TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/24 I415 2160178-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.07.2020
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Entscheidungsdatum

24.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I415 2160178-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes Lässer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Wien vom 11.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.07.2020, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 05.11.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu wurde er am selbigen Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe führte er im Wesentlichen aus, er habe am 11. März 2012 mit seinen Eltern in Jos die Messe in der XXXX Church besucht, an der ein Bombenanschlag seitens Boko Haram verübt worden sei. Bei diesem Anschlag sei der Vater des BF getötet worden, von der Mutter fehle jede Spur, zuletzt habe er sie davonlaufen sehen. Noch am selben Tag habe der BF seine Heimat verlassen. In seiner Heimat sei Boko Haram nach wie vor aktiv und verübe Anschläge, vor allem auf Christen.

2. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) am 13.11.2013 wiederholte der BF sein bisheriges Fluchtvorbringen und präzisierte dieses. Beim Bombenanschlag seitens Boko Haram seien mehrere Christen sowie der Vater des BF ums Leben gekommen. Der BF habe dann gegen 18 Uhr einen kleinen Laster gesehen, der offensichtlich dort war, um Christen zu retten. Der BF sei dann mit diesem nach Libyen gefahren, dort eine Woche verblieben und dann weiter nach Italien gereist zu sein. In Rom habe er fünf Monate auf den Straßen gebettelt, anschließend sei er nach Neapel weitergereist, wo er drei Monate verblieben sei. Anschließend sei er elf Monate in XXXX aufhältig gewesen.

3. Mit Bescheid vom 14.11.2013, Zl. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wies sie den BF aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus (Spruchpunkt III.).

4. Gegen diesen Bescheid richtete sich eine fristgerecht erhobene Beschwerde vom 20.11.2013, bei der belangten Behörde eingelangt am 21.11.2013, mit welcher der Bescheid vollinhaltlich angefochten und die Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend gemacht wurden. Unter anderem wurde vorgebracht, es seien veraltete Länderfeststellungen zur Lage in Nigeria herangezogen worden.

5. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.11.2014 wurde der Beschwerde stattgegeben, der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückverwiesen.

6. Am 25.04.2017 fand eine neuerliche niederschriftliche Einvernahme des BF vor der belangten Behörde statt. Dabei führte der BF im Wesentlichen aus, in Nigeria werde man als Christ bedroht, es gebe keine Menschenrechte, jeden Tag würden Menschen getötet werden. Am 11.03.2012 sei er während des Anschlages in der Kirche gewesen und habe fliehen können. Vor dem Bombenanschlag habe Boko Haram versucht, den BF zu rekrutieren.

7. Mit Bescheid vom 11.05.2017, Zl. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

8. Gegen diesen Bescheid richtet sich die durch seinen damaligen Rechtsvertreter MigrantInnenverein St. Marx erhobene Beschwerde vom 30.05.2017, bei der belangten Behörde eingelangt am 31.05.2017, mit welcher der Bescheid aufgrund inhaltlich falscher Entscheidung und mangelhafter Verfahrensführung vollinhaltlich angefochten, zudem die zweiwöchige Rechtsmittelfrist als verfassungswidrig erachtet wurde. Zusammengefasst wurde dabei vorgebracht, der BF habe glaubwürdig dargelegt, dass er aufgrund individueller Gründe persönlich verfolgt werde und keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe. Auch würden einige Hinweise aus dem Akt hervorgehen, dass es sich beim BF um eine traumatisierte Person handle. Zudem habe es die belangte Behörde versäumt, konkrete, fallbezogene Recherchen durchzuführen, der dargestellte Sachverhalt und darauf gestützte beweiswürdigende und rechtliche Überlegungen seien in wesentlichen Punkten mangelhaft. Es werde daher beantragt, nach mündlicher Verhandlung und Durchführung der beantragten Beweise festzustellen, dass die Rechtsmittelbelehrung rechtswidrig sei, die bekämpfte Entscheidung zu beheben, festzustellen dass die Abweisung des Antrags auf Asyl und subsidiären Schutz nicht zu lässig sei, ebenso dass die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht zulässig sei, die Sache an die belangte Behörde zurückzuverweisen und die nötigen Erhebungstätigkeiten anzuordnen, Asyl, in eventu subsidiären Schutz oder wenigstens einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen und festzustellen, dass die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nicht zulässig sei.

9. Mit Schriftsatz vom 31.05.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 02.06.2017, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

10. Mit Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses vom 19.09.2017 wurde die Rechtsache der Gerichtsabteilung I410 des Bundesverwaltungsgerichtes, Außenstelle Innsbruck, abgenommen und der Gerichtsabteilung I415 neu zugewiesen.

