Entscheidungsdatum
20.07.2020Norm
BFA-VG §18 Abs3Spruch
G311 2232676-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des minderjährigen XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Ungarn, gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.05.2020, Zahl XXXX, betreffend Aufenthaltsverbot zu Recht:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 29.05.2020 wurde gegen den minderjährigen Beschwerdeführer gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.). Begründend wurde im Wesentlichen auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des minderjährigen Beschwerdeführers verwiesen. Er halte sich durchgehend seit fünf Jahren aber weniger als 10 Jahre im Bundesgebiet auf. Die Straftaten des minderjährigen Beschwerdeführers wären so schwerwiegend, dass die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gerechtfertigt sei. Es sei der in Österreich lebenden Mutter und den beiden Halbgeschwistern zumutbar, zurück nach Ungarn zu ziehen, bzw. könne der minderjährige Beschwerdeführer mit diesen auch über Telefon und Internet Kontakt halten.
Dagegen wurde mit Schriftsatz der nunmehrigen bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 25.06.2020, beim Bundesamt am selben Tag einlangend, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde erhoben. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben; in eventu das Aufenthaltsverbot wesentlich verkürzen; in eventu den Bescheid beheben und zur Verfahrensergänzung an das Bundesamt zurückverweisen. Begründend wurde im Wesentlichen neben der Rüge von Ermittlungs-, Feststellungs- und Beweiswürdigungsmängeln ausgeführt, dass der Beschwerdeführer ein minderjähriger Unionsbürger sei, dessen Mutter als gesetzliche Vertreterin in Österreich ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anspruch nehme. Auf den minderjährigen Beschwerdeführer sei bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der „dritte Gefährdungsmaßstab“ des § 67 Abs. 1 letzter Satzteil FPG iVm Art. 28 Abs. 3 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie anzuwenden. Die vom minderjährigen Beschwerdeführer verübten Straftaten würden keine Gefährdung der Republik Österreich darstellen. Das gegen den Beschwerdeführer erlassene Aufenthaltsverbot sei somit unzulässig. Darüber hinaus wäre auch bei Zulässigkeit die Dauer von sieben Jahren unverhältnismäßig.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht vom Bundesamt vorgelegt und langten dort am 03.07.2020 ein.
Im Zuge der Beschwerdevorlage vom 30.06.2020 nahm das Bundesamt schriftlich Stellung und führte im Wesentlichen aus, dass das Beschwerdevorbringen, wonach eine taugliche Unterstützung des Beschwerdeführers durch Verwandte in Ungarn in Zweifel gezogen werde, gegenständlich nicht relevant sei, da es sich um keine Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) gegen einen Drittstaatsangehörigen handle. Hinsichtlich der Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 8 EMRK habe er in Anbetracht seines strafbaren Verhaltens eine Trennung von der Mutter hinzunehmen. Der Beschwerdeführer halte sich fünf Jahre im Bundesgebiet auf und sei eine Aufenthaltsbeendigung nur unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 letzter Satz FPG iVm § 67 Abs. 1 FPG und Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie zulässig. Diese Voraussetzungen lägen beim Beschwerdeführer vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Republik Ungarn (vgl aktenkundige Kopie des ungarischen Personalausweises, AS 50 ff).
Der Beschwerdeführer ist am XXXX in Ungarn geboren. Er war somit zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung (Zustellung am 03.06.2020) und ist auch zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes minderjährig.
Es konnte nicht festgestellt werden, wann der Beschwerdeführer konkret erstmals in das Bundesgebiet eingereist ist. Er hielt sich aber spätestens ab 21.10.2014 (erste Meldung eines Wohnsitzes) im Bundesgebiet auf (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 06.07.2020).
Er verfügt seit 24.11.2014 als Verwandter in gerader absteigender Linie gemäß § 52 Abs. 1 Z 2 NAG seiner in Österreich lebenden Mutter über einen Anmeldebescheinigung (vgl aktenkundige Kopie der Anmeldebescheinigung, AS 61; Auszug aus dem Fremdenregister vom 06.07.2020).
