Entscheidungsdatum
24.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W175 2187411-2/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.04.2020, Zl. 1093271900-190493688, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 28 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer (BF) stellte am 30.10.2015 den ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 01.11.2015 erfolgte seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Nach Zulassung seines Verfahrens wurde der BF am 28.07.2017 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seinen Fluchtgründen befragt. Er führte aus, dass die Taliban in seiner Region sehr aktiv und präsent seien. Eines Tages hätten die Taliban völlig willkürlich von seinem Vater verlangt, dass der BF die Taliban aktiv unterstütze oder, dass an Stelle dafür Geld bezahlt werde. Da der Vater des BF nicht gewollt habe, dass er für die Taliban arbeite, habe er ihn weggeschickt. Die Forderung zur Mitarbeit würde nichts mit dem BF zu tun haben. Die Taliban würden das bei allen so machen. Wenn man ein junger Erwachsener sei, würden die Taliban entweder Unterstützung oder Geld einfordern. Da er Afghanistan verlassen habe, hätten die Taliban einen Bruder des BF mitgenommen. Wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, würden sie ihn finden und für seine damalige Weigerung bestrafen. Sein Vater sei von den Taliban mehrmals gefragt worden, wo er sei. Der Vater habe geantwortet, dass er nicht wisse, wo der BF sei und davon ausgehe, dass er einfach abgehauen sei.
Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 17.01.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg. cit. (Spruchpunkt II.) ab. Unter einem wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gem. § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). In Spruchpunkt VI. wurde dem BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist für seine freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt.
Der BF erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde.
Am 16.05.2018 fand eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Der BF nahm daran in Begleitung eines Vertreters der von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation teil.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.07.2018, GZ. W114 2187411-1, wurde die Beschwerde des BF als unbegründet abgewiesen. Das Erkenntnis erwuchs mit 05.07.2018 in Rechtskraft.
Der BF reiste nach Frankreich und stellte dort am 01.08.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 15.05.2019 wurde der BF nach Österreich rücküberstellt, wo er am selben Tag den gegenständlichen Folgeantrag stellte. Bei der Erstbefragung am selben Tag führte der BF aus, dass seine alten Fluchtgründe nicht mehr gelten würden. Bei der ersten Befragung habe er bezüglich der Taliban gelogen. Es sei nicht sein Asylgrund gewesen. Der richtige Asylgrund sei, dass er ein außereheliches Verhältnis mit einer schwangeren Frau gehabt habe. Das Kind sei nicht von ihm. Die Brüder der schwangeren Frau würden jedoch glauben, dass der BF der Vater des Kindes sei. Die Brüder der Frau hätten ihn geschlagen. Deshalb sei er in den Iran geflüchtet. Über Whats-App habe er erfahren, dass seine beiden Brüder von den Brüdern der Frau umgebracht worden seien.
Mit Verfahrensanordnung vom 22.05.2019 wurde dem BF mitgeteilt, dass das BFA beabsichtige, seinen Folgeantrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz mit mündlichem Bescheid aufzuheben.
Am 23.05.2019 wurde der BF durch das BFA einvernommen. Er gab an, er habe in seinem Erstverfahren im Jahr 2015 die Wahrheit erzählt. Er wolle noch etwas hinzufügen, dass er damals nicht habe sagen können. Was er nun als Fluchtgrund vorbringe, habe mit seinem ersten Fluchtgrund nichts zu tun. Es stimme nicht, dass er bei der Erstbefragung am 15.05.2019 angegeben habe, dass sein erster Fluchtgrund nicht stimme. Seine Fluchtgründe aus dem Vorverfahren seien noch aufrecht. Am ersten Fluchtgrund betreffend die Taliban habe sich nichts geändert; diese seien jetzt noch schlimmer geworden. Ergänzend brachte er vor, er sei in Afghanistan mit einer Frau zusammen gewesen, welche schwanger gewesen sei. Diese sei dann getötet worden; er glaube von ihren Brüdern. Er habe dies bei der Polizei gemeldet. Sonst hatte er persönlich keine Probleme mit der Polizei. Deren Familie habe geglaubt, dass er der Vater des Kindes sei. Ihre zwei Brüder hätten den BF für zwei Nächte bei ihnen zu Hause festgehalten und gefoltert. Sein Vater und seine Brüder hätten ihn dann befreit. Der BF habe sich eine Nacht zu Hause und eine Nacht in einem Krankenhaus in einem anderen Ort aufgehalten, dann sei er ausgereist. Nachdem er ausgereist sei, sei die Frau getötet worden. Er wisse nicht, ob dies die Taliban oder ihre Brüder gewesen seien. Die Brüder der Frau seien zur Polizei gegangen und hätten gesagt, der BF habe die Frau getötet. Er selbst sei nicht bei der Polizei gewesen. Auf Vorhalt, dass er vorhin angegeben habe, selbst bei der Polizei gewesen zu sein, führte er aus, dies nicht angegeben zu haben. Die Frau sei nach seiner Ausreise getötet worden und deren Brüder seien bei der Polizei gewesen. Er habe diesen Fluchtgrund nicht bereits in Vorverfahren angegeben, das er sehr müde gewesen sei. Danach habe man ihm gesagt, er solle besser bei seinem angegebenen Fluchtgrund bleiben. Bei einer Rückkehr werde er sicher von der Familie der Frau getötet oder von der Polizei festgenommen werden. Es sei ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden. Sein Vater habe ihn nach seiner Flucht darüber informiert, dass die Frau getötet worden sei und dass er beschuldigt und gesucht werde.
