Entscheidungsdatum
28.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W142 2146092-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2017, Zl. 1103652007/160142689, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2019 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 27.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 28.01.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Er gab an, am XXXX in Balkh geboren, ledig und schiitischer Moslem zu sein sowie der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Seine Muttersprache sei Farsi. Auch seine Eltern, seine Schwester, sein Bruder und seine Schwägerin seien derzeit in Österreich.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass er zu Hause immer in Unsicherheit habe leben müssen und ständig auf seine Schwestern habe aufpassen müssen. Er habe nicht einmal die Haustüre öffnen dürfen, da sie Angst gehabt hätten, dass die Leute erfahren hätten, dass sie Frauen zu Hause hätten und diese verschleppt werden würden (AS 25).
3. Am 02.10.2016 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Abschluss-Bericht hinsichtlich des Verdachts auf gefährliche Drohung von der LPD Niederösterreich übermittelt. Der BF wurde beschuldigt, gemeinsam mit seinem Vater einen weiteren afghanischen Asylwerber gefährlich bedroht zu haben, sollte dieser noch einmal für seine Schwägerin dolmetschen.
4. Am 02.01.2017 wurde der BF beim BFA niederschriftlich in der Sprache Farsi einvernommen. Der BF gab an, gesund zu sein, keine Medikamente zu nehmen und jederzeit arbeiten zu können. Er sei 19 Jahre alt, Hazara und schiitischer Moslem, habe keine Schule besucht und hätte sehr schwierige Lebensumstände gehabt. Er sei ständig zu Hause gewesen und habe auf seine Schwester und seine Mutter aufgepasst. Zu seinem Leben in Österreich führte er aus, er bestreite seinen Lebensunterhalt durch Leistungen aus der Grundversorgung. Verwandte in Österreich habe er nicht. Er habe aber mehr als 10 österreichische Freunde und Kontakt mit anderen Familien und seiner Vertrauensperson. Er sei auch in seinem Heimatland keiner Arbeit nachgegangen. Er habe den Koran gelesen und mit seinen Schwestern gespielt oder sich mit seiner Mutter unterhalten. Im Heimatland habe er noch einen Onkel väterlicherseits.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF wie folgt an:
[…]
VP: Hauptproblem ist die Sicherheit. Wir hatten keine Sicherheit. Meine Familie und ich hatten keine Sicherheit. Die Taliban haben uns belästigt. Ich habe die Tränen meiner Eltern gesehen, sie wollten meine Schwester und mich mitnehmen. Die Taliban hätten uns jede Minute mitnehmen können. Sie meinten, ihr habt so eine junge Tochter, wir nehmen sie, um sie zu verheiraten und der Junge soll für uns arbeiten.
LA: Haben Sie dem Vorbringen zur Gefährdungslage etwas hinzuzufügen? Haben Sie noch Details Ihrer Schilderung hinzuzufügen?
VP: Nein, das wars.
LA: Wann war das?
VP: Als wir noch in Afghanistan waren, bevor wir nach Österreich gereist sind?
LA: Vor wie vielen Jahren war das?
VP: Wir sind seit elf Monaten in Österreich, davor ist das passiert. Aus diesem Grund hat mein Vater dann den Entschluss gefasst.
LA: Also war das vor einem Jahr?
VP: Genau kann ich es nicht sagen. Bevor wir nach Österreich gekommen sind, ist der Vorfall passiert.
LA: War nur ein Vorfall?
VP: Die Taliban sind gekommen.
LA: Sind die nur einmal gekommen?
VP: Nein, mehr als einmal.
LA: Wie oft?
VP: Zwei Mal.
LA: Wie viel Zeit ist vom ersten Besuch bis zum zweiten vergangen?
VP: Das weiß ich nicht.
LA: Ungefähr?
VP: Das weiß ich auch nicht. Wie waren besorgt um uns.
LA: Sagen Sie die Wahrheit?
VP: Ja.
LA: Was passierte beim ersten Besuch von den Taliban?
VP: Als sie das erste Mal gekommen sind, bin ich mit meinen Schwestern und meiner Schwägerin in den Keller gegangen. Dort haben wir uns versteckt.
LA: Haben Sie sich immer versteckt, wenn es an der Tür geklopft hat?
VP: Sie haben nicht an der Tür geklopft, sie sind einfach in das Haus gestürmt.
LA: Warum sagt Ihr Vater dann, dass die geklopft hätten?
VP: Ich durfte die Türe nicht aufmachen.
