. Die Schwester, bei der der Beschwerdeführer gelebt habe, befinde sich in Deutschland, sie hätten Afghanistan gemeinsam verlassen, auf der Flucht seien sie getrennt worden. Der Beschwerdeführer habe erstmals Afghanistan verlassen, als Najibollah Präsident gewesen sei. Er sei nach Pakistan geflüchtet, da sein Leben in Afghanistan in Gefahr gewesen sei. Damals habe Kriegszustand geherrscht und man habe entweder zum Militär gehen oder sich den Mujaheddin anschließen müssen. Der Beschwerdeführer sei ein Gegner des Krieges gewesen und um sowohl dem Militär als auch den Mujaheddin zu entkommen, sei er geflüchtet. Damals sein ein jüngerer Bruder von ihm im Krieg gestorben. Er sei danach direkt nach Kanada gegangen. Er sei im Jahr 2002 nach Afghanistan zurückgekehrt und war dann dort 1 – 1,5 Jahre aufhältig. Es habe damals keine guten Arbeitsmöglichkeiten für den Beschwerdeführer gegeben, deshalb sei er in den Iran gegangen. 2016 habe er zuletzt Afghanistan verlassen. Im Iran sei er ca. fünf oder sechs Jahre gewesen. Danach habe er wieder 1 – 1,5 Jahre in Afghanistan verbracht und sei dann für sechs Monate nach Pakistan gegangen. Dann habe er wieder ein Jahr in Afghanistan gelebt und sei dann für drei Jahre in die Türkei gegangen. Danach sei er wieder nach Afghanistan gegangen, er wisse nicht, wie lange er dann dort war, bis er Afghanistan 2016 verlassen habe. Dieses Mal habe er Afghanistan verlassen müssen, davor sei er immer freiwillig weggegangen. Er habe weggehen müssen, da er eines Tages sehr verärgert gewesen sei, er habe sich über den Dschihad und die Muslime geärgert und er habe auch daran gedacht, dass sein Bruder wegen des Dschihads getötet worden sei. Er habe die Kontrolle verloren und zu Hause einen Koran genommen, diesen zerrissen, verbrannt und anschließend weggeworfen. Er sei alleine zu Hause gewesen. Ca. drei Monate nach dem Vorfall habe er einen Brief bekommen, er habe ihn im Postkasten gefunden. In diesem Brief habe sich eine Person als Freund vorgestellt und habe ihm geschrieben, dass er wisse, was er mit dem Koran getan habe und dass nicht nur er, sondern auch „eine Gruppe“ darüber Bescheid wisse und dass diese den Beschwerdeführer deswegen töten wolle. Er solle Afghanistan schnell verlassen und auch in keinem anderen islamischen Land mehr leben, denn, wenn man dort erfahren sollte, was er getan habe, er mit dem Tod bestraft werden könne. Dadurch, dass der Beschwerdeführer sich nicht sicher gefühlt habe und auch seine Schwester, bei der er gelebt habe, gefährdet gewesen sei, hätten sie den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen. Es habe ca. 1 – 1,5 Monate nach Erhalt des Briefes gedauert, bis sie Afghanistan verlassen hätten können. Er wolle auf einen ähnlichen Fall hinweisen, der sich in Afghanistan ereignet habe, bei diesem sei einer jungen Frau unterstellt worden, dass sie den Koran verbrannt habe und diese sei deswegen in Kabul getötet worden. Er wisse nicht, wieso ein „unbekannter Freund“ von der Koranverbrennung erfahren habe können. Er habe den Brief aus Angst nicht mitnehmen können. Zwischen der Koranverbrennung und der Ausreise aus Afghanistan seien ungefähr 1,5 – 3 Monate vergangen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistanhabe der Beschwerdeführer Angst getötet zu werden, er könne dort nicht leben.