11. Nach Entgegennahme der Ladung am 08.05.2020 zur mündlichen Verhandlung am 24.07.2020 brachte die Rechtsvertretung MigrantInnenverein St. Marx mit Schreiben vom 17.06.2020 die Vollmachtsauflösung ein. Dabei wurde ausgeführt, man habe dem BF die Verhandlungsladung nicht übergeben können, da seitens des Rechtsvertreters zum BF kein Kontakt hergestellt werden konnte.

12. Am 24.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung in unentschuldigter Abwesenheit des BF und der belangten Behörde sowie in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die englische Sprache abgehalten. Eine Verkündung der Entscheidung wurde im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht vorgenommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige BF ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der Igbo an.

Seine Identität steht nicht fest.

Der BF ist sowohl gesund als auch arbeitsfähig.

Der BF reiste von Nigeria ausgehend nach Libyen, von wo er per Boot nach Italien weiterreiste. Er verweilte mehrere Monate in Rom und Neapel, bevor er für die Dauer von etwa elf Monaten in Villach verblieb. Seit (spätestens) Januar 2013 ist der BF in Österreich aufhältig.

Der BF besuchte sechs Jahre lang die Grundschule in Nigeria, anschließend arbeitete der BF etwa 3-4 Jahre auf der Landwirtschaft seiner Eltern, zu der ein sehr großes Grundstück der Familie gehörte.

Ob der BF noch Kontakt zu Familienmitgliedern in Nigeria pflegt, konnte nicht festgestellt werden. In Österreich verfügt der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgeblichen privaten Beziehungen, es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten des BF in Österreich. Der BF ist nicht Mitglied eines Vereines oder einer sonstigen Institution. Diese Feststellungen werden auf Basis des angefochtenen Bescheides getroffen. Gegenteiliges wurde weder in der Beschwerde noch im mittlerweile gut drei Jahre andauernden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgebracht.

Der BF geht keiner Beschäftigung nach und bezieht seit Juni 2014 keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF ist laut ZMR seit Juli 2014 nahezu durchgängig an einer Wiener Obdachlosenadresse gemeldet.

Hinsichtlich seiner Integration hat der BF während des Beschwerdeverfahrens keine Unterlagen in Vorlage gebracht.

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer hinreichenden Integration des BF in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Dem Beschwerdeführer wurde durch die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung die Gelegenheit gewährt, sein Vorbringen näher zu erläutern. Er erschien allerdings unentschuldigt nicht zur Verhandlung und verletzte damit seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren.

1.2. Zu den Fluchtmotiven und der individuellen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers:

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen des BF nicht festgestellt werden, dass dieser in Nigeria aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung persönlich verfolgt werden würde.

Der BF wird im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.

Der Beschwerdeführer ist seiner Mitwirkungspflicht im Rahmen des Asylverfahrens nicht nachgekommen und zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Die Ladung wurde nachweislich an seine Rechtsvertretung am 08.05.2020 übermittelt.

Festgestellt wird weiters das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative.

Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Der BF verfügt über keine sonstige Aufenthaltsberechtigung. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Nigeria eine Verletzung von Art 2, Art 3 oder auch der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention nach sich ziehen würde. Der BF ist auch nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht.

Nicht festgestellt werden kann auch, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.

1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria:

Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat des BF stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:

1.3.1 Politische Lage

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; GIZ 3.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020).

Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA 24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten – zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte – und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen die von ihnen gemachte Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete des Landes, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 1.2019).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 3.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 3.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes (GIZ 3.2020a). Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar fechtet das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering (GIZ 3.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).

Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 3.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).

1.3.2 Sicherheitslage

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).

Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).

In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).

1.3.2.1 Nigerdelta

Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2019).

Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar'Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 16.1.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2019). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 16.1.2020).

Die Lage bleibt aber sehr fragil, da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 16.1.2020). Angriffe auf Erdöleinrichtungen stellen weiterhin eine Bedrohung für die Stabilität und die Erdölproduktion dar (ACCORD 17.4.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, darunter Abia, Akwa, Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers (EASO 2.2019).

Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 16.1.2020).

Entführungen sind im Nigerdelta und in den südöstlichen Bundesstaaten Abia, Imo und Anambra besonders häufig (FH 1.2019), so wurden auch im Jahr 2019 Zivilisten entführt um Lösegeld zu erhalten (USDOS 11.3.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020).