LA: Warum sagt Ihr Vater die Taliban hätten geklopft und Sie sagen, die wären in das Haus gestürmt?
VP: Ich weiß nicht ob sie geklopft haben oder gestürmt sind. Ich war im Haus und durfte die Türe nicht aufmachen. Wenn mein Vater von der Arbeit gekommen ist durfte ich in der Nacht die Türe nicht aufmachen.
LA: Zu welcher Tageszeit sind die Taliban das erste Mal gekommen?
VP: Ich weiß nicht wie viel Uhr es war.
LA: Zu welcher Jahreszeit?
VP: Ich weiß es nicht.
LA: War es kalt oder warm?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
LA: Wo waren Sie beim ersten Besuch der Taliban?
VP: Im Keller.
LA: Und beim zweiten?
VP: Wir sind alle im Zimmer gesessen.
LA: Zu welcher Tageszeit war der zweite Besuch?
VP: Es war dunkel aber ich kann mich an die Uhrzeit nicht erinnern.
LA: Zu welcher Jahreszeit?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
LA: Haben Sie schon zu Abend gegessen?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
LA: Woher können Sie Farsi sprechen?
VP: Das ist meine Muttersprache.
LA: Warum sprechen in Ihrer Familie alle anderen Dari?
VP: Meine gesamte Familie spricht so wie ich.
LA: Wurden Sie schon einmal persönlich bedroht?
VP: Nein.
LA: Warum Sie Afghanistan nur an einer Adresse wohnhaft?
VP: Nein, wir waren auch wo anders?
LA: Wo?
VP: Man nannte diesen Ort Sang-charak.
LA: Warum können Sie sich an das noch erinnern?
VP: Weil es einen eigenartigen Namen hat.
LA: Wie sind Sie dorthin gekommen?
VP: Mein Vater hat mit uns die wichtigen Angelegenheiten nicht besprochen, damit wir nicht verängstigt und gestresst sind. An dem Abend als die Taliban gekommen sind, es war ein schrecklicher Abend und sehr verängstigend für uns. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass wir am selben Abend mit einem schwarzen Auto der Marke „Tunis“ weggefahren sind.
LA: Von wem war das Auto?
VP: Mein Vater hat mit jemanden gesprochen. Er hat das angemietet.
LA: Wer ist gefahren?
VP: Es war ein Fahrer.
LA: Kannten Sie den Fahrer?
VP: Ich habe auf ihn nicht geachtet.
LA: Glauben Sie lügt Ihre Schwägerin?
VP: Ich weiß nicht was sie gesagt hat.
LA: Wo war Ihre Mutter bei dem ersten Besuch der Taliban?
VP: Ich kann mich nicht erinnern. Vermutlich war sie auf der Toilette, da ich immer verängstigt war habe ich meine zwei Schwestern immer an der Hand genommen und bin mit meiner Schwägerin in den Keller gegangen.
LA: Wie lange war es schon dunkel, als die Taliban gekommen sind?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
LA: Hat es geregnet?
VP: Ich war zu Hause.
LA: Haben Sie bei Ihrem Haus Fenster gehabt?
VP: Ja.
LA: Dann müssten Sie wissen, ob es geregnet hat oder nicht!
VP: Ich habe nicht darauf geachtet.
LA: Wissen Sie, warum Ihre Familie das Land verlassen hat?
VP: Meine Eltern haben wegen uns das getan, da wir uns ansonsten alle getötet worden wären.
LA: Warum wären Sie getötet worden?
VP: Meine Eltern wollten mich nicht den Taliban übergeben. Sie sagten, junge Männer sollen für sie arbeiten und die Töchter haben sie mitgenommen.
LA: Warum wären Sie getötet worden?
VP: Wenn wir ihnen nicht gehorcht hätten, hätten sie uns getötet. Sie töten jeden. Das ist eine wohlhabende große Gruppierung.
LA: Woher wissen Sie, dass die jeden töten?
VP: Ich meinte damit meine Familie.
LA: Ihr Onkel lebt auch noch!
VP: Ja, in Afghanistan.
LA: Wie kann er noch leben, wenn die Taliban alle von Ihrer Familie umbringen würden?
VP: Mein Vater hat mir erzählt, dass er irgendwo in Afghanistan lebt.
LA: Warum lebt Ihr Onkel noch, wenn die Taliban alle von Ihrer Familie töten würden?
VP: Mein Onkel ist ein älterer Mann. Er ist 70 Jahre alt und lebt in einem verlassenen Haus. Die Taliban haben keinen Nutzen von ihm, er kann nicht arbeiten.
