Entscheidungsdatum
28.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W138 2190687-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Klaus HOCHSTEINER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch ZEIGE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.02.2018, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.07.2020 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 23.05.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 23.05.2015 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt, in der dieser zu seinem Fluchtgrund ausführte, dass er beim afghanischen Militär tätig gewesen sei. Die Taliban hätten ihn bedroht, dass sie ihn umbringen würden, wenn er seine Tätigkeit nicht beenden würde.
2. In der Einvernahme beim BFA am 12.12.2017 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu wurde der Beschwerdeführer neuerlich zu seinen Fluchtgründen befragt. Der BF gab zunächst an, Paschtune und sunnitischer Moslem zu sein. Er sei in der Provinz Kunar geboren und habe 9 Jahre eine Schule besucht. Danach habe er beim Militär gearbeitet. Seine Mutter und seine Schwester würden bei seinem Onkel väterlicherseits in der Stadt Kunar leben. Sein Onkel habe ein Transportunternehmen.
Zu seinen Fluchtgründen, gab der Beschwerdeführer an, dass er seine Familie immer heimlich im Heimatdorf besucht habe. Eines Tages sei das Auto auf der Hinfahrt kontrolliert worden. Dabei hätten sie seine Dienstkarte gefunden, die er vergessen hatte bei seinem Onkel zu lassen. Sie hätten ihm die Hände und Augen verbunden und ihn geschlagen. Er sei in die Berge mitgenommen worden. Er sei am nächsten Tag zu einem Mann gebracht worden. Dieser habe ihm vorgeworfen ein Ungläubiger zu sein. Der Mann habe gesagt, dass er dafür getötet werde. Daraufhin hätten die anderen Männer wieder auf ich eingeschlagen. Er habe weinend und schreiend gebeten ihn am Leben zu lassen. Er würde auch alles für sie tun. Er sei zum Dienst für sie bereit. Als der Mann, namens Amir, dies hörte befahl er, ihn nicht mehr zu schlagen. Amir habe gesagt, dass er ihn nicht töten werden, wenn er erneut den islamischen Glauben annehme und nie wieder von ihren Aufträgen abweichen werde. Er habe eine Vereinbarung schreiben und einen Fingerabdruck abgeben müssen. Die anwesenden Männer hätten als Zeugen unterschrieben. Es sei auch darin gestanden, dass andernfalls seine Familie getötet werde. Es wurde ihm bei Einhaltung der Vereinbarung finanzielle Unterstützung versprochen. Er habe ein Telefon erhalten, mit dem er die wichtigsten militärischen Bewegungen bekanntgeben hätte sollen. Er hätte zudem Waffen in militärischen Fahrzeugen transportieren sollen. Er sei nachhause entlassen worden. Zuhause seien seine Wunden versorgt worden. Er sei dann wieder ins Camp zurückgekehrt. Er habe im Camp behauptet, dass er einen Autounfall gehabt habe. Ein Arbeitskollege habe ihn besucht und ihm mitgeteilt, dass er gehört habe, dass zwei Jungs, die ebenfalls in seiner Einheit gewesen seien, wissen würden, was bei den Taliban passiert sei. Die Jungs seien aus einer verfeindeten Familie und hätten behauptet, dass er ein Spion der Taliban sei. Er habe Angst gehabt, dass sein Kommandant ihn ins Gefängnis schickt, wenn er davon erfahren hätte. Der Freund habe geholfen ihn aus dem Camp zu bringen und habe seinen Onkel und Vater verständigt und einen Schlepper organisiert. Sein Vater und sein Onkel seien zum vereinbarten Ort gekommen und hätten sich verabschiedet. Als er in Österreich angekommen sei, habe er von seinem Onkel erfahren, dass sein Vater und sein Bruder getötet worden seien. Das ganze Dorf habe gewusst, dass er entführt worden sei.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.-V.) Gemäß Spruchpunkt VI. betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz der Rechtsvertretung vom 20.03.2018 Beschwerde gegen alle Spruchpunkte.
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5. Am 16.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer, sein Rechtsvertreter, sowie eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
Per 23.07.2020 langten weitere Unterlagen ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
Der Beschwerdeführer ist Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er stammt aus der Provinz Kunar. Der Beschwerdeführer besuchte 9 Jahre die Schule und half seinem Vater in der eigenen Landwirtschaft. Anschließend machte er eine 6-monatige Ausbildung in der Reparatur von Mobiltelefonen. Danach machte er in Kabul eine zweimonatige Militärausbildung und eine eineinhalb monatige Ausbildung zur Lenkberechtigung. Im Anschluss war er ca. sieben Monate lang auf einem Militärposten bei Pol-e Charkhi (CFC) stationiert. Seine Mutter, seine Schwester und seine Gattin leben bei seinem Onkel vs in der Hauptstadt von Kunar.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten, jung und arbeitsfähig. Der BF brachte in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vor, dass er grundsätzlich gesund sei, aber an Asthma leide. Dies äußere sich an Kurzatmigkeit in Stresssituationen. Der BF gab an medizinische Unterlagen zu seinem Gesundheitszustand zuhause zu haben. Dem BVwG wurde jedoch nur eine, mit Ende der Frist zur Vorlage der medizinischen Unterlagen nach der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG datierte, medizinische ärztliche Bestätigung, dass der BF an Asthma und an Depressionen leide, vorgelegt. Dass der BF an Depression leide, wurde von ihm jedoch im gesamten Verfahren weder vorgebracht noch haben sich dahingehend Anhaltspunkte ergeben. Auch die Medikamente gegen die Asthmaerkrankung nimmt der BF nach eigenen Angaben nur sporadisch ein. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass es sich um eine schwergradige Asthmaerkrankung handelt. Dies zumal er auch regelmäßig das Fitnesscenter besucht. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF arbeitsfähig ist und ein schwerer Verlauf im Falle einer Erkrankung an dem COVID-19 Erreger nicht zu erwarten ist. Darüber hinaus leidet der BF an keinen anderen chronischen Krankheiten, wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs oder Fettleibigkeit. Der BF gehört aufgrund seiner überwiegenden Gesundheit und seines jungen Alters nicht der Risikogruppe einer COVID-19 Erkrankung an.
Der BF hat einen Deutschkurs besucht, betreibt ein eigenes Mobiltelefongeschäft und erhält keine Leistungen aus der Grundversorgung.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer individuell konkret gegen ihn gerichteten Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban oder die Regierung ausgesetzt wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat auf Grund einer konkreten individuellen Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe zu befürchten hätte.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der BF auf Grund seines in Österreich ausgeübten westlichen Lebensstils (selbstbestimmtes Leben, westlicher Kleidungsstil und westliches Frauenbild) in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es ist davon auszugehen, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan in seine Herkunftsprovinz Kunar aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Dem BF steht jedoch als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in eine der Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Die Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sind von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichbar.
Der Beschwerdeführer hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innenwohnenden Umständen eine Gewährung von subsidiärem Schutz auch bei einem niedrigeren Grad von willkürlicher Gewalt angezeigt hätten.
Feststellungen zum Herkunftsstaat:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 letzte Kurzinformation 29.06.2020
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)
(Quelle: BFA 13.2.2019)
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018
2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
Bagrami
1
1
3
5
Chahar Asyab
1
3
5
10
Dehsabz
1
4
7
Estalef
Farza
Guldara
2
4
Kabul
256
58
677
146
71
389
Kalakan
1
2
6
Khak-e-Jabar
1
3
39
1
5
Mir Bacha Kot
1
5
Musahi
2
4
1
22
70
Paghman
4
7
20
2
14
49
Qara Bagh
1
2
12
27
Shakar Dara
7
12
2
11
Surubi
16
8
34
18
28
110
Insg.
284
81
780
181
167
698
(ACLED 5.10.2019; ACLED 12.7.2019; GIM o.D.)
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 1.866 zivile Opfer (596 Tote und 1.270 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einer Zunahme von 2% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (UNAMA 24.2.2019).
Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).
IDPs – Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 35 konfliktbedingt aus dem Distrikt Surubi vertriebene Personen, die alle in der Provinz Logar Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA keine durch gewaltsamen Konflikt aus der Provinz Kabul vertriebene Personen (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 9.422 Vertriebene, welche in die Provinz Kabul kamen, die meisten davon in den Distrikt Kabul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 2.580 Vertriebene in die Provinz Kabul, alle in den Distrikt Kabul. Sie stammten aus Kapisa, Kunar, Nangarhar wie auch Logar, Ghazni, Baghlan und Wardak (UNOCHA 18.8.2019).
Bis zu zwei Drittel aller Afghanen, die außerhalb ihrer Provinz vertrieben wurden, bewegen sich in Richtung der fünf Regionalhauptstädte (NRC 30.1.2019) und Kabuls Wachstum war besonders umfangreich. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul ist nicht bekannt. Die Bewegung in und innerhalb der Stadt fluktuiert und viele kehren regelmäßig in friedlicheren Zeiten in ihr Herkunftsgebiet zurück (Metcalfe et al. 6.2012; vgl. AAN 19.3.2019). Im September 2018 schätzte der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul auf 70.000 bis 80.000 Menschen (TN 21.9.2018).
[…]
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019).
2017 und 2018 hat der IS bzw. ISKP Berichten zufolge drei Selbstmordanschläge in Herat-Stadt durchgeführt (taz 3.8.2017; Reuters 25.3.2018).
Aufseiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Herat gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018
2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
Adraskan
3
6
23
1
11
24
Chishti Sharif
12
14
73
3
4
18
Enjil
1
1
2
3
Fersi
3
5
25
5
34
Ghoryan
5
28
3
17
53
Gulran
1
4
28
1
11
48
Guzera
6
24
12
92
Herat
92
24
100
53
29
69
Karrukh
4
27
Koh-e-Zore*
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
Kohsan
3
11
1
12
30
Kushk
12