TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/14 W189 2231839-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.07.2020
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Entscheidungsdatum

14.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §56
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W189 2231839-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Schlor RA OG, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und Z 2, Abs. 4, § 8 Abs. 1 Z 2, § 10 Abs. 1 Z 4, § 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und § 46, § 52 Abs. 2 Z 3, Abs. 9, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 AsylG 2005 werden als unzulässig zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid des damaligen Bundesasylamtes (in der Folge: BAA) vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem Beschwerdeführer (in der Folge: BF) gem. § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Am XXXX erhob die Staatsanwaltschaft XXXX zur Zl. XXXX gegen den BF Anklage wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 15 StGB.

3. Am XXXX übermittelte die Landespolizeidirektion (in der Folge: LPD) Niederösterreich dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) einen Anlassbericht über den BF wegen des Verdachtes der Begehung des schweren Raubes.

4. Mit Aktenvermerk vom XXXX leitete das BFA ein Aberkennungsverfahren ein.

5. Am XXXX wurde der in Haft befindliche BF durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

Dabei gab er zu seiner Person im Wesentlichen an, dass er in XXXX geboren worden und als dreijähriger nach Österreich gekommen sei. Er spreche Deutsch, Englisch und Tschetschenisch. Er habe hier die Schule besucht und befinde sich in einer Lehre zum XXXX . Er lebe bei seinen Eltern und finanziere sich durch sein Lehrentgelt und seine Eltern. Er sei ledig und kinderlos. Er habe österreichische Freunde. Er sei nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. In Haft werde er regelmäßig durch seine Familie besucht. Er plane, seine Ausbildung abzuschließen und anschließend selbständig zu arbeiten. Er hoffe, dass er bald entlassen werde.

In Russland gebe es noch seine Großeltern, ansonsten wisse er von niemandem. Er habe als Kind Kontakt gehabt, nun aber kaum mehr. Er wisse nicht, ob es ihm möglich wäre, zu seinen Angehörigen in Russland zurückzukehren. Er sei hier aufgewachsen und kenne nichts außer Österreich. Er spreche kein Russisch. Es sei eine „Frechheit“, dass man wegen eines Fehlers einfach abgeschoben werden könne.

Er bereue seine Straftat. Er sei in der Berufsschule gewesen und habe keine Zeit und keinen klaren Kopf gehabt. Es habe sich „alles“ aufgestaut. Eine Person habe ein Kilogramm Cannabis von anderen Leuten gestohlen und diese hätten dann auf den BF Druck ausgeübt, mit dem er nicht umgehen habe können. Er habe seine „ganze Wut dort ausgelassen“.

Dem BF wurden im Rahmen der Einvernahme die Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation ausgefolgt.

6. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als junger Erwachsener gemäß § 1 Abs. 1 Z 5 JGG wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB und des § 19 Abs. 1 JGG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt, wovon zwei Jahre unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

7. Mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde die bedingte Entlassung des BF nach zwei Drittel der Freiheitsstrafe abgelehnt.

8. Mit rechtskräftigem Beschluss des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerde gegen obgenannten Beschluss Folge gegeben und die bedingte Entlassung des BF gem. § 46 Abs. 1 StGB iVm § 152 Abs. 1 Z 2 StVG am XXXX angeordnet, eine Probezeit von drei Jahren bestimmt und für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet.

9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem BF der mit Bescheid vom XXXX zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005 aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein achtjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.), sowie dem BF eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der BF wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden sei, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen sei. Eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei nicht gegeben. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der Straftat und der nicht besonders ausgeprägten Integration des BF in Österreich nicht entgegen. Angesichts der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Russland. Da der BF aufgrund seiner Verurteilungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sei zudem die Verhängung eines Einreiseverbotes geboten gewesen. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

10. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF durch seinen Rechtsvertreter fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.

11. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte das BFA das Protokoll der niederschriftlichen Einvernahme des Vaters des BF vom Vortag in dessen Aberkennungsverfahren. Dieser gab unter anderem an, dass er Russisch und ein wenig Deutsch beherrsche. Tschetschenisch sei zwar seine Muttersprache, er könne es aber nicht lesen und schreiben, da zur Zeit der Sowjetunion Russisch die dominante Sprache gewesen sei. Zu den Familienverhältnissen brachte er vor, dass sein älterer Bruder in XXXX , zwei jüngere Brüder in XXXX und seine Mutter, ein weiterer Bruder und seine Schwester im Heimatdorf in XXXX leben würden. Er sei „selbstverständlich“ in täglichem Kontakt mit seinen Angehörigen in Russland. Er habe sich XXXX einen russischen Reisepass ausstellen lassen. Er sei zweimal nach Tschetschenien gereist. Er glaube, dass nur er, seine Frau und sein jüngerer Sohn einen russischen Reisepass beantragt hätten, aber genau wisse er das nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1 Zur Person des BF

Der BF ist russischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Deutsch, Englisch und Tschetschenisch.