LA: Wie viel Zeit ist vom ersten bis zum zweiten Besuch der Taliban vergangen?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
LA: Ungefähr?
VP: Ich kann mich nicht erinnern.
[…]
5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.). Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
Das BFA stellte fest, dass die von ihm vorgebrachte Furcht nicht habe festgestellt werden können. Eine Gefährdungslage in Bezug auf ganz Afghanistan liege nicht vor.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Er habe keine individuellen Fluchtgründe vorgebracht. Auch die vorgebrachte Gefährdungslage sei völlig unglaubhaft. Er könne im Fall einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt bestreiten, zumal er jung, erwachsen, gesund und arbeitsfähig sei. Außerdem verfüge er über soziale und familiäre Anknüpfungspunkt im Heimatland. In Österreich verfüge er, außer seiner Kernfamilie, deren Aufenthalt ein vorübergehender ist, über keinerlei Verwandtschaft. Der BF lebe von der Grundversorgung, spreche schlecht Deutsch, verfüge über keine nennenswerten privaten Kontakte in Österreich und sei illegal eingereist.
6. Der BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht vollumfänglich Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das Verfahren vor dem BFA nicht den Anforderungen eines amtswegigen Ermittlungsverfahrens gemäß § 18 Abs. 1 AsylG genügt habe. Es sei hinsichtlich des Vorbringens des BF gar keine individuelle Beweiswürdigung durchgeführt worden, außerdem seien veraltete und unzulängliche Länderfeststellungen herangezogen worden. Die Auffassung des BFA, der BF könnte ohne Gefahr nach Sayedabad zurück und dort Unterstützung bei seinem Onkel erhalten, sei aktenwidrig. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund sei gegeben, da der Grund für die Verfolgung des BF jedenfalls in der von den Taliban aufgrund der verweigerten Rekrutierung zugeschriebenen politisch-religiösen Gesinnung liege. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat vor dieser Bedrohung durch die Taliban sei angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates sowie der instabilen Sicherheitslage nur theoretischer Natur. Auch würde sich die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF kontinuierlich verschlechtern, weshalb eine Rückkehr des BF nicht möglich sei. Zudem stehe dem BF keine innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) offen, da der BF weder in Kabul, noch in Mazar-e-Sharif oder Herat über soziale Kontakte verfüge und Mazar-e-Sharif darüber hinaus nicht sicher zu erreichen sei. Der Beschwerde wurden einige Referenzschreiben sowie Bestätigungen über die Teilnahme an Deutschkursen angefügt.
7. Am 29.08.2018 langte eine Beweismittelvorlage des BF ein, worin vorgebracht wurde, dass der BF vorbildlich integriert sei und Deutsch auf Niveau B1 spreche. Der BF legte ÖSD-Zertifikate über die bestandenen Prüfungen für Niveau A1, A2 und B1, eine Kursbestätigung des bfi über „Bildung für junge Flüchtlinge“, eine Teilnahmebestätigung von POLEposition mit dem Kursziel Pflichtschulabschlussprüfung sowie Empfehlungsschreiben vor.
8. Am 02.11.2018 langte eine ergänzende Stellungnahme sowie eine weitere Beweismittelvorlage ein, in der der BF ausführte, dass er in seinem Heimatland und auch im Bundesgebiet immer mit seinen Eltern und Geschwistern in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Deren Bescheide seien mit Beschluss des BVwG behoben und an das BFA zurückverwiesen worden. Ergänzend wurden weitere Länderberichte zu der Sicherheitslage in den Großstädten Afghanistans in das Verfahren eingebracht. Der BF brachte vor, dass Kabul aufgrund der hohen Zahl ziviler Opfer als interne Flucht- oder Schutzalternative nicht zur Verfügung stehe und eine IFA in Großstädte wie Mazar-e-Sharif oder Herat aufgrund anhaltender Dürre und der damit schlechter werdenden Wasser- Nahrungsmittel-, Arbeits- und Wohnsituation in die Großstädte Afghanistans derzeit nicht relevant und zumutbar sei und mit einer Verletzung der Rechte nach Art 2,3 EMRK einhergehen würde. Der BF legte den EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan vom August 2017 vor und brachte Empfehlungsschreiben ein.