Auf Nachfrage seines Rechtsberaters gab der Beschwerdeführer an, dass er immer ein Gegner des streng fanatischen Islams gewesen sei. In Afghanistan würden viele Menschen leben, die den Islam auf eine sehr aggressive und strenge Weise ausleben würden. Er habe, wenn er mit Leuten zusammengesessen sei, immer klar seine Meinung dazu geäußert und habe gesagt, dass er gegen Steinigung sei und dass er Afghanistan nicht für ein demokratisches Land halte, da es dort keine Freiheiten gebe und, weil die Gesellschaft und die Gesetze vom Islam geprägt seien. In diesen Gesprächsrunden habe es immer wieder Personen gegeben, die den Beschwerdeführer als Ungläubigen bezeichnet und ihm gesagt hätten, dass sie ihn nicht für einen Muslimen halten würden. Diese Leute seien keine Mitglieder einer bestimmten Gruppe oder Taliban gewesen, es könne aber sein, dass sie Angehörige in anderen Landesteilen, wie Logar, gehabt haben, die vielleicht Kontakte zu den Taliban gehabt haben könnten und dadurch bekannt geworden sein könnte, wie der Beschwerdeführer über die allgemeine Situation in Afghanistan denke. Er habe auch außerhalb Afghanistans Probleme aufgrund seines eher moderne demokratischen Verständnisses seines Glaubens gehabt, er sei im Monat Ramadan in einem Park gesessen und habe Wasser getrunken und einige afghanische junge Männer seien zu ihm gekommen und hätten ihn gefragt, wieso er nicht fasten würde und dass er damit alle Afghanen entehren würde. Er habe sich bedroht gefühlt. Er denke aber nicht, dass sie ihm in Österreich etwas antun könnten. Wäre es in Afghanistan passiert, so sei der Beschwerdeführer sicher, dass man ihn dort vielleicht sogar mit dem Tod bestraft hätte. Es sei auch vorgekommen, dass er mit einer Bierdose fotografiert worden sei, wenn er manchmal eine Pizza mit Salami gegessen habe. Er glaube nicht, dass diese Leute unbedingt ein Erinnerungsfoto mit ihm machen hätten wollen, sondern dass diese vielleicht für eine Stelle arbeiten, der sie die Bilder schicken um ihnen zu zeigen, dass er Alkohol trinke und Schweinefleisch esse. Auf Nachfrage des erkennenden Richters gab der Beschwerdeführer an, dass er die Namen dieser Personen nicht wisse, mit einigen von ihnen habe er gemeinsam in der Unterkunft gelebt oder auch im selben Ort. Einige von diesen seien bereits nach Afghanistan zurückgeschoben worden. In der Unterkunft sei sogar eine Kopie seiner Erstbefragung gestohlen worden, da er dort seine Unterlagen nicht in einen Kasten habe sperren können. Bereits in der Erstbefragung gäbe es viele Infos über den Beschwerdeführer und vielleicht würden jene Personen, die diese Unterlagen gestohlen hätten, für eine Gruppe arbeiten, die in Afghanistan aktiv ist und vielleicht wüssten jetzt sehr viele Personen über das Leben des Beschwerdeführers Bescheid.

Auf Vorhalt, dass der Beschwerdeführer vor dem BFA angegeben habe, dass er zehn Jahre bei seiner Schwester gelebt habe und in der Verhandlung, dass dies ca. ein Jahr der Fall gewesen sei, gab dieser an, dass er nach seiner Rückkehr nicht 10 Jahre in Afghanistan gelebt habe und dass dies nicht richtig sei. Vielleicht habe er über einen „bestimmten Aufenthalt“ geredet und habe zehn Monate gesagt, aber er wisse es nicht mehr genau.

Auf Vorhalt, dass der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben zum Zeitraum zwischen der Verbrennung des Korans und der Ausreise gemacht habe, gab dieser an, dass er den Brief ca. drei Monate vor seiner Ausreise bekommen habe. Es könne sein, dass der Verfasser des Briefes oder auch die Gruppe, die dort erwähnt sei, erst zwei Jahre nach dem Vorfall auf irgendeine Weise davon erfahren habe, er wisse es aber nicht. Dazu befragt, wieso der Beschwerdeführer in der Verhandlung angegeben habe, dass er drei Monate nach dem Zerreißen und Verbrennen des Korans den Brief erhalten habe, gab dieser an, dass es nicht drei Monate gewesen seien. Es sei nicht genau in dem Brief gestanden, wann der Verfasser davon erfahren habe. Vielleicht habe er zwei Jahre vor Erhalt des Briefes den Koran verbrannt, er könne sich aber nicht mehr genau daran erinnern.

Dazu befragt, wieso der Beschwerdeführer bereits zweimal freiwillig nach Afghanistan zurückkehren habe wollen, gab er an, dass es damals in der Unterkunft Leute gegeben habe, die ihn geärgert und belästigt hätten. Es könne sein, dass diese seine Einvernahmen gelesen hätten und nun seine Fluchtgründe kennen und ihn deswegen belästigen würden. Eines Tages sei er sehr geärgert worden und habe sich dazu entschlossen nach Afghanistan zurückzukehren um diesen Problemen zu entkommen. Es habe dann einige andere Leute gegeben, die ihn davon abgehalten hätten und ihm erklärt hätten, dass er nicht immer mit diesen Leuten in der Unterkunft leben würde. Dazu befragt, ob er nach Afghanistan zurückgekehrt wäre, wenn er nicht abgehalten worden wäre gab der Beschwerdeführer an, dass das möglicherweise der Fall hätte sein können, da er damals „noch mehr psychische Probleme“ gehabt habe, vor allem, da er in der Unterkunft immer wieder geärgert und belästigt worden sei. Er habe immer noch psychische Probleme.