Der BF wurde in XXXX geboren und kam als dreijähriges Kind nach Österreich.

Die Eltern und Geschwister des BF leben in Österreich. Seine Großmutter, ein Onkel und eine Tante väterlicherseits leben in XXXX . Zwei weitere Onkel väterlicherseits leben ebenso in XXXX und ein vierter Onkel väterlicherseits lebt in XXXX . Der Vater des BF steht in täglichem Kontakt mit diesen Verwandten.

Der BF besuchte in Österreich die Schule und befindet sich derzeit in einer Lehre um XXXX . Er verdient ein Lehrentgelt von EUR 770,- netto pro Monat. Er hat österreichische Freunde, die aber zum Gutteil dem Drogenmilieu verhaftet sind. Er ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation.

Der BF ist drogensüchtig.

Der BF ist ledig, kinderlos und gesund.

1.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

Dem BF wurde mit Bescheid des BAA vom XXXX , Zl. XXXX , gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Der BF leitete den Status des Asylberechtigten von seinem Vater ab. Diesem wurde in Österreich Asyl gewährt, da er im ersten Tschetschenienkrieg in einer tschetschenischen Einheit gekämpft habe und (deshalb) im zweiten Tschetschenienkrieg für einen Monat von russischen Soldaten festgenommen worden sei. Er sei zwar auf Betreiben eines ihm bekannten Staatsanwaltes freigekommen, aber es sei weiterhin nach ihm gesucht worden.

1.3. Zur Straffälligkeit des BF

1.3.1. Am XXXX erhob die Staatsanwaltschaft XXXX zur Zl. XXXX gegen den BF Anklage wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 15 StGB und legte ihm zur Last, dass er im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Mittätern und mit Bereicherungsvorsatz am XXXX mit Gewalt einem Opfer Bargeld in Höhe von EUR 60,- abgenötigt habe, indem sie dem Opfer Schläge und Tritte gegen den Körper versetzt hätten und es zur Übergabe seiner Geldbörse aufgefordert hätten, sowie einem weiteren Opfer Bargeld abzunötigen versucht hätten, indem sie dieses gegen eine Gebäudewand gestoßen und aufgefordert hätten, seine Wertgegenstände herauszugeben, dem Opfer jedoch nichts weggenommen hätten, da sie kein Bargeld vorfinden hätten können.

1.3.2. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF als junger Erwachsener gemäß § 1 Abs. 1 Z 5 JGG wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB und des § 19 Abs. 1 JGG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt, wovon zwei Jahre unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