9. Mit Stellungnahme vom 16.09.2019 wurde angeführt, dass die Sicherheits- und Wirtschaftslage Afghanistans eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren habe und es an Durchschlagskraft und Effizient der Zentralbehörden mangle. Da der BF zu einer Personengruppe gehöre, die einer erhöhten Gefahr unterliegen, könne er kein sicheres Leben in Afghanistan führen. Außerdem stehe Kabul aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage nicht mehr als IFA zur Verfügung. Auch die Großstädte Mazar-e-Sharif und Herat seien von der mangelhaften Nahrungsmittelversorgung und der schlechten Arbeitsmarktlage betroffen. Hinzu komme, dass der BF über keine sozialen Netzwerke verfüge, da er den Großteil seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht hätte und folglich über keinerlei Ortskenntnisse und nur geringe Kenntnisse der sozialen Gepflogenheiten verfügen würden. Auch Frauen würden eine unmenschliche Erfahrung erleben müssen und es fehle ihnen nahezu an jeder Möglichkeit, einen freien Willen zu äußern.
10. Mit Urkundenvorlage vom 18.09.2019 wurden die Zuerkennungsbescheide des BFA der Schwester ( XXXX ) sowie der Eltern ( XXXX ) übermittelt. Außerdem brachte der BF ein Zeugnis von einer Externistenprüfungskommission über die Pflichtschulabschlussprüfung vom 28.02.2019, eine Teilnahme- und Erfolgsbestätigung betreffend das Projekt „Nachholen des Pflichtschulabschlusses“ von POLEposition, eine Bestätigung der Marktgemeinde XXXX und des Pflegeheims XXXX seine ehrenamtliche Tätigkeit betreffend sowie Empfehlungsschreiben und Fotos ein.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.09.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der das BFA nicht teilnahm.
In der Verhandlung gab der BF an, in der Provinz Balkh, Said Abbad geboren und mit seiner Familie aufgewachsen zu sein. Lediglich ein paar Monate vor der Ausreise habe er in dem Ort Sang Jarak, etwa drei bis vier Stunden von seiner Heimat entfernt, gewohnt. Er habe in Afghanistan nie gearbeitet und sei auch in keine Schule gegangen, lediglich den Koran könne er gut lesen. Er habe in einem großen Haus mit einem Grundstück gelebt, in dessen Garten sie Gemüse angepflanzt hätten. Seine zweite Schwester sei im Iran geblieben, weil sie zu wenig Geld gehabt hätten, und dort verstorben.
Zu seiner Situation in Österreich befragt gab er an, seit ca. 4 Jahren hier zu sein und mit seiner Familie in einer Pension zu leben. Er spreche Deutsch auf Niveau B1 und wolle in Österreich als Pflegehelfer arbeiten. Seine Eltern und seine Schwester hätten in Österreich Asyl bekommen, daher müssten sie derzeit einen Deutschkurs besuchen und bekämen seit zwei oder drei Monaten kein Geld mehr. Er und sein Bruder würden von der Grundversorgung leben.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an:
[…]
R: Was war der Grund, warum Sie mit Ihrer Familie Ihr Heimatdorf verlassen haben?
BF1: Weil wir keine Sicherheit hatten.
R: Das heißt, aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage haben Sie Afghanistan verlassen?
BF1: Ja.
BF1 an D: Ich hoffe, Sie übersetzen richtig.
D an BF1: Ich kann nicht übersetzen, was Sie denken.
R fordert den BF1 auf, auf die Fragen zu antworten und wird dieser darauf hingewiesen, dass die Fragen der R und die Antworten des BF1 ins Protokoll geschrieben werden.
BF1: Bei mir ist in letzter Zeit etwas passiert und seitdem bin ich etwas verwirrt.
R: Möchten Sie uns sagen, was Ihnen passiert ist?
BF1: Nein, es ist etwas Persönliches.
R: Sie haben, wegen der allgemeinen Sicherheitslage haben Sie Afghanistan verlassen.
BF1: Ja, und auch, weil die Taliban gekommen sind. Sie haben meine zwei Schwestern und mich festgehalten und auch meinen Bruder. Sie haben gesagt: „Ihr zwei seid jung, Ihr müsst mit den Taliban in den Krieg ziehen“. Und die zwei Schwestern wären auch jung und müssten Taliban heiraten. Bei diesen Gesprächen haben alle Angst gehabt und jeder hat geschrien. Wir hatten alle so große Angst, dass wir uns alle in die Hose gemacht haben.
R: Wie oft sind die Taliban gekommen?
BF1: Die Geschichte ist noch nicht fertig.
R wiederholt die Frage.
BF1: Die Taliban sind zwei Mal gekommen.
R: Wann sind die Taliban das erste Mal gekommen? Können Sie das Jahr oder den Monat angeben? Woran können Sie sich erinnern?