1.3.2.2 Middle-Belt inkl. Jos/Plateau

Seit Jahrzehnten kommt es in Nigeria – vorwiegend im Middle-Belt – zu religiös motivierter Gewalt zwischen christlichen ansässigen Bauern und nomadisch lebenden muslimischen Viehhirten (USCIRF 4.2019; vgl. EASO 2.2019). Ursprünglich ein Konflikt um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land, hat der Konflikt zunehmend eine ethnisch-religiöse Dimension bekommen (EASO 2.2019). Der Konflikt lädt sich immer stärker ideologisch auf und verstärkt den Antagonismus zwischen Christen und Muslimen bzw. verschiedenen Ethnien (AA 16.1.2020). Eine Polarisierung erfolgt anhand religiöser Linien, da Angriffe oft als religiös motiviert wahrgenommen werden. Beide Seiten fühlen sich durch die Sicherheitskräfte nicht ausreichend geschützt, Angreifer bleiben ungestraft. Es wird auch von ethnische Säuberungen im Rahmen des Konflikts berichtet (USCIRF 4.2019).

In Zentralnigeria verstärken sich die Konflikte zwischen Hirten und Bauern um Land und Ressourcen. In einzelnen Fällen forderten diese Auseinandersetzungen mehrere hundert Tote. Der Konflikt nimmt durch die fortschreitende Wüstenbildung in Nordnigeria, Bevölkerungswachstum und die angespannte wirtschaftliche Lage zu (AA 24.5.2019a).

Im Jahr 2018 eskalierte die Gewalt auf dem Land, und die gewalttätigen Konflikte in den Städten gingen weiter. Religiös motivierte Gewalt führte zu Massenvertreibungen, Zerstörung von Eigentum und zum Tod tausender Menschen (USCIRF 4.2019). Im Jahr 2018 wurden im Middle-Belt insgesamt 1.949 Menschen durch den Konflikt getötet (FH 1.2019). Bei bewaffneten Zusammenstößen zwischen Bauern und Viehhirten über immer knapper werdende Ressourcen wurden 2019 mindestens 96 Menschen getötet (AI 8.4.2020). Von der Gewalt waren zahlreiche Bundesstaaten Nigerias betroffen, insbesondere aber Adamawa, Taraba, Plateau, Nasarawa und Benue (EASO 2.2019; vgl. USCIRF 4.2019).

1.3.2.3 Nordnigeria – Boko Haram

Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 24.5.2019a). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 11.2018a).

Dem Konflikt fielen bisher unterschiedlichen unabhängigen Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer (AA 24.5.2019a; vgl. HRW 14.1.2020; EASO 11.2018a). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 16.1.2020).

Diese Gruppen sind auch weiterhin für Tötungen, Bombenanschläge und Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 1.11.2019).

Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 17.4.2020). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v.a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg“ geführt (ÖB 10.2019). Tatsächlich gelang es dem nigerianischen Militär und Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram aus einigen Gebieten zu verdrängen (GIZ 3.2020). Nach dem Rückzug in unwegsames Gelände und dem Treueeid einer Splittergruppe gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat ist Boko Haram mittlerweile zu ursprünglichen Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschlägen oft auch durch Attentäterinnen zurückgekehrt (ÖB 10.2019; vgl. ACCORD 17.4.2020).

Einige Gebiete stehen immer noch unter der Kontrolle der verschiedenen Fraktionen der Gruppe. JAS scheint im Nordosten in Richtung Kamerun am aktivsten zu sein, während ISIS-WA hauptsächlich in der Nähe der Grenze zu Niger operiert (EASO 2.2019). Boko Haram kontrolliert einige Dörfer nahe des Tschad-Sees (ICG 16.5.2019). Im Jahr 2019 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch. Boko Haram führte zudem in eingeschränktem Ausmaß Anschläge im Bundesstaat Adamawa durch, während ISIS-WA Ziele im Bundesstaat Yobe angriff. Boko Haram kontrolliert zwar nicht mehr so viel Territorium wie zuvor, jedoch ist es beiden Gruppen im Nordosten des Landes weiterhin möglich, Anschläge auf militärische und zivile Ziele durchzuführen (ACCORD 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Nordosten hat sich die Sicherheitslage nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 also wieder verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno (AA 16.1.2020).

Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). IOM zählt etwa 1,6 Millionen IDPs, ca. 200.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (AA 24.5.2019a). Andere Quellen berichten von circa zwei Millionen IDPs und mehr als 240.000 nigerianischen Flüchtlingen in den angrenzenden Staaten (USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 kamen beim Konflikt im Nordosten zumindest 1.200 Personen ums Leben, knapp 200.000 Personen wurden intern vertrieben (HRW 17.1.2019).

Auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law“ oder „Customary Law“) durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte“ neben „Common Law“- und „Customary Courts“ geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).

Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).

1.3.4 Scharia

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 16.1.2020). Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 21.6.2019). Bei den Scharia-Gerichten kommt die Bedingung hinzu, dass beide Parteien Muslime sein müssen (ÖB 10.2019). Mindestens ein Bundesstaat, Zamfara, schreibt vor, dass Zivilverfahren, bei denen alle Prozessparteien Muslime sind, vor Scharia-Gerichten verhandelt werden, wobei die Möglichkeit besteht, gegen jede Entscheidung beim Zivilgericht Berufung einzulegen (USDOS 11.3.2020). Nicht-Muslime haben die Möglichkeit, ihre Fälle vor den Scharia-Gerichten verhandeln zu lassen, wenn sie dies wünschen (USDOS 21.6.2019). Nicht-Muslime haben aber jedenfalls das Recht auf ein Verfahren vor einem säkularen Gericht (BS 2020).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, sodass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Dabei erregten Ermittlungen und Anklagen wegen sogenannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 16.1.2020).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020). Im Jahr 2019 gab es keine Berichte über ausgeführte Prügelstrafen (USDOS 11.3.2020). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 16.1.2020). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 11.3.2020). Es gibt Hisbah-Verbände zur Durchsetzung der Scharia, die sich stark zwischen den Staaten unterscheiden (USCIRF 12.2019).

1.3.5 Sicherheitsbehörden

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei (National Police Force - NPF), die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 16.1.2020). Obwohl in absoluten Zahlen eine der größten Polizeitruppen der Welt, liegt die Rate von Polizeibeamten zur Bevölkerungszahl unter der von der UN empfohlenen Zahl (UKHO 3.2019). Die nigerianische Polizei ist zusammen mit anderen Bundesorganisationen die wichtigste Strafverfolgungsbehörde. Das Department of State Service (DSS), das via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt ist, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Die nigerianischen Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die äußere Sicherheit zuständig, haben aber auch einige Zuständigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit (USDOS 11.3.2020). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 16.1.2020). Alle Sicherheitsorgane (Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten, die so genannten Rapid Response Squads) werden neben der Polizei auch im Innern eingesetzt (AA 16.1.2020). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig (ÖB 10.2019).

Der NDLEA wird im Vergleich zu anderen Behörden mit polizeilichen Befugnissen eine gewisse Professionalität attestiert. In den Zuständigkeitsbereich dieser Behörde fällt Dekret 33, welches ein zusätzliches Verfahren für im Ausland bereits wegen Drogendelikten verurteilte nigerianische Staatsbürger vorsieht. Dagegen zeichnen sich die NPF und die Mobile Police (MOPOL) durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2019). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität umfassend zu kontrollieren bzw. einzudämmen. Zudem sind die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 16.1.2020). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 11.3.2020).

Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Es gab allerdings kleinere Erfolge im Bereich der Reorganisation von Teilen des Militärs und der Polizei (BS 2020). Der Regierung fehlen wirksame Mechanismen und ausreichender politischer Wille, um die meisten Fälle von Missbrauch durch Sicherheitskräfte sowie Korruption in den Sicherheitskräften zu untersuchen und zu bestrafen (USDOS 11.3.2020).

1.3.6   Vigilantengruppen, Bürgerwehren, Hisbah

In verschiedenen Regionen des Landes haben sich bewaffnete Organisationen in Form von ethnischen Vigilantengruppen gebildet, z.B. der Odua People’s Congress (OPC) im Südwesten oder die Bakassi Boys im Südosten. Bei diesen Gruppen kann man sich gegen Zahlung eines Schutzgeldes „Sicherheit“ erkaufen. Die Behörden reagieren unterschiedlich auf diese Gruppen: Im Bundesstaat Lagos ging die Polizei gegen den OPC vor, im Osten des Landes wurde die Existenz dieser Gruppen dagegen von einigen Gouverneuren begrüßt. Die Polizei arbeitet zum Teil mit ihnen zusammen. Generell scheint die Bedeutung von Vigilantengruppen in Städten etwas abzunehmen, in einigen ländlichen Regionen haben sie aber weiterhin eine dominante Machtposition. Im Kampf gegen Boko Haram hat sich unter Federführung der Armee im Nordosten eine interethnische Vigilantengruppe – die Civilian Joint Task Force (CJTF) – herausgebildet (AA 16.1.2020). Berichten zufolge koordiniert sich das Militär vor Ort eng mit der CJTF, und diese erhält von der Regierung begrenzte Mittel (USDOS 11.3.2020).

Vigilantengruppen wie etwa die CJTF verhaften Personen bei Massenverhaftungen, oftmals ohne Beweismaterial (USDOS 11.3.2020). Diese Gruppen verletzen regelmäßig persönliche Freiheiten der Bürger (BS 2020). Im September 2017 unterzeichneten die UN und die CJTF einen Aktionsplan zur Unterbindung der Rekrutierung und Verwendung von Kindern, seitdem kommt es nicht mehr zur Rekrutierung von Kindern. Ehemalige Kindersoldaten werden reintegriert (USDOS 11.3.2020).

In verschiedenen Bundesstaaten überwacht die Hisbah-Polizei die Einhaltung der religiösen Vorschriften (AA 16.1.2020). Vier Staaten mit erweitertem Scharia-Geltungsbereich (Zamfara, Niger, Kaduna, Kano) haben private Gruppen, wie die Hisbah, zur Rechtsdurchsetzung ermächtigt und gewähren hierfür staatliche Zuschüsse. In bestimmten Fällen sind diese Gruppen ermächtigt, Verhaftungen vorzunehmen. Bislang beschränkt sich ihre Zuständigkeit in erster Linie auf Verkehrsdelikte und die Marktaufsicht (ÖB 10.2019). Die Hisbah verhaftet weiterhin Straßenbettler und Prostituierte, und sie beschlagnahmt und vernichtet Alkohol (USDOS 21.6.2019). In Kano wird die Hisbah direkt vom Bundesstaat betrieben, während sie in anderen Bundesstaaten ähnlich den nichtstaatlichen Bürgerwehren organisiert ist. Die Hisbah wurde vom Obersten Gericht zwar als verfassungswidrig bezeichnet, da polizeiliche Aufgaben ausschließlich in die Zuständigkeit des Bundes fallen, sie hat ihre Tätigkeit jedoch bisher nicht eingestellt, sondern wurde lediglich umorganisiert. Laut dem Gouverneur von Kano nimmt die Hisbah keine polizeilichen, sondern lediglich gesellschaftlich-moralische Aufgaben und Befugnisse wahr (AA 16.1.2020).

1.3.7 Folter und unmenschliche Behandlung

Durch Verfassung und Gesetze sind Folter und andere unmenschliche Behandlungen verboten. Seit Dezember 2017 sind gemäß Anti-Folter-Gesetz Strafen vorgesehen. Gesetzlich ist die Verwendung von unter Folter erlangten Geständnissen in Prozessen nicht erlaubt. Die Behörden respektieren diese Regelung jedoch nicht immer. Der Administration of Criminal Justice Act (ACJA) aus dem Jahr 2015 verbietet Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Häftlingen; er schreibt jedoch keine Strafen für Verstöße vor. Zudem muss jeder Bundesstaat ACJA-konforme Gesetze auch einzeln verabschieden, was bis Mitte 2019 erst in Akwa Ibom, Anambra, Cross River, Delta, Ekiti, Enugu, Kaduna, Lagos, Ogun, Ondo, Oyo und Rivers geschehen ist (USDOS 11.3.2020).

Die nigerianischen Sicherheitskräfte sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen: Allen glaubwürdigen Hinweisen zufolge gehören Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; BS 2020). Darunter haben insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden (AA 16.1.2020). Neben der Polizei wird auch dem Militär vorgeworfen, extralegale Tötungen, Folter und andere Misshandlungen anzuwenden, unter anderem bei Operationen gegen Aufständische im Nordosten und gegen separatistische Bewegungen im Südosten (FH 1.2019). Stockschläge werden als Strafe eingesetzt. Im Kampf gegen Boko Haram und ISIS-WA im Nordosten des Landes kommt es im Rahmen von Anti-Terror-Operationen durch Sicherheitskräfte zu Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter, außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020) und Verschwindenlassen. Betroffen sind davon zum Teil auch Untersuchungshäftlinge, Schiiten, Biafra-Aktivisten und mutmaßliche Bandenkriminelle. Berichten zufolge begehen Angehörige des Militärs außerdem schwere Menschenrechtsverletzungen in IDP-Camps. Die Regierung bestreitet dies (AA 16.1.2020).

Im März 2016 wurde eine Menschenrechtsstelle in der Abteilung für Zivil-Militärische Angelegenheiten beim Stab des Heeres eingerichtet. Regierung und Militär haben im Jahr 2019 mehrere Versuche unternommen, einige Vorfälle zu untersuchen. Die Menschenrechts¬kommission wurde außerdem beauftragt, Spezialeinheiten der Polizei zu untersuchen, die sich weitreichender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben sollen. Bisher blieben aber alle Untersuchungen ohne rechtliche Konsequenzen (AA 16.1.2020).

Die Sicherheitskräfte bleiben bei Vergehen weitgehend ungestraft (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020). Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist durch immer wieder gemeldete Fälle von widerrechtlichen Tötungen, Folter und unmenschlicher Behandlung in Polizeihaft unterentwickelt (ÖB 10.2019). Selbst die staatliche Menschenrechtskommission schätzt die Zahl extra-legaler Tötungen auf jährlich ca. 5.000 (AA 16.1.2020).

Das Militär wird wiederholt von Menschenrechtsorganisationen wegen außergerichtlicher Tötungen, Folter und anderer Missbräuche kritisiert, unter anderem im Rahmen der Aufstandsbekämpfung im Nordosten und bei Operationen gegen separatistische Bewegungen im Südosten des Landes (FH 1.2019).

Die Special Anti-Robbery Squad (SARS) geht brutal gegen Verdächtige vor. Häufig kommt es zu Folter oder erzwungenen Geständnissen (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 3.2020), oder auch Tötungen unter dem Vorwand, dass die Häftlinge haben fliehen wollen (AA 16.1.2020). Die nationale Menschenrechtskommission untersucht derzeit diese Polizeieinheit. Sie wurde bereits einer Umstrukturierung unterzogen, deren Auswirkungen noch nicht eingeschätzt werden können. Dabei handeln die Täter in der Gewissheit weitgehender Straflosigkeit, da es nur in den seltensten Fällen zu unabhängigen Untersuchungen, geschweige denn zu disziplinar- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen kommt. Wenn Polizisten beschuldigt werden, an extralegalen Tötungen beteiligt zu sein, werden sie durch ihre Vorgesetzten gedeckt und oft bewusst in andere Regionen versetzt, um eine Klärung der Vorwürfe zu verhindern. Hauptbetroffene sind in der Regel Personen, die eines Gewaltverbrechens verdächtig sind; diese werden nach dem Ablegen eines (häufig durch Folter erlangten) Geständnisses oft noch im Polizeigewahrsam „exekutiert“. Immer wieder kommt es auch vor, dass Sicherheitskräfte an von ihnen errichteten Straßensperren unvermittelt das Feuer eröffnen, etwa wenn sich jemand weigert, ein gefordertes Schmiergeld zu zahlen (AA 16.1.2020).

Gesicherte Erkenntnisse über systematisches Verschwindenlassen unliebsamer Personen durch staatliche Organe liegen nicht vor. Nigerianische Menschenrechtsgruppen werfen regelmäßig insbesondere der Polizei das Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen und anderen in Polizeigewahrsam befindlichen Personen vor (AA 16.1.2020). Einer anderen Quelle zufolge verhaften etwa Polizisten und der Inlandsgeheimdienst willkürlich Menschen und halten Personen ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam (AI 8.4.2020). Der Vorwurf des Verschwindenlassens wird auch gegen die im Norden Nigerias agierenden Sicherheitskräfte der Joint Task Force erhoben. Polizei und Militär gehen bei Großeinsätzen, wie der Bekämpfung der islamistischen Gruppe Boko Haram, häufig mit unverhältnismäßiger Härte vor (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020).

Folter ist in Polizei- oder Militärgewahrsam z.B. im Nordosten Nigerias und im Nigerdelta weiterhin weitverbreitet (AA 16.1.2020).

Zudem verweigern Gefängnisbeamte, Polizisten und anderes Personal der Sicherheitskräfte Häftlingen oft Nahrung und medizinische Behandlung, um sie zu bestrafen oder Geld zu erpressen (USDOS 11.3.2020).

Es kommt also trotz Folterverbots in der Verfassung oft zu teilweise schweren Misshandlungen von (willkürlich) Inhaftierten, Untersuchungshäftlingen, Gefängnisinsassen und anderen Personen im Gewahrsam der Sicherheitsorgane. Die Gründe für dieses Verhalten liegen zum einen in der nur schwach ausgeprägten Menschenrechtskultur der Sicherheitskräfte, zum anderen in der mangelhaften Ausrüstung, Ausbildung und Ausstattung insbesondere der Polizei, was sie in vielen Fällen zu dem illegalen Mittel der gewaltsamen Erpressung von Geständnissen als einzigem erfolgversprechenden Weg der „Beweisführung“ greifen lässt. Die große Zahl glaubhafter und übereinstimmender Berichte über die Anwendung von Folter in Gefängnissen und Polizeistationen im ganzen Land, die von forensischen Befunden gestützt und von der Polizei teilweise zugegeben werden, bestätigen den Eindruck, die Anwendung von Folter sei ein integraler Bestandteil der Arbeit der Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020).

Verfassung und Gesetze verbieten willkürliche Verhaftungen, dennoch praktizieren Polizei und Sicherheitskräfte diese Praktiken. Beim Kampf gegen Boko Haram wurden im Nordosten Nigerias seit 2013 tausende Personen willkürlich inhaftiert. Sie befinden sich in nicht überwachten militärischen Haftanstalten (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden – ohne Anklageschrift oder Verurteilung – inhaftiert (AA 16.1.2020). Die Armee inhaftierte Hunderte von Frauen rechtswidrig und ohne Anklage, u. a. weil man annahm, sie seien mit Mitgliedern von Boko Haram verwandt. Unter den Inhaftierten befinden sich auch Frauen und Mädchen, die angaben, Opfer von Boko Haram geworden zu sein (AI 22.2.2018; vgl. HRW 10.9.2019; USDOS 11.3.2020).

Die Regierung des nordöstlichen Bundesstaats Borno schätzt die Zahl der von Boko Haram entführten Frauen und Mädchen auf insgesamt 3.000. Im Oktober 2016 und Mai 2017 sind über hundert der 2014 aus Chibok entführten Mädchen freigelassen worden. Im März 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule in Dapchi entführt, die meisten kamen kurz darauf wieder frei. Boko Haram setzt außerdem Kinder gezielt als Lastenträger, in Kampfhandlungen und insbesondere Mädchen für Selbstmordattentate ein. Mädchen werden zudem häufig sexuell missbraucht und an Mitglieder der Boko Haram zwangsverheiratet (AA 16.1.2020).

1.3.8 Korruption

Das Gesetz sieht Strafen für Korruption vor (USDOS 11.3.2020). Trotzdem bleibt Korruption weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 1.2019; GIZ 3.2020) und damit ein wichtiges Entwicklungshindernis Nigerias (GIZ 3.2020) – vor allem im Öl- und Sicherheitssektor (FH 1.2019). Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2019, liegt Nigeria mit einer Bewertung von 26 (von 100) Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean) auf Platz 146 von 180 untersuchten Ländern (TI 23.1.2020).

Die Regierung setzt die Gesetze gegen Korruption nicht effektiv um, und Beamte bleiben oft ungestraft. Die massive, weitverbreitete und tiefgreifende Korruption betrifft alle Ebenen in den Behörden und bei den Sicherheitskräften (USDOS 11.3.2020); sie ist bei der Polizei weit verbreitet; Gelderpressungen an Straßensperren sind an der Tagesordnung (AA 16.1.2020). Korruption herrscht auch in der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020). Es gibt die weitverbreitete Auffassung, dass Richter leicht zu bestechen sind und Prozessparteien sich daher nicht auf Gerichte verlassen sollten, um ein unparteiisches Urteil zu erhalten. Bürger müssen sich auf lange Verzögerungen einstellen und berichten davon, dass Justizangestellte für eine Verfahrensbeschleunigung oder genehme Urteile Schmiergeld fordern (USDOS 11.3.2020).

Bei der Korruptionsbekämpfung sind seit 1999 nur wenige Erfolge zu verzeichnen (GIZ 3.2020). Allerdings hat die Regierung diese zum Teil ihrer Wirtschaftspolitik erklärt (AA 24.5.2019). Die Independent Corrupt Practices and Other Related Offenses Commission (ICPC) hält ein breites Mandat bezüglich der Verfolgung fast aller Formen von Korruption, während die Economic and Financial Crimes Commission (EFCC) auf Finanzdelikte beschränkt ist. Obwohl die Bemühungen der EFCC und der ICPC sich auf Regierungsbeamte mit niedrigem und mittlerem Rang konzentrieren, haben beide Organisationen mit Ermittlungen und Anklagen gegen verschiedene hochrangige Regierungsbeamte begonnen (USDOS 11.3.2020). Die beiden Kommissionen eröffneten im Jahr 2018 neue Untersuchungen gegen hochrangige und ehemalige Beamte (FH 1.2019).

1.3.9 Allgemeine Menschenrechtslage

Die am 29.5.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei“ ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 16.1.2020).

Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 24.5.2019a; vgl. GIZ 3.2020), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 3.2020). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden. Die Gleichstellung von Angehörigen sexueller Minderheiten wird gesetzlich verweigert, homosexuelle Handlungen sind mit schweren Strafen belegt (AA 24.5.2019a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Angehörige der nigerianischen Polizei und Armee sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 3.2020). Zu den wichtigen Menschenrechtsproblemen gehören zudem u.a. rechtswidrige und willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Inhaftierung sowie substanzielle Eingriffe in die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit (USDOS 11.3.2020).

Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten führten zu Amputations- und Steinigungsurteilen. Die wenigen Steinigungsurteile wurden jedoch jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben; auch Amputationsstrafen wurden in den letzten Jahren nicht vollstreckt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 13.3.2019). Menschenrechtsorganisationen mahnen allerdings an, dass die Dunkelziffer gegebenenfalls höher liegen kann (AA 16.1.2020).

Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, und diese sind auch in der Verfassung als einklagbar verankert. Dessen ungeachtet bleiben viele Probleme ungelöst, wie etwa Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, die Scharia-Rechtspraxis, Entführungen und Geiselnahmen sowie das Problem des Frauen- und Kinderhandels. Daneben ist der Schutz von Leib und Leben der Bürger gegen Willkürhandlungen durch Vertreter der Staatsmacht keineswegs verlässlich gesichert und besteht weitgehend Straflosigkeit bei Verstößen der Sicherheitskräfte und bei Verhaftungen von Angehörigen militanter Organisationen. Das hohe Maß an Korruption auch im Sicherheitsapparat und der Justiz wirkt sich negativ auf die Wahrung der Menschenrechte aus (ÖB 10.2019).

Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 3.2020a).

1.3.10 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Die Versammlungsfreiheit wird durch die Verfassung garantiert. Allerdings wird sie bisweilen durch das Eingreifen der Sicherheitsorgane gegen politisch unliebsame Versammlungen (z.B. von Schiiten oder Biafra-Aktivisten) in der Praxis eingeschränkt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 1.2019). Die Regierung verbietet Versammlungen, welche ihrer Ansicht nach zu Unruhen führen könnten. In Gebieten, in denen es zu gesellschaftlicher Gewalt kommt, entscheiden Polizei und Sicherheitskräfte über die Genehmigung von öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen von Fall zu Fall. Bei der Auflösung von Demonstrationen wenden Sicherheitskräfte manchmal übermäßige Gewalt an (USDOS 11.3.2020), welche mitunter auch zu Todesopfern und Verletzten führt (FH 1.2019).

Die Vereinigungsfreiheit wird durch die Verfassung ebenso garantiert wie das Recht, einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft anzugehören (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019); es wird auch praktiziert (ÖB 10.2019). Dies hat zur Herausbildung einer lebendigen Zivilgesellschaft mit zahlreichen NGOs geführt. Gleichzeitig gibt es verschiedene Versuche der Regierung, zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum durch repressive Gesetzgebung und Verwaltungspraxis einzuschränken (AA 16.1.2020). Gewerkschaften können sich grundsätzlich frei betätigen (AA 16.1.2020).

1.3.11 Todesstrafe

An der Todesstrafe hält Nigeria weiter fest (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Sie kann durch ordentliche Gerichte und erstinstanzliche Scharia-Gerichte für bestimmte Tatbestände (Mord, Hochverrat, Verrat, Quälerei mit Todesfolge, schwerer Raub) verhängt werden. Gegenwärtig ist in einigen südlichen Bundesstaaten der Trend zu beobachten, den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf weitere Straftatbestände (v.a. Entführung) auszuweiten (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Der Bundesstaat Rivers verabschiedete im März 2019 das novellierte Gesetz Nr. 6 von 2019 über das Verbot geheimer Kulte und ähnlicher Aktivitäten sowie das Gesetz Nr. 7 von 2019 über das Verbot von Entführungen in der Neufassung Nr. 2; beide Gesetze schreiben die Todesstrafe nun bei Entführungen und Sektiererei vor (AI 8.4.2020). Der 2012 überarbeitete Terrorism (Prevention) Act 2011 sieht die Todesstrafe für terroristische Verbrechen vor (AA 16.1.2020).

Ein seit 2006 faktisches Vollstreckungsmoratorium, das zuletzt im Februar 2009 durch den Außenminister gegenüber dem UN-Menschenrechtsrat bestätigt worden war, wurde vom Bundesstaat Edo im Juni 2013 mit vier und im Dezember 2016 mit drei Hinrichtungen durchbrochen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). 2019 gab es keine Berichte über Hinrichtungen, doch mussten immer noch mehr als 2.000 Menschen mit einer Vollstreckung ihres Todesurteils rechnen (AI 8.4.2020), darunter T

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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