Zu seinem Leben in Österreich befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich habe. Er spreche „ein bisschen“ Deutsch. Er habe in Kabul Deutsch gelernt, da sie Verwandte hätten, die ein Business von Deutschland nach Afghanistan gehabt hätten, es seien Geschäftsleute gewesen. Sein Vater habe gedacht, dass der Beschwerdeführer vielleicht auch nach Deutschland gehe und dort Geschäfte mit den Deutschen machen würde, Import und Export von Fahrzeugen z.B.. Er habe keine Sprachzertifikate in Österreich erworben, da er aufgrund seiner psychischen Probleme keinen Sprachkurs machen könne. Befragt zu seinem Tagesablauf gab der Beschwerdeführer an, dass er „zu viel denke“. Er tue nichts Spezielles, er versuche mit den Leuten zu sprechen. Manchmal gehe der in den Park, er kenne dort „manche österreichischen Jungs“, mit denen versuche er zu sprechen um Deutsch zu lernen. Er schaue auch viel fern um die Sprache zu lernen. Er gehe keiner Erwerbstätigkeit nach, weil er nicht arbeiten dürfe. Er übe auch keine Tätigkeiten für die Gemeinde aus, weil er eben nicht arbeiten dürfe. Er schwimme gerne, der Eintritt sei aber ein bisschen teuer. Er sei „vielleicht“ Schwarzgefahren. Er habe keinen Kontakt zu Personen in Afghanistan von Österreich aus. Er besuche nicht regelmäßig eine Moschee. Er habe österreichische Bekannte, aber keine Freunde. Er habe auch keine afghanischen Freunde. Er lebe alleine. Er sei in Österreich nie in psychologischer Behandlung gewesen. Der Beschwerdeführer wolle in Österreich genauso wie die anderen Leute ein normales Leben führen und arbeiten und für sich selbst sorgen. Er habe viel Arbeitserfahrung auf Baustellen gesammelt, er könne sich vorstellen so einer Tätigkeit nachzugehen. In Zukunft, wenn er genug Geld angespart habe, könne er sich vorstellen, eine Baufirma zu gründen, ältere Häuser und Wohnungen zu renovieren, sie zu kaufen und wiederzuverkaufen. Er habe eine deutsche Schule besucht und dort Deutsch gelernt.

Auf Nachfrage gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan keiner Arbeit nachgehen könne, da es sehr schwer sei dort Arbeit zu finden. Dadurch, dass er dort nicht sehr lange Zeit durchgehend gelebt habe, habe er dort keine Arbeitserfahrungen gesammelt und er sei durch seine Familie unterstützt worden. Er habe im Iran und in der Türkei gearbeitet.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 15.03.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab und es wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlasen und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen festgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, woraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich bzw. seinen Integrationsbemühungen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

Der Beschwerdeführer beantragte bereits zweimalig eine Rückkehrhilfe, zog diese Anträge aber immer wieder zurück.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

Der Beschwerdeführer hat keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Es besteht kein Kontakt zu seinen Familienangehörigen, die sich alle außerhalb Afghanistans befinden.

Der Beschwerdeführer befindet sich – weder aktuell noch in der Vergangenheit - nicht in medizinischer Behandlung und bedarf auch keiner regelmäßigen Medikamenteneinnahme.

Der Beschwerdeführer wurde in Kabul geboren und wuchs dort auch auf. Der Beschwerdeführer besuchte elf Jahre lang die Schule und absolvierte anschließend eine fünfmonatige Militärausbildung. Nach dieser Ausbildung verließ der Beschwerdeführer Afghanistan und war einige Monate in Pakistan aufhältig. Anschließend ging er nach Kanada, wo er fünf Jahre lang lebte, Englisch lernte und als Dekorateur arbeitete. 2002 kehrte er freiwillig nach Afghanistan zurück. Zwischen 2002 und der endgültigen Ausreise aus Afghanistan 2016 lebte der Beschwerdeführer einige Zeit in Pakistan, im Iran und in der Türkei, insgesamt war er ca. vier Jahre lang in Afghanistan aufhältig.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache aufgrund der Tatsache, dass er in Afghanistan Deutsch gelernt hat, ein in Österreich erworbenes Sprachzertifikat besitzt er nicht.

Der Beschwerdeführer geht in Österreich keiner Beschäftigung nach, besucht keine Kurse oder eine Schule und ist auch kein aktives Mitglied in einem Verein.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine engeren familiären Anknüpfungspunkte, es bestehen auch keine freundschaftlichen Beziehungen zu österreichischen Staatsbürgern.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten, von einer gegen ihn erhobenen Anklage wurde er freigesprochen.

1.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.3.1.  Der Beschwerdeführer und seine Familie werden in Afghanistan nicht aktuell verfolgt und/oder bedroht. Auch bei einer Rückkehr ist der Beschwerdeführer nicht einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung durch islamistische Gruppierungen oder den Staat ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer wird nicht aktuell oder konkret aufgrund einer von ihm berichteten „Koranverbrennung“ verfolgt.

1.3.2.  Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell, aktuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan (in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat) nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen könnten, können nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Herat und Mazar-e Sharif sind über die dortigen Flughäfen sicher zu erreichen.

Es werde dem Beschwerdeführer grundsätzlich auch möglich und zumutbar nach Kabul zurückzukehren, zumal er dort geboren und aufgewachsen und somit mit den dortigen Gegebenheiten vertraut ist.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 18.05.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.5.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.2.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.3.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.4. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.5. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.6. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

1.5.7. Provinzen und Städte

1.5.7.1.  Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme E

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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