Er sei sunnitischer Moslem und stamme aus der Provinz Faryab. Er habe in Österreich bisher von der Grundversorgung gelebt, habe freiwillige Tätigkeiten in der Gemeinde absolviert und Fußball gespielt. Er sei in keinem Verein Mitglied gewesen. Er habe die Deutschprüfung auf Niveau A1 und A2 bestanden. Seine Eltern, sein Bruder und zwei Schwestern seien 2016 in den Iran gereist. Ein Onkel väterlicherseits lebe auch im Iran. Eine Tante mütterlicherseits sei in Afghanistan aufhältig, zu dieser habe er keinen Kontakt. Zwei weitere Schwestern seien verheiratet und in Afghanistan. Zwei Brüder seien aufgrund seines Fluchtgrundes getötet worden und ein Bruder sei von den Taliban verschleppt worden. Seine Verlobte, deren Eltern, deren zwei Brüder und deren zwei Schwestern würden sich in Afghanistan aufhalten. Seine Verlobte sei auch seine Cousine. Mit den Angehörigen in Afghanistan habe er keinen Kontakt, mit seiner Familie im Iran hingegen schon. Er habe alle drei bis vier Monate Kontakt zu seiner Verlobten.
Er habe in Frankreich einen Asylantrag unter dem Namen, welcher auf seiner Tazkira stehe, gestellt. Sein richtiger Name stehe auf der Tazkira. Er legte ärztliche Befunde aus Österreich und Frankreich vor.
Der BF wurde am 19.06.2019 psychiatrisch und neurologisch untersucht. Im diesbezüglichen Sachverständigengutachten vom 24.01.2020 wurde ausgeführt, dass der BF angegeben habe, die Familie der schwangeren Frau sei mit den Taliban in Verbindung gestanden. Die Taliban hätten deshalb zwei seiner Brüder getötet. Auch sei die Frau von den Taliban getötet worden. Er nehme Schmerzmittel aufgrund einer Fußverletzung und Medikamente wegen Depressionen und Schlafstörungen ein. Das Sachverständigengutachten ergab die Diagnose Anpassungsstörung (Angst und depressive Störung gemischt), welcher mäßiger Krankheitswert zukomme. Es könne davon ausgegangen werden, dass eine Abschiebung den psychischen Zustand des BF verschlechtern würde, ein lebensbedrohlicher Zustand sei aus psychiatrischer Sicher nicht zu erwarten.
Am 05.02.2020 wurde dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 13.11.2019 übermittelt.
Am 17.02.2020 wurde der BF erneut durch das BFA einvernommen. Er gab an, er habe seit rund drei Monaten keinen Kontakt mehr nach Afghanistan. Seine Verlobte habe sich von ihm getrennt. Die Lage in Afghanistan sei sehr schlecht. Nach seiner Ausreise sei die schwangere Frau von den Taliban oder ihrer Familie gesteinigt worden. In Österreich lebe ein Cousin, zu diesem bestehe Kontakt, aber kein Abhängigkeitsverhältnis. Der BF legte eine Bestätigung betreffend die Absolvierung von Renumerationstätigkeiten vor.
Das BFA wies den gegenständlichen Folgeantrag des BF mit Bescheid vom 08.04.2020, sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Gleichzeitig wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1a FPG nicht gewährt (Spruchpunkt VI.). Gegen den BF wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Dem BF sei gemäß § 15b Abs. 1 AsylG die Unterkunftnahme in einer näher genannten Betreuungsstelle aufgetragen worden (Spruchpunkt VIII.).
Zur Lage in Afghanistan wurde im angefochtenen Bescheid durch die belangte Behörde festgestellt:
Kurzinformation der Staatendokumentation: COVID-19 Afghanistan; Stand: 2.4.2020
Mit Stand 2.4.2020 wurden in Afghanistan mindestens 239 COVID-19 Fälle bestätigt (TN 2.4.2020; vgl. Bing 2.4.2020). Gesellschaftliche Tabus und fehlende Testzentren sind die Hauptgründe, warum nur eine begrenzte Anzahl von COVID-19-Todesfällen in Afghanistan bekannt ist (TN 31.3.2020). Testmöglichkeiten in Afghanistan sind begrenzt. Afghanische Gesundheitsbehörden bewerten die Situation ernster, als diese derzeit zu sein scheint. Auch wird befürchtet, die Situation in Afghanistan könne sich in den kommenden Tagen verschlechtern (NYT 1.4.2020). Derzeit können in Afghanistan täglich 600 COVID-19-Tests durchgeführt werden: 400 in Kabul, 100 in Herat und 100 in Nangarhar (TN 30.3.2020). Der afghanische Gesundheitsminister verlautbarte bei einer Eröffnungszeremonie für ein COVID-19-Testzentrum in Kabul, die Kapazitäten der Gesundheitseinrichtungen sollen bis zum Ende dieser Woche (KW 14) auf 1.000 Tests pro Tag erhöht werden (TN 2.4.2020).
Städte wie Herat und Kandahar wurden mit Ausgangssperren versehen, ebenso Kabul (TG 1.4.2020a). Mit 28.3.2020 wurde Kabul – mit geschätzten sechs Millionen Einµwohnern – aufgrund des COVID-19 für mindestens drei Wochen gesperrt (TN 28.3.2020). Obwohl Ausgangssperren notwendig sind, befürchten viele Menschen noch härter um ihr Überleben kämpfen zu müssen: Zehntausende Tagelöhnern fürchten um ihre Existenz und darum, ob ihre Familien genug zu essen haben. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). In Momenten der Not sind einfache Afghanen dazu übergegangen, das Wenige, das sie haben, zu teilen; eine Kultur der Großzügigkeit, des Freiwilligendienstes und der Fürsorge innerhalb der Gemeinschaft, von der viele befürchtet haben, sie sei durch jahrzehntelangen Krieg, die Notwendigkeit des Überlebens, Gier und Korruption ausgehöhlt worden, kommt nun zum Vorschein: landesweit verzichten viele Vermieter auf die Miete (in manchen Fällen bis sich die COVID-19-Lage wieder beruhigt), Schneider verteilten tausende selbstgemachter Gesichtsmasken, Jugendgruppen und Sportler liefern Lebensmittel an Krankenhäuser und Familien in Not. Insbesondere in Krisen konnten sich lokale Führungen profilieren, indem sie schnell gehandelt haben; wie z.B. Quarantäne- und Gesundheitseinrichtungen mit bescheidenen Mitteln zu unterstützen oder um gegen Preistreiberei vorzugehen (NYT 31.3.2020). Auch haben eine Reihe von Religionsgelehrten und afghanische Bürger/innen die Geschäftswelt und Händler aufgefordert, inmitten der COVID-19-Krise verantwortungsvoll zu handeln; nämlich von Preistreiberei und Hamstern Abstand zu nehmen (TN 27.3.2020).
Durch Pakistan verläuft die Hauptversorgungsader für Afghanistan – aufgrund eigener gesetzter COVID-19-Maßnahmen – hat Pakistan Mitte März seine Grenzen zu Afghanistan, aber auch dem Iran, geschlossen. Einer der beiden Grenzübergänge nach Afghanistan wurde zwischenzeitlich geöffnet, um lebensnotwendige Güter nach Afghanistan zu liefern. Nach zwei Tagen wurde der Grenzübergang Spin Boldak am 21.3.2020 jedoch wieder geschlossen (NYT 1.4.2020). Am 30.3.2020 wurde vereinbart, zumindest Nahrungsmittel und Medizin von Pakistan über die Grenze nach Afghanistan einführen zu lassen. Diese Vereinbarung könnte, einem afghanischen Vertreter zufolge, bereits nächste Woche wieder in Kraft treten (TN 31.3.2020a).
Situation in der Grenzregion und Rückkehrern aus dem Iran
Seit dem Ausbruch von COVID-19 im Iran sind mehr als 130.000 Afghan/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Dieser enorme Anstieg an Rückkehrer/innen hat in der humanitären Gemeinschaft zu wachsenden Befürchtungen über mögliche Auswirkungen neuer Infektionen geführt. Das afghanische Gesundheitsministerium warnte bereits vor Millionen Infizierter und Zehntausender Toter. Die große Anzahl der aus dem Iran zurückgekehrten Personen, die sich dann im ganzen Land verteilt, könnte eine bereits komplexe Gesundheits- und Sicherheitslage strapazieren (TG 1.4.2020a). Das afghanische Gesundheitssystem ist nach wie vor stark überlastet (TG 1.4.2020).
Angesichts der Prävalenz von COVID-19 im Iran hat sich die humanitäre Gemeinschaft nun hauptsächlich auf jene Provinzen und Bezirke konzentriert, die aufgrund der grenzüberschreitenden Bewegungen als am stärksten gefährdet gelten. Als stark gefährdet gelten auch jene Provinzen bzw. Distrikte, die aufgrund ihrer Lage – gute verkehrstechnische Anbindungen in den Iran – als primäre Destinationen der Rückkehrer aus dem Iran zählen. Dies betrifft vor allem Distrikte in den Provinzen Herat, Nimroz, Kabul, Balkh und Faryab (TG 1.4.2020a).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten „ein nützliches Fundraising-Tool“ sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß f