TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/24 W124 2201242-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.07.2020
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Entscheidungsdatum

24.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs11 Z2
AsylG-DV 2005 §4 Abs1
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §53
FPG §55

Spruch

W124 2201242-2/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. FELSEISEN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , zugestellt am XXXX , Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe geändert, dass der Spruch zu lauten hat:

"Ihr Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 wird gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 zurückgewiesen."

II. Die Spruchpunkte II., III, IV, V und VI des Bescheides werden abgewiesen.

III. Spruchpunkt VII. wird ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Vorverfahren:

1.1 Der Beschwerdeführer, indischer Staatsangehöriger, stellte nach unrechtmäßiger Einreise ins Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am darauffolgenden Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, er sei von der indischen Polizei wiederholt schikaniert und misshandelt worden; man habe ihm zur Last gelegt, er handle in illegaler Weise mit Alkohol, dies aber zu Unrecht, da er lediglich für seinen alkoholkranken Vater billigen Alkohol gekauft habe. Im Fall einer Rückkehr habe er Angst, weiterhin von der Polizei schikaniert zu werden.

1.2 Nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, wider den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise aus dem Bundesgebiet gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen festgesetzt.

1.3 Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX zur GZ XXXX als unbegründet abgewiesen.

2. Gegenständliches Verfahren:

2.1 Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vom BFA zwecks Erlangung eines Heimreisezertifikates im Beisein eines Mitarbeiters des „ XXXX “, seines ausgewiesenen rechtsfreundlichen Vertreters, niederschriftlich einvernommen, wobei er zusammengefasst angab, das Bundesgebiet bis dato nicht verlassen zu haben, weil er in Indien, wo nach wie vor ein Gerichtsverfahren gegen „die Mitbeschuldigten“ anhängig sei, Probleme habe. Er besitze – nachdem ihm der Schlepper damals den Reisepass abgenommen habe – kein Identitätsdokument und habe sich auch nicht bemüht, sich in der Botschaft der Republik Indien um die Ausstellung eines Reise- bzw. Identitätsdokumentes zu bemühen. Das einvernehmende Organ des BFA forderte ihn hierauf mündlich auf, mit der indischen Botschaft zwecks Ausstellung eines Reisedokumentes in Verbindung zu treten; der Beschwerdeführer gab an, dies verstanden zu haben. Das einvernehmende Organ fragte den Beschwerdeführer, ob dieser bereit sei, die für die Erlangung eines Heimreisezertifikates durch das BFA erforderlichen Formulare mithilfe des Dolmetschers wahrheitsgemäß auszufüllen; der Beschwerdeführer bejahte ausdrücklich. Auch die Frage, ob er bereit sei, das Bundesgebiet freiwillig zu verlassen, bejahte er ausdrücklich. Auf Nachfrage gab er an, seinen Lebensunterhalt durch gelegentliche Zeitungszustellungen, für welche er etwa 250 bis 300 EUR pro Monat verdiene, und durch das Besuchen eines Deutschkurses zu bestreiten. Über eine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung für die genannte Beschäftigung verfüge er nicht; er sei in der Krankenversicherung selbstversichert. Er wohne in einer Wohngemeinschaft mit einem indischen Staatsangehörigen und bezahle etwa 200 EUR an Miete pro Monat.

Im Rahmen der Einvernahme wurde mithilfe des Beschwerdeführers und des anwesenden Dolmetschers für die Sprache Punjabi das mit „Police Verification Certificate For India“ betitelte Formular (AS 111-118) ausgefüllt und vom Beschwerdeführer unterzeichnet.

2.2 Am XXXX brachte der Beschwerdeführer persönlich beim BFA einen schriftlichen (Erst-)Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ein und legte folgende Integrationsunterlagen vor:

-        Verteilvertrag mit der „ XXXX GmbH“, 1230 Wien vom XXXX

-        Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem Austria vom XXXX (Gewerbe der Güterbeförderung mit Kfz oder Kfz mit Anhängern, deren höchstzulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt)

-        Kopie einer veralteten Aufenthaltsberechtigungskarte nach § 51 AsylG 2005

-        Kopie der E-Card

-        Bestätigung der Meldung (ZMR) vom 08.07.2016

-        Deutschkurs-Anmeldebestätigungen (Niveau A2)

-        Honorarnote, ausgestellt von der der „ XXXX GmbH“, 1230 Wien für den Monat September 2019

-        Kopie der Vollmachtsurkunde des „ XXXX “

Dem Beschwerdeführer wurde zugleich aufgetragen, den mangelhaften Antrag durch Angabe einer ausführlichen schriftlichen Begründung in deutscher Sprache sowie Vorlage eines Reisedokuments samt vollständiger Kopie, einer Geburtsurkunde oder eines dieser gleichzuhaltenden Dokuments sowie eines Lichtbilds zu verbessern, ferner wurde er aufgefordert, entweder einen Nachweis der Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung oder einen Nachweis über die Ausübung einer erlaubten Erwerbstätigkeit, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird, vorzulegen; ihm wurde hierfür eine vierwöchige Frist gewährt.

Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer darauf hingewiesen im Falle der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise einen begründeten Antrag auf Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV einbringen zu können. Dass die Beschaffung nicht möglich bzw. zumutbar sei, sei jedoch nachzuweisen.

Gemäß § 58 Abs. 11 AsylG sei der der Beschwerdeführer verpflichtet am Verfahren mitzuwirken. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wäre gemäß § 55 AsylG mangels Mitwirkung gem. § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückzuweisen, sollte der Beschwerdeführer dem Verbesserungsauftrag nicht nachkommen.

2.3 Mit Telefax vom XXXX teilte der Beschwerdeführer dem BFA mit, dass er trotz Bemühens keinen Reisepass und auch keine Geburtsurkunde vorlegen könne, da er als Flüchtling nach Österreich gekommen sei; deshalb werde er noch einen entsprechenden Antrag auf Heilung des Mangels einbringen. Zur Begründung seines Antrags führte er aus, dass er sich seit 2016 in Österreich aufhalte. Es sei seit Abschluss seines Asylverfahrens zu maßgeblichen Änderungen bezüglich seiner Integration gekommen, welche insbesondere im Erwerb der deutschen Sprache, der Intensivierung seiner sozialen Integration sowie der Intensivierung seiner beruflichen Integration bestünden. Sein Aufenthalt sei zum überwiegenden Teil rechtmäßig gewesen, er würde im Falle der Erteilung eines Aufenthaltstitels angesichts seiner Arbeitswilligkeit, -fähigkeit und des ihm zur Verfügung stehenden Umfelds (zahlreiche Freunde und Bekannte) keinesfalls eine finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft darstellen. Er sei unbescholten. Seine Bindungen zu Indien seien durch den jahrelangen Aufenthalt im Bundesgebiet nur noch schwach, er habe sich in Österreich ein Privatleben aufgebaut.

2.4 Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vom BFA erneut einvernommen; ihm wurde zunächst mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag aufgrund des Vorliegens einer rechtskräftigen Rückkehrentscheidung gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer gab ausdrücklich an, die beabsichtigte Vorgehensweise der Behörde verstanden zu haben. Die Frage, ob sich seit seiner letzten Einvernahme, welche am XXXX stattfand, Änderungen in seinen persönlichen Verhältnissen ergeben hätten, verneinte er ebenfalls ausdrücklich. Als Grund für das Nichtverlassen des Bundesgebietes gab er seine „Probleme“ in Indien an. Zudem gab er an, inzwischen die indische Botschaft aufgesucht zu haben, wo man ihm ohne schriftliche Begründung oder Bestätigung mitgeteilt habe, dass er keinen Reisepass erhalten werde. Er sei nach wie vor Zeitungszusteller und verdiene 600 bis 700 EUR pro Monat; er lebe nach wie vor an derselben Adresse.

2.5 Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vom Bezirksgericht XXXX wegen des Vergehens der Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs. 2 StGB, nämlich des Gebrauchs einer Totalfälschung eines indischen Führerscheins im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechtes, Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache, zu einer unbedingten Geldstrafe von 360,- EUR verurteilt; als Strafmilderungsgrund wurde der bis zum Entscheidungszeitpunkt ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers berücksichtigt. Der sichergestellte Führerschein wurde gemäß § 26 Abs. 1 StGB eingezogen. Das Urteil erwuchs mit XXXX in Rechtskraft.

2.6 Mit Bescheid vom XXXX zur Zl. XXXX wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I), gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 3 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt III), gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt V). Ferner wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI). Sein (angeblicher) Antrag auf Mängelbehebung vom XXXX wurde gemäß § 4 Abs. 1 iVm § 8 AsylG-Durchführungsverordnung (AsylG-DV) abgewiesen.

Das BFA stellte im Wesentlichen fest, dass er indischer Staatangehöriger, ledig und gesund sei, seine Identität nicht feststehe, er in keiner niederschriftlichen Befragung Sorgepflichten oder Bindungen iSd Art. 8 EMRK gelten gemacht habe, seine gesamte Familie – sohin seine Eltern und Geschwister – in Indien lebe und, dass er selbstständig erwerbstätig sei sowie über eine aufrechte Krankenversicherung verfüge. Er befinde sich seit XXXX im Bundesgebiet; sein Aufenthalt sei lediglich während seines Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz rechtmäßig gewesen. Zu den Gründen für das Verhängen des Einreiseverbotes stellte die Behörde fest, dass er seiner mit dem o. g. Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts rechtskräftig gewordenen Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei und somit unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben sei; sein bisheriges Verhalten zeige eindeutig, dass er die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen vehement ignoriere.

In der Beweiswürdigung verwies das BFA im Wesentlichen auf das Vorbringen bzw. die in den niederschriftlichen Einvernahmen gemachten Angaben des Beschwerdeführers.

Rechtlich führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine familiären Bindungen iSd Art. 8 EMRK im Bundesgebiet geltend gemacht habe, er aufgrund seines unrechtmäßigen Aufenthalts lediglich einer unrechtmäßigen Beschäftigung nachgehe, somit nicht als am Arbeitsmarkt integriert anzusehen sei und weitere verfahrensrelevante private Bindungen von ihm nicht vorgebracht worden seien. Da er den Großteil seines Lebens in Indien verbracht habe, somit mit den dortigen Gegebenheiten und der Kultur bestens vertraut und der Landessprache Punjabi mächtig sei, seine Familienangehörigen nach wie vor in Indien leben würden und er somit innerhalb des Familienverbandes wieder sein früheres Leben aufnehmen könne, drohe ihm im Herkunftsstaat keine Gefahr für Leib und Leben. Er sei lediglich aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich eingereist und – wie oben erwähnt – laufend gegen die österreichische Rechtsordnung verstoßen. Ein verfahrensrelevantes Privat- oder ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK bestehe nicht, weswegen die Abwägung seines Interesses an einem Verbleib in Österreich gegen jene der Republik Österreich an einem geordneten Fremdenwesen eindeutig zu seinen Ungunsten ausgehen müsse. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 3 FPG sei daher auch eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen. Da sich weder aus seinem Vorbringen noch aus den Länderfeststellungen zu Indien eine Gefährdung iSd § 50 Abs. 1 FPG ergebe, sei die Zulässigkeit der Abschiebung nach Indien festzustellen gewesen. Zum verhängten Einreiseverbot führte das BFA aus, dass sich dieses auch nach Art. 11 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie (EG) 2008/115/EG (im Folgenden: „Rückführungsrichtlinie“) richte, worin klargestellt sei, dass ein Mitgliedstaat ein Einreiseverbot erlassen könne, wenn einer bereits bestehenden Rückkehrverpflichtung – wie im gegenständlichen Fall – nicht nachgekommen worden sei. Der Beschwerdeführer habe die im FPG normierten Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen in gravierender Weise verletzt und gefährde damit die öffentliche Ordnung und Sicherheit, wovon auch zukünftig auszugehen sein werde. Die Dauer des Einreiseverbotes sei bewusst mit drei Jahren festgesetzt worden, sodass sichergestellt werde, dass in seinem Fall ein Gesinnungswandel eintrete; Milderungsgründe haben kaum berücksichtigt werden können, zumal er weder einsichtiges noch kooperatives Verhalten gezeigt habe.

Da sein Aufenthalt den öffentlichen Interessen widerstreite und er eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstelle, sei zwingend die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde abzuerkennen und keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren gewesen. Zu Spruchpunkt VII hielt das BFA im Wesentlichen fest, dass keine der in § 4 Abs. 1 AsylG-DV genannten alternativen Voraussetzungen für die Heilung der aufgetretenen Mängel iSd § Abs. 1 Z 1 und 2 leg. cit. erfüllt gewesen seien: Weder sei der Beschwerdeführer minderjährig noch sei die Heilung der genannten Mängel zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens erforderlich gewesen. Auch der dritte Heilungsgrund, die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Beschaffung erforderlicher Personalurkunden bzw. Nachweise, sei vorliegend nicht gegeben; trotz ausdrücklicher Aufforderung der Behörde habe der Beschwerdeführer weder das Original samt vollständiger Kopie seines Reisepasses vorgelegt noch die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Beschaffung der erforderlichen Unterlagen nachgewiesen, zumal er keine Bestätigung der indischen Botschaft über eine dort erfolgte Vorsprache und allenfalls eine Begründung für die Verweigerung der Ausstellung eines Reisedokumentes durch diese vorgelegt habe.

2.7 Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer der „Verein XXXX “ als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt. Von der Möglichkeit der Vertretung durch diese Organisation im Beschwerdeverfahren machte der Beschwerdeführer allerdings keinen Gebrauch.

2.8 Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der Beschwerdeführer durch seinen bevollmächtigten Vertreter, den „ XXXX “ Beschwerde in vollem Umfang und brachte nach Wiederholung des im Verfahren vor der belangten Behörde bereits erstatteten Vorbringens vor, es sei nicht einzusehen, weshalb ein geordnetes Fremdenwesen durch das Verhalten des Beschwerdeführers beeinträchtigt werde; im Übrigen könne der Beschwerdeführer nicht ausreisen, da er über keine entsprechenden Ausweisdokumente verfüge, was ihm wiederum nicht zum Vorwurf gemacht werden könne. Ob die indische Botschaft ein Heimreisezertifikat ausstelle, bleibe abzuwarten. Ferner sei die Beurteilung der Integration iSd Art. 8 EMRK auf Sachverhaltsebene vorzunehmen, weshalb die Frage, ob die selbstständige Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers rechtmäßig sei oder nicht, irrelevant sei. Hinsichtlich des verhängten Einreiseverbotes führte der Beschwerdeführer aus, er stelle keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar; eine derartige Unterstellung sei überschießend. Die Verhaltensweisen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden, seien aus Sicht des Unionsrechts als Verhaltensweisen, die sich in der Begehung schwerer Straftaten manifestierten, zu verstehen. Er beantragte zudem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

2.9 Die Beschwerde wurde dem Bundesverwaltungsgericht unter Anschluss des Verfahrensakts, jedoch ohne den Akt des dem Verfahren zur AZ XXXX zugrundeliegenden Verwaltungsverfahrens, vorgelegt, wo diese am XXXX einlangte. Das Bundesverwaltungsgericht forderte bei der belangten Behörde den Akt des dem Verfahren zur AZ XXXX zugrundeliegenden Verwaltungsverfahrens mit Schreiben vom XXXX an.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist indischer Staatsangehöriger und stammt aus dem Bundesstaat Punjab und gehört der Religion der Sikh an. Er ist ledig, gesund und arbeitsfähig. Seine Identität steht nicht fest, seine Kernfamilie lebt in Indien; dort besuchte er mehrere Jahre lang die Grundschule und war als Fabriksarbeiter tätig.

1.1.2. Der Beschwerdeführer stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX wurde der Antrag des BF sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Ferner wurde er aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom XXXX als unbegründet abgewiesen. Der Beschwerdeführer kam in weiterer Folge seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach.

Am XXXX stellte der Beschwerdeführer den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK „Aufrechterhaltung des Privat-, und Familienlebens“ gemäß § 55 Abs. 1 AsylG. Er verfügt über keinen gültigen Reisepass. Es steht nicht fest, dass er sich bei der zuständigen Vertretungsbehörde um die Ausstellung eines solchen bemüht hat. Ebenso wenig steht fest, dass ihm die Beschaffung eines gültigen Reisepasses nicht möglich ist.

Der Beschwerdeführer ist ledig, gesund und arbeitsfähig. Ihn treffen keine Obsorgeverpflichtungen. In Österreich lebt der Beschwerdeführer in keiner Familiengemeinschaft oder einer familienähnlichen Gemeinschaft. In Indien verfügt der Beschwerdeführer über ein familiäres Netz.

Er war im Bereich der Güterbeförderung selbstständig erwerbstätig und verfügt über eine aufrechte Krankenversicherung. Außerdem verfügt er seit dem XXXX über eine entsprechende Gewerbeberechtigung. Er befindet sich seit XXXX im Bundesgebiet; sein Aufenthalt ist lediglich während seines Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz, welches am XXXX rechtskräftig abgeschlossen wurde, rechtmäßig gewesen.

Der BF verfügt über einen sogenannten „Verteilervertrag“ und erwirtschaftet als Zeitungszusteller durchschnittlich 600-, bis 700-, Euro im Monat.

Er ist nicht Mitglied eines österreichischen Vereins oder einer sonstigen ähnlichen Organisation.

Gegen den Beschwerdeführer wurde mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion XXXX vom XXXX (AS 95-101), in Rechtskraft erwachsen am XXXX , wegen des Lenkens eines Kleinkraftrads auf einer Straße mit öffentlichem Verkehr ohne Besitz einer hierfür erforderlichen, im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ausgestellten Lenkberechtigung eine Geldstrafe in Höhe von 550,- EUR, für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von zehn Tagen und vierzehn Stunden verhängt. Mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion XXXX vom XXXX (AS 91-94), in Rechtskraft erwachsen am XXXX , wurde gegen den Beschwerdeführer wegen der gleichen Verwaltungsübertretung eine Geldstrafe in Höhe von 600,- EUR, für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von elf Tagen und dreizehn Stunden verhängt. Wie schon oben im Verfahrensgang ausgeführt wurde der Beschwerdeführer weiters am XXXX vom Bezirksgericht XXXX wegen des Vergehens der Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs. 2 StGB, nämlich des Gebrauchs einer Totalfälschung eines indischen Führerscheins im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechtes, Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache, zu einer unbedingten Geldstrafe von 360,- EUR verurteilt; das strafgerichtliche Urteil erwuchs mit XXXX in Rechtskraft.

1.1.3.Zur entscheidungsrelevanten Situation im Herkunftsstaat wird von den zutreffenden Feststellungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid ausgegangen:

Politische Lage

•        Letzte Änderung: 30.03.2020

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA Factbook 28.2.2020; vgl. AA 19.7.2019). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).

Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 19.7.2019). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 19.7.2019). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 11.2019a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 2.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 2.2020a).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Bundesstaatsebene (AA 19.7.2019).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020).Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt GIZ 11.2019a).

Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 19.7.2019).

Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindu-nationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 11.2019a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindu-nationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).

Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).

Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 12.2019). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 11.2019a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 12.2019).

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Die Beziehungen des Landes zur EU sind vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Die EU ist der größte Handels- und Investitionspartner Indiens. Der Warenhandel in beide Richtungen hat sich faktisch stetig ausgeweitet (GIZ 11.2019a).

Quellen:

•        -        AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

•        -        AA – Auswärtiges Amt (2.2020a): Indien: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 27.3.2020

•        -        AA - Auswärtiges Amt (11.2019b): Indien, Außenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 16.1.2020

•        -        BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 10.2.2020

•        -        CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – India, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 17.3.2020

•        -        DW – Deutsche Welle (27.2.2020): Sierens China: Schwieriges Dreiecksverhältnis, https://www.dw.com/de/sierens-china-schwieriges-dreiecksverh%C3%A4ltnis/a-52556817, Zugriff 28.2.2020

•        -        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2020): Immer mehr Tote nach Unruhen in Delhi, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indien-tote-bei-gewalt-zwischen-hindus-und-muslimen-in-delhi-16652177.html, Zugriff 28.2.2020

•        -        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2019a): Indien, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 27.3.2020

•        -        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmBH (3.2020b): Indien, Wirtschaftssystem und Wirtschaftspolitik, https://www.liportal.de/indien/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 30.3.2020

•        -        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (3.2020c): Indien, Überblick, https://www.liportal.de/indien/ueberblick/, Zugriff 27.3.2020

•        -        KBS – Korean Broadcasting System (12.2.2020): Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, http://world.kbs.co.kr/service/contents_view.htmlang=g&board_seq=379626, Zugriff 14.2.2020

•        -        Quantara.de (14.2.2020): Herbe Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, https://de.qantara.de/content/herbe-niederlage-fuer-indiens-regierungschef-modi-bei-wahl-in-neu-delhi, Zugriff 20.2.2020

•        -        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Indiens Ringen um die Staatsbürgerschaft, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A02_wgnArora_WEB.pdf, Zugriff 18.2.2020

•        -        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Keine Ruhe in Kaschmir. Die Auflösung des Bundesstaats und die Folgen für Indien, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/, Zugriff 16.1.2020

•        -        TG – The Guardian (26.2.2020): Anti-Muslim violence in Delhi serves Modi well, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/26/violence-delhi-modi-project-bjp-citizenship-law, Zugriff 28.2.2020

•        -        USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020

Sicherheitslage

•        Letzte Änderung: 30.03.2020

Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 11.2019a). Terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren (Dezember 2010 in Varanasi, Juli 2011 in Mumbai, September 2011 in New Delhi und Agra, April 2013 in Bangalore, Mai 2014 in Chennai und Dezember 2014 in Bangalore) und insbesondere die Anschläge in Mumbai im November 2008 haben die Regierung unter Druck gesetzt. Von den Anschlägen der letzten Jahre wurden nur wenige restlos aufgeklärt und die als Reaktion auf diese Vorfälle angekündigten Reformvorhaben zur Verbesserung der indischen Sicherheitsarchitektur wurden nicht konsequent umgesetzt (AA 24.4.2015). Aber auch im Rest des Landes gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 12.2020).

Die Spannungen im Nordosten des Landes gehen genauso weiter wie die Auseinandersetzung mit den Naxaliten (maoistische Untergrundkämpfer, Anm.) (GIZ 11.2019a), die das staatliche Gewaltmonopol gebietsweise infrage stellen (AA 19.7.2019).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir, die nordöstlichen Regionen und der maoistische Gürtel. In Jharkhand und Bihar setzten sich die Angriffe von maoistischen Rebellen auf Sicherheitskräfte und Infrastruktur fort. In Punjab kam es bis zuletzt durch gewaltbereite Regierungsgegner immer wieder zu Morden und Bombenanschlägen. Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie. Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 8.2019).

Erhebungen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an. Angaben zu Folge haben Rebellen illegale Steuern erhoben, Lebensmittel und Unterkünfte beschlagnahmt und sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen beteiligt. Zehntausende von Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terrorismus- relevanter Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. Bis zum 5.3.2020 wurden 81 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 17.3.2020).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 19.7.2019).

Indien und Pakistan

Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018).

Nach dem friedlichen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft zeigte bereits die blutige Teilung Britisch-Indiens, die mit einer Massenflucht, schweren Gewaltausbrüchen und Pogromen einherging, wie schwierig es sein wird, die ethnisch, religiös, sprachlich und sozioökonomisch extrem heterogene Gesellschaft in einem Nationalstaat zusammenzuhalten. Die inter-religiöse Gewalt setzte sich auch nach der Teilung zwischen Indien und Pakistan fort (BPB 12.12.2017).

Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen und fordert ein Ende dieser Unterstützung ebenso wie der Unterstützung kaschmirischer Separatisten. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Nach einem Terrorangriff auf eine indische Militärbasis in Kaschmir Mitte September 2016 eskaliert die Rhetorik auf beiden Seiten erneut (DW 29.9.2016). So kommt es immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019). Indien ist überzeugt, dass der Selbstmordanschlag vom 14.2.2019 von Pakistan aus geplant und unterstützt worden ist (NZZ 26.2.2019). Die Armeen der verfeindeten Nachbarn hatten seit Anfang März 2019 immer wieder an verschiedenen Stellen über die de-facto-Grenze zwischen den von Pakistan und Indien kontrollierten Teilen Kaschmirs das Feuer eröffnet (Presse 2.3.2019) und kurz darauf gemeldet, dass die Lage entlang der „Line of Control“ wieder relativ ruhig sei (Reuters 3.3.2019)

Indien und China

Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten. Auch hat China Indien nie verziehen, dem Dalai Lama Exil gewährt zu haben. Dennoch hat keine der beiden Seiten ein Interesse daran, die Meinungsverschiedenheiten in offenen Streit umschlagen zu lassen (FAZ 27.2.2020), doch haben sowohl Indien als auch China Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 12.2019).

Der amerikanisch-chinesische Handelskrieg hat die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen. Dennoch ist Delhi besorgt, dass chinesische Waren den heimischen Markt überschwemmen und lokale Anbieter verdrängen. Das ist auch der Grund, warum Indien noch einmal nachverhandeln will, wenn es um das „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) Abkommen geht, das gemeinsam mit den meisten asiatischen Ländern größte Freihandelsabkommen der Welt, zu schaffen. Indien fühlt sich von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 12.2019).

Indien und Sri Lanka pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 11.2019a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen Indien und Bangladesch (BICC 12.2019).

Quellen:

•        -        AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

•        -        AA - Auswärtiges Amt (19.7.2019): Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien

•        -        BBC - British Broadcasting Corporation (23.1.2018): India country profile – Overview, http://www.bbc.co.uk/news/world-south-asia-12557384, Zugriff 29.1.2019

•        -        BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 10.2.2020

•        -        BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (Deutschland) (12.12.2017): Konfliktporträt: Indien, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/215390/indien, Zugriff 18.3.2020

•        -        DW – Deutsche Welle (29.9.2016): Indien und Pakistan lassen Kaschmir-Konflikt eskalieren, https://www.dw.com/de/indien-und-pakistan-lassen-kaschmir-konflikt-eskalieren/a-35922107, Zugriff 11.2.2020

•        -        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2019): Pakistan: Wir behalten uns vor, auf Indiens Angriffe zu reagieren, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indische-luftwaffe-verletzt-den-pakistanischen-luftraum-16061769.html, Zugriff 6.8.2019

•        -        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 10.3.2020

•        -        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2019a): Indien, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 17.3.2020

•        -        NZZ – Neue Züricher Zeitung (26.2.2019): Die Spirale der Eskalation dreht, https://www.nzz.ch/meinung/indien-bombardiert-pakistan-spirale-der-eskalation-dreht-ld.1462893, Zugriff 6.8.2019

•        -        ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien

•        -        Piazolo, Michael (2008): Macht und Mächte in einer multipolaren Welt. Springer Verlag. Seite 201

•        -        Presse, die (2.3.2019): Kaschmir: Sieben Tote bei Schüssen an Grenze von Indien und Pakistan, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5588780/Kaschmir_Sieben-Tote-bei-Schuessen-an-Grenze-von-Indien-und-Pakistan, Zugriff 6.8.2019