BF1: Ich weiß nicht, welches Jahr es war, aber es war eher kalt, es war aber noch nicht Winter und am Abend ist es schnell dunkel geworden.
R: Was wollten die Taliban, als sie das erste Mal zu Ihnen gekommen sind?
BF1: Das erste Mal, als sie gekommen sind, waren es mehr als vier Personen. Wir hatten eine Art Keller, wo wir uns versteckt haben. Als sie geklopft haben, hat mein Vater uns gesagt, wir sollten uns verstecken. Mein Vater war dann alleine mit der Mutter. Er machte dann die Tür auf und Sie wissen, wenn der Vater zu Hause ist, darf nur der Vater die Tür aufmachen, die anderen nicht.
R: Wissen Sie, was dann vorgefallen ist, als Sie sich im Keller versteckt hatten?
BF1: Ja, da wir uns versteckt haben, haben wir nichts gesehen. Als sie dann weggegangen sind, hat uns unser Vater erzählt, dass die Taliban zu ihm gesagt haben: „Du hast junge Burschen zu Hause, die müssen mit uns kämpfen und die jungen Töchter sollen Taliban heiraten“.
R: Was hat Ihr Vater zu den Taliban gesagt?
BF1: Natürlich hatte mein Vater Angst und konnte nicht nein sagen. Er hat dann zu den Taliban gesagt: „Ja, ich werde mit meinen Kindern sprechen und werde euch meine Kinder übergeben“.
R: Wie viel Zeit ist vergangen, bis die Taliban zum zweiten Mal gekommen sind?
BF1: Genau weiß ich es nicht, aber es war ca. mehr als einen Monat, ca. 35 bis 40 Tage.
R: Was ist dann beim zweiten Besuch der Taliban genau passiert? Können Sie mir das detailliert schildern?
BF1: Es war wieder so, dass es gegen Abend war und schon dunkel war. Wir waren zu Hause, sind gesessen und haben uns unterhalten. Auf einmal waren mehr als sechs Taliban da, sie waren bewaffnet und sie waren sehr groß und trugen alle Bärte. Wir sind gesessen. Sie haben die Türe kaputt gemacht und sind hereingekommen. Zwei von ihnen haben meine beiden Schwestern festgehalten und zwei andere haben mich und meinen Bruder festgehalten.
R: Sind die Taliban plötzlich ins Haus gestürmt?
BF1: Ja, sie haben die Türe kaputt gemacht und sind hereingekommen.
R: Was ist mit Ihren beiden Schwestern passiert?
BF1: So wie sie schon beim ersten Besuch gesagt haben, sie seien jung und sollten Taliban heiraten. Zu meinem Bruder und mir haben sie gesagt, wir seien jung und sollten mit den Taliban kämpfen gehen und unschuldige Leute umbringen. Wir haben alle geschrien. Wir haben Angst gehabt und unser letztes Gebet ausgesprochen, weil wir dachten, dass wir jetzt alle sterben müssten.
R: Haben die Taliban Sie und Ihren Bruder mitgenommen?
BF1: Nein.
R: Was haben die Taliban dann gemacht? Sind sie einfach wieder weggegangen?
BF1: Wir haben alle Angst gehabt, dass wir uns alle nass gemacht haben in der Hose. Dann ist mein Vater gekommen. Sie hielten meine Schwestern so fest, dass mein Vater versuchte, meine Schwestern von ihnen wegzureißen. In dem Moment ist mein Vater geschlagen worden mit dem Hinterteil der Waffe an der Schulte oder an der Brust. Genau weiß ich es jetzt nicht mehr. Dann fiel er zu Boden. Wir haben alle geschrien und geweint. Dann ist meine Mutter gekommen. Sie haben sie zu Boden gestoßen. Sie haben immer wieder alles wiederholt. Sie haben untereinander gesprochen, in einer eigenen Sprache, die wir nicht verstanden haben. „Wenn wir sagen, die Töchter sind jung und müssen jetzt heiraten und die Jungs müssen mit uns kämpfen, dann muss das so sein“, sagten die Taliban. Dann hat ein Handy eines Talibans geläutet. Sie haben in ihrer Sprache gesprochen und der Taliban mit dem Handy ist dann rausgegangen. Als er wieder hereingekommen ist, sind die Taliban einfach wieder gegangen. Ich weiß nicht, was sie gesprochen haben, weil sie in ihrer eigenen Sprache gesprochen haben.
R: Als die Taliban mit Ihrem Vater gesprochen haben, welche Sprache haben sie da verwendet?