Der Beschwerdeführer weist im Zentralen Melderegister die folgenden Meldungen eines Wohnsitzes im Bundesgebiet auf (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 06.07.2020):
21.10.2014-25.04.2017
Hauptwohnsitz
25.04.2017-22.03.2018
Hauptwohnsitz
22.03.2018-laufend
Hauptwohnsitz
13.10.2019-10.01.2020
Nebenwohnsitz (Justizanstalt)
Seine Mutter ist von seinem Vater geschieden. Der Vater lebt in Ungarn und besteht zu diesem kein Kontakt. Die Mutter und zwei Halbgeschwister leben unter Inanspruchnahme ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes in Österreich. Der minderjährige Beschwerdeführer lebt mit diesen im gemeinsamen Haushalt (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 06.07.2020; Kopie der Anmeldebescheinigung der Mutter vom 23.09.2014, AS 84; Kopie eines Firmenbuchauszuges der Mutter vom 12.08.2019, AS 83; schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 17.02.2020, AS 81 ff; Beschwerdevorbringen).
Der minderjährige Beschwerdeführer wurde bis dato drei Mal rechtskräftig in Österreich strafgerichtlich verurteilt:
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX als Schöffengericht vom XXXX.2018, XXXX, rechtskräftig am 20.06.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Raubes gemäß §§ 15, 142 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 und 2 Z 1, 130 Abs. 2 zweiter Fall, 15 StGB zu einer bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren nachgesehenen Jugendfreiheitsstrafe von fünfzehn Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag einerseits zugrunde, dass der minderjährige Beschwerdeführer mit zwei weiteren Mittätern, wobei einer davon noch unmündig war, zwei unterschiedlichen Opfern jeweils am XXXX.2017 mit Gewalt gegen diese eine fremde bewegliche Sache, nämlich Mobiltelefone und Bargeld, mit dem Vorsatz wegzunehmen versuchte, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei es beim Versuch geblieben war, weil die Opfer weder Mobiltelefon noch Bargeld bei sich trugen, und zwar indem sie das erste Opfer schlugen und traten und zum ihm sagten: „Geld und Handy her!“ und das zweite Opfer ebenfalls schlugen und als dieses mitteilte, keine Wertgegenstände bei sich zu tragen, im sagten: „Lüg nicht!“, ihn am Hals packten und gewaltsam nach Wertsachen durchsuchten. Darüber hinaus brach der Beschwerdeführer am XXXX.2017 in ein ebenerdiges Büro en, indem er das schlecht schließende Fenster aufdrückte, in das Büro einstieg und dort einen Laptop im Wert von EUR 500,00 an sich nahm, nahm am XXXX.2017 jemandem gemeinsam mit einem Mittäter Bargeld in Höhe von EUR 300,00, ein Mountainbike und einen Laptop im Gesamtwert von EUR 1.800,00 durch Einbruch in eine Wohnstätte weg, indem er den Schlosszylinder der Wohnungstür abdrehte und die genannten Wertgegenstände an sich nahm. Am XXXX.2017 nahm er mit einem abgesondert verfolgten Mittäter zwei Personen zwei Laptops, einen Fotoapparat und eine Festplatte im Wert von insgesamt EUR 1.000,00 durch Einbruch in eine Wohnstätte weg, indem sie das ebenerdige Fenster aufbrachen und unter nicht ganz unerheblicher Veränderung ihrer Körperhaltung über das Fenster in die Wohnung einstiegen und die genannten Wertgegenstände an sich nahmen. Der Beschwerdeführer und der mit ihm gemeinsam verurteilte Mittäter wurden weiters zur Leistung von jeweils EUR 1.000,00 an zwei Privatbeteiligte zur ungeteilten Hand zu leisten. Im Zuge der Strafbemessung wurden als mildernd das Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben war, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen gewertet. Hinsichtlich weiterer Anklagepunkte erfolgte jedoch mangels Schuldbeweises ein Freispruch. Hinsichtlich des Beschwerdeführers wurde für die Dauer der Probezeit eine Bewährungshilfe angeordnet (vgl aktenkundiges Strafurteil vom XXXX.2018, AS 2 ff; Strafregisterauszug vom 06.07.2020).
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX.2018, XXXX, rechtskräftig am XXXX.2018, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der versuchten Erpressung gemäß §§ 15, 144 Abs. 1 StGB gemeinsam mit zwei weiteren Mittätern schuldig gesprochen, jedoch unter Verweis auf die Vorverurteilung vom 20.06.2018 von der Verhängung einer Zusatzstrafe gemäß §§ 31, 40 StGB abgesehen. Dem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer und zwei weitere Mittäter in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch das Verhalten des Genötigten unrechtmäßig zu bereichern, einen Mann durch gefährliche Drohung mit zumindest der Zufügung einer Körperverletzung zu einer Handlung, die ihn am Vermögen schädigen sollte, nämlich zur Übergabe eines Bargeldbetrages von EUR 300,00 oder von 30 Gramm brutto Marihuana, zu nötigen versuchten, indem sie ihm mehrfacht vor der von ihm besuchten Schule auflauerten und ihm gegenüber äußerten, er werde ansonsten geschlagen. Bei der Strafbemessung wertete das Gericht als mildernd das Geständnis und den Versuch, als erschwerend die Vorstrafe (vgl aktenkundiges Strafurteil vom XXXX.2018, AS 10 ff; Strafregisterauszug vom 06.07.2020).
Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX.2019, XXXX, wurde der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft genommen (vgl Verständigung der Behörde von der Verhängung der Untersuchungshaft vom 15.10.2019, AS 27 f).
Zuletzt wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX als Jugendschöffengericht vom XXXX.2019, XXXX, rechtskräftig am XXXX.2019 zu einer Jugendfreiheitsstrafe von zwanzig Monaten, davon siebzehn Monate bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren nachgesehen, wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 142 Abs. 1 StGB und der Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit zwei weiteren Mittätern am XXXX.2019 in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (§ 89 StGB) einem Mann fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz wegnahm und abnötigte, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie in aggressiver Form und mit drohender Gestik die Herausgabe seiner Rolex Uhr im Wert von rund EUR 12.000,00 forderten, im nach seiner Weigerung sie auszufolgen zumindest einen Schlag ins Gesicht versetzten, wodurch er sich letztlich genötigt sah, ihnen die Uhr, zwei Mobiltelefone Marke iPhone und AirPods und EUR 15,00 Bargeld auszufolgen. Weiter nahmen der Beschwerdeführer und seine Mittäter im Zuge dieses Geschehens zwei Bankomatkarten und eine Kreditkarte des Opfers an sich und unterdrückten dadurch unbare Zahlungsmittel mit dem Vorsatz, deren Verwendung im Rechtsverkehr zu verhindern. Im Zuge der Strafbemessung wurden beim minderjährigen Beschwerdeführer das Geständnis und die vollständige Schadensgutmachung als mildernd, hingegen die einschlägigen Vorstrafen sowie das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit Vergehen als erschwerend gewertet. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht zur Vorverurteilung wurde abgesehen, die Probezeit jedoch auf fünf Jahre verlängert (vgl aktenkundiges Strafurteil vom XXXX.2019, AS 35 ff; Strafregisterauszug vom 06.07.2020).
Der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe wurde mit 12.01.2020 vollzogen (vgl Fremdenregisterauszug vom 06.07.2020).
Aufgrund des zitierten Urteile des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer die in den genannten Urteilen festgestellten strafbaren Handlungen begangen und je das umschriebene Verhalten gesetzt hat.
Der Beschwerdeführer absolviert ein zweijähriges Anti-Gewalttraining und bemüht sich um eine Lehrstelle in der Baubranche (vgl Niederschrift Bundesamt vom 31.01.2020, AS 69).
2. Beweiswürdigung:
Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei:
Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.
Aktenkundig ist weiters eine Kopie des ungarischen Personalausweises des Beschwerdeführers.
Die genannten strafgerichtlichen Urteile sind aktenkundig und werde der gegenständlichen Entscheidung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zugrunde gelegt.
Das Bundesverwaltungsgericht nahm Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister und das Zentrale Melderegister.
Die übrigen Feststellungen ergeben sich aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren vom Beschwerdeführer gemachten eigenen Angaben, welche jeweils in Klammer zitiert und vom Beschwerdeführer zu keiner Zeit bestritten wurden.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Artikel 27 („Allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 („Freizügigkeitsrichtlinie“ oder „Unionsbürgerrichtlinie“) lautet:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
(3) Um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, kann der Aufnahmemitgliedstaat bei der Ausstellung der Anmeldebescheinigung oder - wenn es kein Anmeldesystem gibt - spätestens drei Monate nach dem Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet oder nach dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet gemäß Artikel 5 Absatz 5 gemeldet hat, oder bei Ausstellung der Aufenthaltskarte den Herkunftsmitgliedstaat und erforderlichenfalls andere Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Betroffenen in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, wenn er dies für unerlässlich hält. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen.
(4) Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“
Artikel 28 („Schutz vor Ausweisung“) der Richtlinie 2004/38/EG („Freizügigkeitsrichtlinie“) lautet:
„(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
§ 66 Abs. 1 FPG lautet:
"§ 66. (1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt."
§ 67 Abs. 1 FPG lautet:
„§ 67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG lautet:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
Fallbezogen ergibt sich daraus:
Der minderjährige Beschwerdeführer ist ungarischer Staatsangehöriger und somit EWR-Bürger bzw. Unionsbürger. Er hält sich spätestens seit Ende Oktober 2014 durchgehend im Bundesgebiet auf und verfügt als Angehöriger einer unionsrechtlich Aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin (seiner Mutter) ebenfalls seit 2014 über eine Anmeldebescheinigung.
Weder dem Spruch noch der Bescheidbegründung lässt sich entnehmen, dass die belangte Behörde – ihren Feststellungen zum Geburtsdatum und zur Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers im Bundesgebiet entsprechend – sich bei der Prüfung der Zulässigkeit des gegenständlichen Aufenthaltsverbotes mit dem Umstand auseinandergesetzt hätte, dass der Beschwerdeführer ein minderjähriger EWR-Bürger ist.
Gemäß § 67 Abs. 1 letzter Satz FPG iVm Art. 28 Abs. 3 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegenüber einem Minderjährigen jedoch nur zulässig wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde oder es zum Wohle des Kindes, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20.11.1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist, notwendig ist (etwa, weil auch der Aufenthalt der Eltern beendet wurde; vgl Szymanski in Schrefler/König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 67 FPG 2005 Anm 5).
Bei der nachhaltigen und maßgeblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“ handelt es sich um eine Konzentration auf Fälle schwerer Kriminalität. Es bedarf dabei „zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit“ (vgl EuGH vom 23.11.2010, RS C-145/09, Panagiotis Tsakouridis). Demnach
- sind von diesem Begriff sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedsstaates umfasst;
- handelt es sich um Sachverhalte, die die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können;
- kann die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität ein solcher zwingender Grund sein;
- setzt eine solche Maßnahme, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist, voraus, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann;
- eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, ohne dass die folgende Umstände berücksichtigt werden: das persönliche Verhalten der betroffenen Person, die gegebenenfalls zur der Zeit zu beurteilen ist, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht, und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, ist gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist, zu gefährden (vgl dazu Szymanski in Schrefler/König/Szymanski, Fremdenpolizei- und Asylrecht § 67 FPG 2005 Anm 4).
Es ist für das erkennende Gericht nicht ersichtlich, dass der Aufenthalt der Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers in Österreich beendet worden wäre.
Das vom Beschwerdeführer insgesamt gesetzte Verhalten stellte zwar eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, ist aber basierend auf der ständigen Rechtsprechung des VwGH und insbesondere auch des EuGH jedenfalls nicht geeignet, den mit der Zulässigkeit eines Aufenthaltsverbotes gegenüber Minderjährigen erforderlichen Gefährdungsmaßstab iSd Art. 28 Abs. 3 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie, nämlich aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, sowie des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG, nämlich einer maßgeblichen und nachhaltigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib in Österreich, zu erfüllen.
Der angefochtene Bescheid erweist sich nach diesen Ausführungen wegen des dem minderjährigen Beschwerdeführer gegenständlich zukommenden stärkeren Ausweisungsschutzes gemäß Art. 28 Abs. 3 lit. b der Freizügigkeitsrichtlinie als rechtswidrig.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:
Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, umfangreichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch ist diese Rechtsprechung als uneinheitlich zu bewerten. Vielmehr hat sich das Bundesverwaltungsgericht bei der Beurteilung des gegenständlichen Falles an der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aber auch des Europäischen Gerichtshofes orientiert und diese – soweit erforderlich – auch in der Entscheidungsbegründung zitiert. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der gegenständlich zu lösenden Rechtsfragen liegen nicht vor.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Minderjährigkeit Schutzwürdigkeit strafrechtliche Verurteilung Voraussetzungen Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G311.2232676.1.00Im RIS seit
23.10.2020Zuletzt aktualisiert am
23.10.2020