•        -        Reuters (3.3.2019): India-Pakistan border quiet but Kashmir tense amid militancy crackdown, https://www.reuters.com/article/us-india-kashmir-pakistan-idUSKCN1QK093, Zugriff 6.8.2019

•        -        SATP - South Asia Terrorism Portal (15.2.2020): Data Sheet - India Yearly Fatalities: 2000 - 2020, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india, Zugriff 17.3.2020

•        -        SZ- Süddeutsche Zeitung (26.2.2019): Indien bombardiert pakistanischen Teil Kaschmirs, https://www.sueddeutsche.de/politik/indien-pakistan-luftangriff-1.4345509, Zugriff 6.8.2019

•        -        WP – The Washington Post (26.2.2019): India strikes Pakistan in severe escalation of tensions between nuclear rivals, https://www.washingtonpost.com/world/pakistan-says-indian-fighter-jets-crossed-into-its-territory-and-carried-out-limited-airstrike/2019/02/25/901f3000-3979-11e9-a06c-3ec8ed509d15_story.html?utm_term=.ee5f4df72709, Zugriff 6.8.2019

Regionale Problemzonen Jammu und Kaschmir

•        Letzte Änderung: 30.03.2020

•        Indien hat am 5.8.2019 den in der Verfassung festgelegten Sonderstatus (ZO 6.8.2019) der mehrheitlich muslimischen Region (FAZ 6.8.2019; vgl. GIZ 11.2019a) des indischen Teils von Kaschmir per Dekret beendet (ZO 6.8.2019). Unmittelbar darauf hat das Parlament in Delhi die Aufhebung jenes Artikels 370 der indischen Verfassung beschlossen (FAZ 7.8.2019), welcher Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus einräumt und vorgeschlagen, den Staat in zwei Unionsterritorien, nämlich Jammu und Kaschmir sowie Ladakh aufzuteilen (IT 6.8.2019). Der Artikel 370 gewährt der Region eine gewisse Autonomie, wie eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge und die Freiheit, Gesetze (BBC 6.8.2019) mit Ausnahme zu Belangen der Außen- wie auch der Verteidigungspolitik (DS 7.8.2019) zu erlassen. Dies stellte einen Kompromiss zwischen der zu großen Teilen muslimischen Bevölkerung und der hinduistischen Führung in Neu-Delhi dar (ARTE 7.8.2019). Neben dem Artikel 370 wurde auch der Artikel 35A aufgehoben, welcher dem lokalen Parlament erlaubte festzulegen, wer Bürger des Teilstaats ist und wer dort Land besitzen und Regierungsämter ausüben kann (NZZ 5.8.2019).

•        Die auch in Indien umstrittene Aufhebung der Autonomierechte befeuert die Spannungen in der Region. Kritiker befürchten, dass der hindu-nationalistische Ministerpräsident Narendra Modi und seine Regierung eine „Hinduisierung“ des Gebiets anstreben (TNYT 6.8.2019). Zur Verhinderung von Unruhen haben die indischen Behörden sämtliche Kommunikationskanäle unterbrochen und zusätzlich 10.000 Soldaten (SO 4.8.2019) in die ohnehin hoch militarisierte Region entsendet (ARTE 7.8.2019) und führende Regionalpolitiker wurden unter Hausarrest gestellt (FAZ 7.8.2019). Es gibt vereinzelte Berichte über kleinere Aktionen des Wiederstandes gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte, welche jedoch offiziell nicht bestätigt worden sind (BBC 7.8.2019). Medienberichten zufolge wurden bei Razzien im Bundesstaat Jammu und Kashmir mittlerweile mehr als 500 Personen festgenommen (HP 8.8.2019). Pakistan, das ebenfalls Anspruch auf die gesamte Region erhebt (ORF 5.8.2019), verurteilt den Schritt als illegal und richtet durch das pakistanische Militär eine klare Drohung an Indien (ZO 6.8.2019). Kritik kam auch aus Peking (FAZ 6.8.2019), wo der Schritt Indiens zur Abschaffung des Sonderstatus Kaschmirs als „nicht akzeptabel“ und „nicht bindend“ bezeichnet wird (SCMP 7.8.2019). Die Rücknahme des verwaltungsrechtlichen Sonderstatus des Bundesstaates Jammu und Kaschmir ist mit zahlreichen Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen einhergegangen (RLS 1.2020).

•        Jammu und Kaschmir gehörten 2018 zu den am stärksten vom Terrorismus betroffen Bundesstaaten in Indien (USDOS 1.11.2019). Militante Gruppen in Jammu und Kaschmir kämpfen weiterhin gegen Sicherheitskräfte, kaschmirische Einrichtungen und lokale Politiker, die sie für „Statthalter” und „Kollaborateure” der indischen Zentralregierung halten. Überläufer zur Regierungsseite und deren Familien werden besonders grausam „bestraft“. Die Zahl der als terroristisch eingestuften Vorfälle in Jammu und Kaschmir hat nach einem rückläufigen Trend im Jahr 2015 in den Jahren 2016 und 2017 zugenommen (AA 19.7.2019; vgl. FH 3.4.2020).

Bei einem Selbstmordanschlag (TOI 15.2.2019) auf indische Sicherheitskräfte im Gebiet von Goripora bei Awantipora im Distrikt Pulwama in Kaschmir wurden am 14.2.2019 mindestens 44 Menschen getötet. Dutzende wurden verletzt (TOI 15.2.2019; vgl. IT 15.2.2019).

In Indien bleibt das zentrale Ziel islamistischer Fundamentalisten die Abspaltung Kaschmirs. Im Einklang mit der Dschihad-Ideologie sehen sich viele islamistische Gruppierungen zudem im Krieg gegen alle Ungläubigen und streben die gewaltsame Islamisierung des gesamten Subkontinents an. Befördert wird der Konflikt durch die anhaltende wirtschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung vieler Muslime (BPB 12.12.2017).

Im September hat die Europäische Union die Lage in Jammu und Kaschmir vor dem UN-Menschenrechtsrat thematisiert und Indien aufgefordert, die andauernden Beschränkungen aufzuheben und die Rechte und Grundfreiheiten der betroffenen Bevölkerung zu wahren. Das Europäische Parlament hat zudem eine Sonderdebatte über Kaschmir abgehalten und forderte sowohl Indien als auch Pakistan nachdrücklich auf, ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten (HRW 14.1.2020).

In Jammu und Kaschmir, im Punjab und in Manipur haben die Behörden besondere Befugnisse ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 13.3.201911.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015). Es gab wiederholt Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen durch Regierungskräfte in Jammu und Kaschmir während der durchgeführten Sicherheitsoperationen, was von vielen auf politisches Versagen bei der Sicherstellung der Rechenschaftspflicht zurückgeführt wurde (HRW, 17.1.2019). Im September 2019 äußerte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, ihre Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir (HRW 14.1.2020).

Nach einer eher ruhigen Phase zwischen den Jahren 2011 und 2014 hat sich die Lage in jüngster Zeit wieder wesentlich verschlechtert. (GIZ 11.2019a).

Ab Mitte 2016 hat die Gewalt spürbar zugenommen. Auch Schusswechsel an der Grenze zu Pakistan haben 2016 nach der Ermordung eines populären, militanten separatistischen Führers wieder deutlich zugenommen. Zivilisten im Grenzgebiet werden dabei häufig in Mitleidenschaft gezogen. Seit Sommer 2017 verfolgt die Regierung bewusst eine harte Linie, die ein gezieltes Aufspüren von Führern der Militanten und bei Widerstand gewaltsamen Zugriff vorsieht. Dabei kommt es offenbar wiederholt zu Gefechten, bei denen auch Unbeteiligte zwischen die Fronten geraten können. 2017 starben im Zuge der Aufstandsbekämpfung 358 Menschen. Indischen Sicherheitskräften werden häufig Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, von denen nur wenige bestraft werden. Bürgerliche Freiheiten werden, insbesondere in Zeiten der Unruhe eingeschränkt. Auch 2018 ist es mehrfach zu blutigen Zusammenstößen gekommen. Trotz Benennung eines offiziellen Unterhändlers für Kashmir greift das Dialogangebot der Regierung bisher nicht ausreichend. Die Gewalt nimmt derzeit nicht ab (AA 19.7.2019). Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 267 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in der Region Jammu und Kashmir. Im Jahr 2017 wurden 357 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 452 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 283 Todesopfer registriert. Mit 15.3.2020 sind insgesamt 49 Todesfälle durch terroristische Gewaltanwendungen aufgezeichnet [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 15.3.2020).

Im indischen Teil Kaschmirs bleibt weiterhin der Armed Forces (Special Powers) Act (AFSPA) in Kraft (USDOS 11.3.2020; vgl. BPB 20.11.2017). Unter diesem Sonderermächtigungsgesetz kam es wiederholt zu außergerichtlichen Tötungen, Vergewaltigungen und Folter durch Angehörige der Sicherheitskräfte. Bei der Unterdrückung von Protesten starben über 90 Menschen und Tausende wurden verletzt (BPB 20.11.2017). Die 1997 eingesetzte staatliche Menschenrechtskommission von Jammu und Kaschmir hat kaum Wirkungen entfaltet. Insbesondere hat sie keine Möglichkeit, Übergriffe von Armee und paramilitärischen Kräften zu unter

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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