BF1: Sie haben versucht, auf Dari zu sprechen, aber sie hatten einen Akzent und konnten nicht gut sprechen.
R: Nachdem die Taliban gegangen waren, sind Sie dann mit Ihren Eltern und Geschwistern in das andere Dorf aufgebrochen?
BF1: Nein.
R: Was ist dann weiter passiert? Was haben Sie und Ihre Familie dann gemacht?
BF1: Als sie das Haus verlassen haben, ist ein Mann zurückgegangen und hat gesagt: „Keiner von Euch darf das Haus verlassen, wir kommen schnell wieder zurück“. Dann sind sie weggegangen.
R: Was haben Sie und Ihre Familie dann gemacht?
BF1: Wir haben versucht, unseren Eltern hoch zu helfen und ihnen Wasser zu geben. Wir haben die Tränen unserer Schwestern getrocknet. Mein Vater ist dann aufgestanden. Es hat ca. 20 Minuten gedauert, als mein Vater dann wieder rausgegangen ist. Als er wieder ins Haus hereingekommen ist, hat er nichts gesagt, nur, dass wir alle aufstehen und weggehen sollten.
R: Sind Sie dann sogleich alle aufgebrochen und ins andere Dorf gegangen?
BF1: Ja.
R: Sind Sie und Ihre Familie mit einem Auto nach Sang Jarak gefahren?
BF1: Ja.
R: Sind Sie mit dem eigenen Auto gefahren? War es ihr Auto?
BF1: Nein, das Auto hat nicht uns gehört. Es hat einem Freund meines Vaters gehört und mit diesem Auto sind wir dann gefahren.
R: Die Taliban waren das zweite Mal da und sind dann weggegangen. Wie viele Stunden sind vergangen, als Sie und Ihre Familie mit dem Auto nach Sang Jarak gefahren sind?
BF1: Eine halbe Stunde bis 40 Minuten waren wir dann noch zu Hause und sind dann gleich aufgebrochen.
R: Als Sie in Sang Jarak waren, wo haben Sie dort gelebt?
BF1: Dort war ein Ort, wo ein Bekannter meines Vater Häuser hatte, aber alte Häuser, dort haben wir gelebt. In dem Haus war niemand mehr drinnen. Ob diese Leute getötet wurden oder einfach weggezogen sind, das weiß ich nicht.
R: Können Sie mir den Namen des Freundes Ihres Vaters nennen, der Ihnen sein Auto gegeben hat?
BF1: Er hat uns selber gefahren, den Namen weiß ich nicht.
R: Wie lange haben Sie dann in Sang Jarak gelebt?
BF1: Zwei bis drei Monate. Es war mehr als zwei Monate.
R: Wovon haben Sie gelebt, als Sie mit Ihrer Familie in Sang Jarak waren?
BF1: Mein Vater hat gearbeitet. Die meiste Zeit ist mein Vater mit meinem Bruder arbeiten gegangen, am Bau, als Schweißer oder Maler. Sie haben Gelegenheitsarbeiten gemacht.
R: Wieso haben Sie mit Ihrer Familie dann Sang Jarak verlassen, was war der Grund?
BF1: Weil unser Leben in Gefahr war. Keiner verlässt seine Heimat, das Elternhaus und sein Grundstück. Wir hatten keine Wahl, wir hatten zwei Wege. Entweder hätten wir das akzeptieren müssen, was die Taliban gesagt haben, das heißt, dass wir uns ihnen anschließen müssten, Menschen töten und in den Krieg ziehen und vielleicht selbst im Krieg getötet werden, oder wir hätten das abgelehnt und wären vor Ort von den Taliban getötet worden.
R: Sind Sie, als Sie sich mit Ihrer Familie in Sang Jarak befunden haben, von den Taliban bedroht worden?
BF1: Bedroht worden sind wir nicht, aber wir waren nur zweieinhalb bis drei Monate dort, es waren mehr als zwei Monate, genau weiß ich es nicht, aber an einem Abend haben wir Schießereien und Bombardierungen gehört, wo auch ein Schuss unser Fenster getroffen hat und das ganze Fenster war kaputt.
R: Dann haben Sie sich entschlossen, auch dieses Dorf zu verlassen?
BF1: Als mein Vater dann aufgestanden ist hat er gesagt: „Was sollen wir machen? Wie sollen wir weiter tun?“ Wie Sie wissen, trifft in Afghanistan der Vater die Entscheidungen, Kinder haben keine Rechte. Mein Papa hat alles organisiert mit dem Schlepper und wir sind weggegangen. Am selben Abend, wo unser Fenster kaputt geworden ist, haben wir alles gepackt und sind weggegangen, weil es wirklich gefährlich geworden ist.