Laut im Urteil festgestellten Sachverhalt ging der eigentlichen Tat eine Kontaktaufnahme eines der späteren Opfer mit dem BF voraus, wonach der BF diesem eine größere Menge Cannabis besorgen möge. Am XXXX kam es zu einem Treffen des späteren Opfers mit einem Dritten, wobei unter anderem auch der BF anwesend war. Der Dritte übergab dem späteren Opfer für einen vereinbarten Kaufpreis von EUR 5.000,- ein Kilogramm Cannabiskraut, doch das spätere Opfer flüchtete ohne Bezahlung des Kaufpreises mit dem Suchtgift. Ein tschetschenischer Mann teilte daraufhin dem BF telefonisch mit, dass er „das nun wieder gerade biegen solle“. Der BF beschloss daraufhin, das Suchtgift oder den vereinbarten Kaufpreis beim späteren Opfer „einzutreiben“. Der BF kontaktierte daraufhin drei Bekannte bzw. langjährige Freunde (die späteren Mittäter). Diese trafen sich am XXXX und beschlossen, das spätere Opfer noch am selben Abend aufzusuchen und das Geld für das gestohlene Suchtgift zu fordern. Zu diesem Zweck bewaffnete sich der BF mit einem Schlagring und teilte den Mittätern mit, dass auch diese sich bewaffnen mögen, um sich „zu verteidigen“. Ein Mittäter stattete sich daraufhin mit einem Messer, ein weiterer mit einer Softgun aus. Der BF und die Mittäter fuhren zum Aufenthaltsort des späteren Opfers und stachen dort zunächst die Reifen des vor Ort abgestellten Autos des späteren Opfers auf, um dessen Flucht zu verhindern, und stürmten sodann durch die offene Eingangstür des Einfamilienhauses. Der BF begann sofort – ohne auch nur ein Wort mit dem Opfer zu wechseln – auf dieses und eine weitere anwesende Person einzuschlagen, wobei er den Schlagring an der Hand trug. Auf eine dritte Person schlug der BF ohne Schlagring ein. Die drei Opfer erlitten eine Rissquetschwunde an der linken Stirn, eine Rissquetschwunde im Bereich der linken Schläfe und eine Beule auf der Stirn, sowie eine leichte Prellung. Erst durch das Eingreifen eines Mittäters hörte der BF mit der Gewaltanwendung auf. Ein Mittäter drohte den Anwesenden mit dem mitgebrachten Messer, ein weiterer Mittäter richtete die mitgebrachte Softgun gegen die Opfer. Der BF forderte anschließend lautstark die Rückgabe des „Gras“ oder die Zahlung des vereinbarten Kaufpreises. Da das Opfer der Aufforderung nicht nachkommen konnte, erteilte der BF den Mittätern den Auftrag, die Räumlichkeiten zu durchsuchen und sämtliche Wertgegenstände wegzunehmen. Ein Mittäter warf eine Playstation auf den Kopf des Opfers. Der BF und die Mittäter durchsuchten daraufhin die Räumlichkeiten und steckten diverse Wertgegenstände ein. Nach insgesamt ca. zehn Minuten verließen der BF und die Mittäter das Haus wieder und flüchteten mit der Raubbeute.

Der BF ist demnach gemäß Urteil schuldig, gemeinsam mit drei anderen Personen am XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben anderen fremde bewegliche Sachen weggenommen zu haben, um sich durch die Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie den Raub unter Verwendung einer Waffe begingen, indem sie durch die offene Tür des Einfamilienhauses, in dem sich sechs Personen aufhielten, stürmten, die dort anwesenden mit einem Schlagring, den der BF trug, einem Messer, den ein Mittäter drohend gegen die Opfer richtete und äußerte, dass sich keiner bewegen solle, sonst passiere etwas, und einer Softgun, die ein weiterer Mittäter gegen die Opfer richtete, bedrohten, der BF mit seinen Fäusten und dem Schlagring auf drei Opfer einschlug, ein Mittäter eine Playstation auf den Kopf eines Opfers warf, sie Wertgegenstände forderten, die im Erdgeschoss des Einfamilienhauses gelegenen Zimmer durchsuchten und im Eigentum der Opfer stehende Gegenstände im Gesamtwert von zumindest EUR 2.000,- sowie Bargeld in Höhe von EUR 580,- wegnahmen.

Der BF hat weiters das Vergehen des § 50 Abs. 1 Z 2 WaffG begangen und ist schuldig, wenn auch nur fahrlässig, verbotene Waffen oder Munition, nämlich einen Schlagring, besessen zu haben.

Bezüglich des BF bei der Strafzumessung mildernd gewertet wurden das reumütige Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel und das Alter unter 21 Jahren. Erschwerend gewertet wurden das Zusammentreffen von einem Verbrechen und einem Vergehen, die Verübung der Tat in einer Wohnstätte und die führende Beteiligung an der Tat.

1.3.3. Mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde die bedingte Entlassung des BF nach zwei Drittel der Freiheitsstrafe abgelehnt.

Mit rechtskräftigem Beschluss des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerde gegen diesen Beschluss Folge gegeben und die bedingte Entlassung des BF gem. § 46 Abs. 1 StGB iVm § 152 Abs. 1 Z 2 StVG am XXXX angeordnet, eine Probezeit von drei Jahren bestimmt und für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe angeordnet. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die vollständige Verbüßung der Haftstrafe auf Ausnahmefälle evidenten Rückfallsrisikos des Rechtsbrechers beschränkt bleiben soll. Ein derart auffallendes Rückfallrisiko liege konkret nicht vor.

1.4. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten

Der BF wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und bedeutet wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft.

Der BF unterliegt zudem in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

Aus den vom BFA bereits ins Verfahren eingeführten, im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 27.03.2020 (in der Folge: LIB 2020) zitierten Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation ergibt sich Folgendes:

1.5.1. Politische Lage in Tschetschenien

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale

1.5.2. Sicherheitslage in Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus

1.5.3. Rechtsschutz und Justizwesen in Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser)

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.5.4. Sicherheitsbehörden in Tschetschenien

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Quellen:

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.5.5. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).


Quellen:

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage in Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AFP – Agence France Presse (27.2.2020): Bewaffneter Angreifer attackiert tschetschenischen Exil-Blogger

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtinge (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien

-        Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

1.5.7. Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Ein anderes Beispiel ist der wohl populärste Kritiker von Kadyrow. Der Blogger lebt in Polen im Exil und wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 tot in einem Hotel gefunden (SZ 4.2.2020). Trotzdem dürften sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung vor allem auch auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen. Zahlreichen Personen, nach denen seitens russischer Behörden gefahndet wird (z.B. Fahndungen via Interpol), werden Delikte gemäß § 208 Z 2 1. (Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Formation) oder gemäß § 208 Z 2 2 (Teilnahme an einer bewaffneten Formation auf dem Gebiet eines anderen Staates, der diese Formation nicht anerkennt, zu Zwecken, die den Interessen der RF widersprechen) des russischen Strafgesetzbuches zur Last gelegt. In der Praxis zielen diese Gesetzesbestimmungen auf Personen ab, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen bzw. auf Personen, die ins Ausland gehen, um aktiv für den sog. Islamischen Staat zu kämpfen (ÖB Moskau 12.7.2017).

Quellen:

-        CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad

-        Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung

-        SZ – Süddeutsche Zeitung (4.2.2020): Angst säen

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        ÖB Moskau (12.7.2017): Information an die Staatendokumentation, Moskau-KA/ENTW/0014/2017, per Email

1.5.8. Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2020).

Quellen:

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland

1.5.9. Grundversorgung im Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei RUB 27.443 [ca. EUR 388] (Chechenstat 2019), landesweit bei RUB 48.453 [ca. EUR 686] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei RUB 12.440 [ca. EUR 176] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei RUB 14.135 [ca. EUR 200] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 10.967 [ca. EUR 155], für Pensionisten bei RUB 8.553 [ca. EUR 121] und für Kinder bei RUB 10.552 [ca. EUR 150] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 11.553 [ca. EUR 163], für Pensionisten bei RUB 8.894 [ca. EUR 126] und für Kinder bei RUB 10.585 [ca. EUR 150] (RIA Nowosti 23.7.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        Chechenstat (2019): ??????????? ?????????? (Amtliche Statistiken)

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat

-        GKS.ru (16.8.2019): ?????????????? ??????????? ??????????? ?????????? ????? (durchschnittliches monatliches Gehalt)

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        RIA Nowosti (23.7.2019): ??????? ????????? ???????? ???????????? ???????? ?? I ??????? 2019 ???? (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet)

1.5.10. Sozialbeihilfen

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds (GIZ 2.2020c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 2.2020c).

Arbeitslosenunterstützung: Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt RUB 850 (EUR 12) und die Maximalhöhe RUB 4.900 (EUR 70). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zweimal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).

Quellen:

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation

1.5.11. Medizinische Versorgung

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 2.2020c, vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu notfallmäßiger medizinischer Versorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Fälle von Diskriminierung aufgrund von Religion oder ethnischer Herkunft bezüglich der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind nicht bekannt (ÖB Moskau 12.2019).

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).

Es gibt in der Russischen Föderation ein Drogenersatzprogramm, das zwar nicht mit Methadon erfolgt, sondern durch Alternativen. Methadon ist in der Russischen Föderation nicht registriert. Es gibt Reha-Kliniken für Drogenabhängigkeit (BMA 12236).

Quellen:

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation

-        International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248

-        International SOS via MedCOI (29.3.2019): BMA 12236

1.5.12. Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2019).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung von Problemen zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Im Normalfall sind Rückkehrer aber nicht immer mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert (ÖB Moskau 12.2019).

Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Vereinzelt gibt es Fälle von Tschetschenen, die im Ausland einen negativen Asylbescheid erhalten haben, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und nach ihrer Ankunft unrechtmäßig verfolgt worden sind. Das unabhängige Informationsportal Caucasian Knot schreibt in einem Bericht vom April 2016 von einigen wenigen Fällen, in denen Tschetschenen, denen im Ausland kein Asyl gewährt worden ist, nach ihrer Abschiebung drangsaliert worden wären (ÖB Moskau 12.2019). Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 12.2019).

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Polizei gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 13.2.2019).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).

Neben der allgemeinen Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr haben Rückkehrer die Möglichkeit, eines der vom österreichischen Innenministerium unterstützten Reintegrationsprogramme in ihrem Heimatland in Anspruch zu nehmen. Diese freiwilligen Rückkehrer erhalten eine umfassende Beratung und eine Reintegrationsleistung vor Ort (besteht im Wesentlichen aus einer Sachleistung), welche eine erneute Existenzgrundlage im Herkunftsland ermöglichen und somit eine Nachhaltigkeit der Rückkehr fördern soll (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation

-        ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation

1.6. Zur Situation des BF im Falle einer Rückkehr

Dem BF ist die Rückkehr in die Russische Föderation – etwa in den Heimatort XXXX – zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden.

Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der BF nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.

2. Beweiswürdigung

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ergibt sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsakt des BF, insbesondere der dort aufliegenden Urteilsausfertigung, einem aktuellen Strafregisterauszug, den Angaben des BF vor dem BFA und den Strafbehörden, den vorgelegten sozialbetreuerischen Berichten, sowie den Ausführungen des Vaters des BF in dessen Aberkennungsverfahren.

2.1. Zur Person des BF

Die Feststellungen zur Staats- und Volksgruppenzugehörigkeit des BF, dessen Geburtsort, sowie dessen Einreise und Aufenthalt in Österreich gründen sich auf die glaubhaften Aussagen des BF und dem insoweit unstrittigen Akteninhalt.

Dass der BF Deutsch, Englisch und Tschetschenisch beherrscht, hat er ebenso glaubhaft in der Einvernahme durch das BFA vorgebracht (AS 62). Die Feststellung der belangten Behörde, wonach der BF auch russisch spreche, ist hingegen lediglich Spekulation, zumal der BF nicht in Russland die Schule besuchte und nicht lebensfremd scheint, dass der BF und dessen Familie aufgrund ihrer Herkunft nicht russisch, sondern tschetschenisch miteinander sprechen. Gleichfalls kann nicht daraus, dass der BF zwei „russische“ Freunde in Österreich namhaft machte, darauf geschlossen werden, dass er mit diesen russisch sprechen würde.

Der Aufenthalt der Eltern und Geschwister des BF in Österreich ergibt sich aus dem unstrittigen Akteninhalt. Die Angaben des BF in der Einvernahme, nichts über seine Verwandtschaft in Russland zu wissen (AS 65), sowie die in der Beschwerde folgende Steigerung, dass nur die Großmutter des BF in Russland lebe, welche er nicht kenne und welche die einzige lebende Verwandte in Russland sei, zu welcher die Eltern ebenso nur „sehr sporadischen“ Kontakt hätten (AS 305), erwiesen sich jedoch als nicht der Wahrheit entsprechend. Dies folgt unzweifelhaft aus dem Vorbringen des Vaters des BF in dessen Einvernahme vom XXXX , wonach seine Mutter, ein Bruder und eine Schwester in XXXX , zwei Brüder ebenso in XXXX , sowie ein weiterer Bruder in XXXX leben würden und er „selbstverständlich“ täglich Kontakt zu seiner Mutter und seinen Geschwistern habe (OZ 1/S. 4 der Einvernahme). Der Vater des BF ließ sich zudem XXXX einen russischen Reisepass ausstellen und besuchte seine Verwandtschaft in Tschetschenien zweimal (OZ 1/S. 4f der Einvernahme).

Die Feststellungen zum Schulbesuch, der Lehre, den Freundschaften und dass der BF nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation ist, folgt ebenso aus den Angaben des BF in dessen Einvernahme vor dem BFA und den im Beschwerdeschriftsatz vorgelegten sozialbetreuerischen Berichten (AS 336f).

Dass der BF drogensüchtig ist, folgt aus dem im Beschwerdeschriftsatz vorgelegten sozialbetreuerischen Bericht vom XXXX (AS 337). Demnach habe der BF bereits im Alter von XXXX erste Erfahrungen mit Drogen gemacht. Seither sei sein Cannabiskonsum stetig gestiegen, sodass er bis zu 15 Gramm pro Tag geraucht habe. Der BF habe zwar „vor einigen Wochen“ versucht, mit dem Drogenkonsum aufzuhören, was zwar mehrere Wochen funktioniert habe. Kurz vor der Deliktsetzung sei er aber rückfällig geworden.

Dass der BF ledig, kinderlo

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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