R: Wohin sind Sie dann mit Ihrer Familie gereist?
BF1: Wir sind über den Iran in die Türkei, Griechenland, Kroatien bis hierher gereist. In Österreich sind wir von der Polizei aufgegriffen worden.
[…]
Abschließend wurden mit dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand: März 2019) und die UNHCR-Richtlinien betreffend Afghanistan vom 30.08.2018 erörtert.
12. Am 24.01.2020 wurden dem BF das Länderinformationsblatt zu Afghanistan (Stand: 13.11.2019), die UNHCR-Richtlinien betreffend Afghanistan vom 30.0.08.2018 und die EASO-Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019 übermittelt und der BF aufgefordert zu diesen Feststellungen eine abschließende schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen zu erstatten.
13. Am 12.02.2020 brachte der BF eine Stellungnahme ein. Darin wird ausgeführt, dass von einer Verbesserung der allgemeinen Situation in Afghanistan keine Rede sei, auch in Kabul komme es regelmäßig zu Terroranschlägen. Die aktualisierten Berichte würden die weiterhin katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage ebenso aufzeigen, wie die mangelnde Effizienz und Durchschlagkraft der Zentralbehörden, jemanden wie den BF zu beschützen oder eine Reintegration zu ermöglichen. Der BF würde im Fall einer Abschiebung in eine existenzbedrohende Notlage geraten und bestehe die reale Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung aufgrund der weiterhin schlechten Situation in Afghanistan. Die UNHCR-Richtlinien würden aufzeigen, dass eine IFA – insbesondere in Kabul – nicht bestehe. Auch die Sicherheitslage in Herat und der Provinz Balkh habe sich verschlechtert. Darüber hinaus sei der BF in Österreich bereits sehr gut integriert, habe die deutsche Sprache gelernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei arbeitsfähig, arbeitswillig und selbsterhaltungsfähig. In Afghanistan habe er keine Lebensperspektive.
14. Am 19.06.2020 wurden dem BF folgende aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan übermittelt und der BF aufgefordert zu diesen Berichten eine schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen zu erstatten:
- LIB der Staatendokumentation Afghanistan (Stand: 18.05.2020);
- EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 vom 07.05.2020;
- EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11;
- OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -vom 17.06.2020.
15. Mit Verfahrensanordnung vom 30.06.2020 wurde dem BF die aktuellste Kurzinformation der Staatendokumentation zur Situation in Afghanistan (Covid-19, Stand: 29.06.2020) übermittelt und er aufgefordert binnen einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme zu erstatten.
16. Am 30.06.2020 brachte der BF eine Stellungnahme ein. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Coronavirus-Pandemie in Afghanistan völlig außer Kontrolle sei. Den offiziellen Zahlen sei kaum zu trauen und würde er bei einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten. Von einer Verbesserung der allgemeinen Situation sei nicht auszugehen. Die aktuellen Berichte würden die katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage ebenso aufzeigen, wie die mangelnde Effizienz und Durchschlagkraft der Zentralbehörden den BF zu beschützen oder eine Reintegration zu ermöglichen. Eine IFA sei für den BF nicht zumutbar. Eine Rückkehr nach Kabul sei keinesfalls zumutbar, auch habe sich die Situation in Herat und Mazar-e Sharif verschlechtert. Der BF habe bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF führt den Namen XXXX , ist am XXXX geboren und ein Staatsangehöriger Afghanistans. Er bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der BF spricht Dari, ist nicht verheiratet und hat keine Kinder (AS 17, Protokoll vom 20.09.2019 = OZ 16Z, S. 4-5).
Er reiste gemeinsam mit seiner Familie (Eltern: XXXX , Schwester: XXXX , Bruder: XXXX und Schwägerin: XXXX ) illegal nach Österreich ein (AS 19) und hält sich seit zumindest 27.01.2016 durchgehend in Österreich auf (AS 21).
Seine Eltern und seine Schwester befinden sich in Österreich und haben hier Asylstatus erhalten (OZ 15, Beilage ./A). Da für die Eltern des BF keine eigenen Fluchtgründe festgestellt wurden, kam die Zuerkennung der Asylberechtigung aus eigenen Gründen nicht in Betracht. Die Verfahren der Eltern und der minderjährigen Schwester des BF wurden jedoch als Familienverfahren geführt. Das Gericht geht davon aus, dass der minderjährigen Schwester des BF aufgrund der drohenden Zwangsverheiratung im Heimatland Asyl gewährt wurde. Den Eltern wurde daher als Familienangehörigen der Status des Asylberechtigten zuerkannt, da diese nicht straffällig geworden sind und gegen sie kein Aberkennungsverfahren anhängig ist (Bescheid vom 12.04.2019, Zl. 1103546603, Bescheid vom 11.04.2019, Zl. 1103545203, Bescheid vom 12.04.2019, Zl. 1103652203).
Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Balkh geboren, wo er gemeinsam mit seiner Familie lebte. Kurz vor seiner Ausreise lebten sie in einem Ort namens Sang Jarak. Er hat in seiner Heimat keine Schule besucht und ist keiner Arbeit nachgegangen. In Afghanistan (Provinz Herat) hat der BF einen Onkel väterlicherseits (AS 19, 120, OZ 16Z, S. 4-5, 23).
Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen würden oder ihn in seiner Arbeits- oder Leistungsfähigkeit einschränken würden. Der BF ist gesund und hat während des Verfahrens keine gesundheitlichen Probleme vorgebracht. Der BF ist arbeits- sowie leistungsfähig (AS 118).
Der BF weist keine strafgerichtlichen Verurteilungen auf.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen des BF nicht festgestellt werden, dass dieser in Afghanistan aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ist der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.
Der BF wurde weder von den Taliban bedroht noch zur Zusammenarbeit gezwungen.
Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Dem BF droht individuell und konkret, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder die afghanische Regierung.
Der BF hatte in Afghanistan selber keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet wird, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird oder eine Rückkehr für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.
Der BF ist in der Provinz Balkh aufgewachsen und hat zuletzt - kurz vor seiner Ausreise - in einem kleinen Dorf namens Sang Jarak gelebt.
Der BF kann sich im Rückkehrfall in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.
Zwar sind die wirtschaftlichen Bedingungen für Rückkehrer schwierig. Der BF läuft jedoch im Falle einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif ausschließen, können nicht festgestellt werden.
Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Der BF hat in Afghanistan laut seinen eigenen Angaben zwar keine Schule besucht und ist keiner Arbeit nachgegangen, er hat in Afghanistan aber das Lesen des Korans erlernt. Der BF hat sich in Österreich weiter- bzw. fortgebildet. Er hat hier den Pflichtschulabschluss nachgeholt und gemeinnützige Arbeiten bei einer Gemeinde und in einem Pflegeheim verrichtet. Der BF lebte zwar nie in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte, angesichts seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit und seiner Weiterbildung in Österreich ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass sich der BF dennoch in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern kann. Der BF kehrt gemeinsam mit seinem volljährigen Bruder in seine Heimat Afghanistan zurück und wäre ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg sicher erreichen.
Der BF unterliegt keinen gesundheitlichen Einschränkungen, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen. Insbesondere ist im Hinblick auf die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie festzuhalten, dass der BF mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 angehört. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.4. Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:
Der unbescholtene BF hält sich seit etwa vier Jahren und sechs Monaten im Bundesgebiet auf (OZ 16Z, S. 6). Der BF bezieht laufend Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig (OZ 16Z, S. 14). Der BF hat folgende Deutschkurse besucht und Prüfungen abgelegt: Deutschkurs Volksbildungsverein XXXX (AS 131), ÖSD-Zertifikate über die bestandenen Prüfungen für Niveau A1, A2 und B1 (OZ 3, Beilage 1-3), Kursbestätigung des bfi über „Bildung für junge Flüchtlinge“ (OZ 3, Beilage 5), eine Teilnahmebestätigung von POLEposition mit dem Kursziel Pflichtschulabschlussprüfung (OZ 3, Beilage 6) und ein Zeugnis von einer Externistenprüfungskommission über die Pflichtschulabschlussprüfung vom 28.02.2019 (OZ 15Z, S. 7, Beilage ./A).
Außerdem hat er ehrenamtlich für die Gemeinde und ein Pflegeheim gearbeitet. (OZ 15Z, S. 7, Beilage ./A). Der BF gehört keinem Verein, keiner religiösen Verbindung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an.
Der BF hat in Österreich mit anderen Familien Kontakt und mehrere österreichische Freunde (AS 125). Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinfo vom 29.06.2020), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, den EASO-Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019, dem EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 von 07.05.2020, dem EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11 und dem Bericht von OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -on 17.06.2020, werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
Stand: 18.5.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten,