TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/4 W278 2189801-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.08.2020
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Entscheidungsdatum

04.08.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W278 2189808-1/40E
W278 2189813-1/39E
W278 2189811-1/41E
W278 2189806-1/40E
W278 2189801-1/42E
W278 2189809-1/36E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HABITZL als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX alias XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, die minderjährige Sechstbeschwerdeführerin vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin, alle vertreten durch Mag. XXXX , Rechtsanwalt in XXXX , gegen die Spruchpunkte II. bis VI. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zlen. 1.) 1083663608-151148785, 2.) 1083663804-151148925, 3.) 1083664409-151149323, 4.) 1083664605-151149374, 5.) 1083664202-151149170 und 6.) 1083664006-151149085, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.10.2018, zu Recht:

A)       I.       Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
II.         Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.
III.         Die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (infolge: BF1), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Zweitbeschwerdeführerin (infolge: BF2), seiner zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährigen Stieftochter, der Drittbeschwerdeführerin (infolge: BF3), seinem zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährigen Sohn, dem Viertbeschwerdeführer (infolge: BF4), seinem zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen Sohn, dem Fünftbeschwerdeführer (infolge: BF5), und seiner minderjährigen Tochter, der Sechstbeschwerdeführerin (infolge: BF6), unter Umgehung der Einreisebestimmungen in die Republik Österreich ein.

Am 20.08.2015 stellten die Beschwerdeführer (infolge: BF) gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz.

Der BF1, die BF2, die BF3, der BF4 sowie der zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährige BF5 wurden am 21.08.2015 von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers zu ihrer Identität, ihrer Reiseroute, ihrem Fluchtgrund und einer allfälligen Rückkehrgefährdung befragt.

Als Fluchtgrund gaben sie übereinstimmend an, dass der BF1 in Afghanistan vor sechzehn Jahren Probleme mit den Taliban gehabt habe, weil er Hazara und Schiite sei. Den Iran hätten sie sodann verlassen, weil der BF4 und der BF5 bedrängt worden seien, in Syrien zu kämpfen.

Für die Erstbefragung der minderjährigen BF6 wurde auf die Einvernahme der BF2 verwiesen.

Am 04.05.2017 wurden der BF1 und die BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (infolge: BFA) im Beisein eines Dolmetschers niederschriftlich einvernommen.

Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der BF1 an, dass die Protokollierung der Erstbefragung nicht richtig sei. Er habe in Afghanistan kein Problem mit den Taliban, sondern mit persönlichen Feinden. Da er in Afghanistan zu Unrecht des Todes einer Person namens XXXX beschuldigt und deswegen von der Familie des Verstorbenen bedroht worden sei, sei er mit seiner Familie bereits vor vielen Jahren in den Iran gezogen. Sein Bruder und zugleich erster Ehemann seiner nunmehrigen Frau sei im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Familie XXXX getötet worden.

Die BF2 führte aus, dass ihr Mann in Afghanistan Feinde gehabt habe, die ihn mit dem Tod bedroht hätten. Sie wisse aus Erzählungen ihres Mannes, dass ihr Mann in Afghanistan zu Unrecht des Todes einer Person, nämlich dem des Bruders des großen Kommandanten XXXX , beschuldigt und deswegen von diesem bedroht werde. Nachdem ihr erster Ehemann im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Familie XXXX getötet und ihre erste Tochter geboren worden sei, habe sie ihren jetzigen Ehemann geheiratet und sei mit diesem in den Iran gezogen.

Am 09.05.2017 erfolgten die niederschriftlichen Einvernahmen der BF3, des BF4 und des BF5 vor dem BFA.

Die BF3 gab an, dass sie im Alter von sechs oder sieben Monaten mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in den Iran geflohen sei, da ihr Stiefvater einen Feind in Afghanistan gehabt habe. Sie wisse nicht genau, was damals passiert sei, da sie noch sehr klein gewesen sei. Eigene Fluchtgründe machte die BF3 nicht geltend.

Der BF4 führte aus, dass er im Iran geboren und nie in Afghanistan gewesen sei. Aus Erzählungen seiner Eltern wisse er, dass sein Vater in Afghanistan Feinde habe und seine Mutter bei ihrem Besuch in Afghanistan von diesen Feinden bedroht worden sei.

Der BF5 brachte ebenfalls vor, dass er im Iran geboren und nie in Afghanistan gewesen sei. Seine Familie habe in Afghanistan Feinde. Eine Person habe gesagt, dass sein Vater den Bruder dieser Person getötet habe, obwohl sein Vater unschuldig sei. Deshalb könnten sie nicht zurück in die Heimat.

Die minderjährige BF6 wurde am 19.01.2018 in Anwesenheit ihres Vaters vor dem BFA einvernommen und zu ihrem Leben in Österreich befragt. Sie machte keine eigenen Fluchtgründe geltend. Die BF3 wurde ebenfalls ergänzend einvernommen und insbesondere zu ihrem Leben in Österreich befragt.

Mit den angefochtenen Bescheiden wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen die BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gegen diese Bescheide erhoben die BF mit Schreiben vom 16.03.2018, vertreten durch den beigegebenen Rechtsberater, vollumfänglich Beschwerde wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung, unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Die Beschwerde wendet ein, dass der BF1 mit seinem Vorbringen eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Zudem würde er Gefahr laufen, zur Teilnahme an Kampfhandlungen der Taliban aufgefordert zu werden. Auch betreffend den BF4 behauptet die Beschwerde die Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Weiter weist die Beschwerde auf die Situation der Volksgruppe der Hazara und die Situation von Frauen in Afghanistan hin. Jedenfalls sei den BF aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Unter dem Gesichtspunkt der Integration führt die Beschwerde aus, dass die BF2, die BF3 und die BF6 als Frauen in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen würden und weist auch auf die Integration des BF1, des BF4 und des BF5 hin. Gemeinsam mit der Beschwerde wurden Integrationsunterlagen vorgelegt.

Am 20.03.2018 legte das BFA die Beschwerde und die Akten der Verwaltungsverfahren dem Bundesverwaltungsgericht (infolge: BVwG) zur Entscheidung vor. Zugleich erklärte die belangte Behörde, auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu verzichten.

Mit Eingabe vom 30.04.2018 erfolgte eine Beschwerdeergänzung, welche insbesondere die Beurteilung der belangten Behörde betreffend eine „nicht-westliche“ Lebensweise der der BF2, der BF3 und der BF6 moniert, auf Berichte und gutachterliche Ausführungen zur Sicherheitslage in Kabul verweist und sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung wendet. In einem wurden weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.

Mit Eingabe vom 11.06.2018 übermittelte der BF1 weitere Integrationsunterlagen.

Das BVwG führte am 30.10.2018 in Anwesenheit von Vertretern des BFA, des ausgewiesenen Rechtsvertreters der BF und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer die gegenständlichen Beschwerdeverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und die BF ausführlich zu ihren Beweggründen hinsichtlich der Ausreise aus Afghanistan, allfälligen Rückkehrbefürchtungen, und ihrer Integration in Österreich befragt wurden.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde die gemeinsam erhobene Beschwerde dahingehend eingeschränkt, dass das Vorbringen in der Beschwerde, wonach dem BF1 eine Teilnahme an Kampfhandlungen der Taliban und dem BF4 eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohe, zurückgezogen werde. Weiters gab der Beschwerdeführervertreter zu Protokoll, dass mit den Ausführungen in der Beschwerde betreffend die aktuelle Situation der Hazara keine persönliche, gegen die BF gerichtete Bedrohung behauptet werde. Das Beschwerdevorbringen beschränke sich somit auf die westliche Orientierung der BF2, der BF3 und der BF6, auf die Verfolgung durch den privaten Akteur XXXX , auf die Situation für Rückkehrer und die Integrationsverfestigung der BF.

Mit Eingabe vom 19.11.2018 erfolgte eine Stellungnahme der BF. Zugleich wurden weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.

Mit Eingabe vom 11.02.2019 langten Integrationsunterlagen des BF5 bei Gericht ein.

Mit Erkenntnissen des BVwG vom 20.02.2019 wurden die Beschwerden der BF zur Gänze als unbegründet abgewiesen.

Dagegen erhoben die BF außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof sowie Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof.

Die Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 02.08.2019, Ra 2019/19/0150 bis 0153-5, zurückgewiesen.

Mit Erkenntnis vom 27.11.2019, E 1295-1300/2019-21, hob der Verfassungsgerichtshof die Erkenntnisse des BVwG hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung der Rückkehrentscheidungen, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie der Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Mit Verfahrensanordnung vom 27.02.2020 wurde den BF Gelegenheit gegeben, binnen zwei Wochen zum Länderinformationsblatt Afghanistan vom 13.11.2019, den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, den EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2019 sowie mehreren Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen.

Mit Stellungnahme vom 13.03.2020 legten die BF weitere Integrationsunterlagen vor und führten unter Verweis auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 27.11.2019 aus, dass im Falle der Rückkehr der BF jedenfalls eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK anzunehmen sei.

Mit Verfahrensanordnung vom 02.06.2020 wurde den BF Gelegenheit gegeben, bis 17.06.2020 zum aktualisierten Länderinformationsblatt vom 18.05.2020 Stellung zu nehmen. Diese Frist ließen die BF ungenützt verstreichen.

2. Feststellungen:

2.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die BF führen die im Spruch genannten Namen und Geburtsdaten. Sie sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari. Zudem beherrschen sie Farsi auf muttersprachlichem Niveau.

Der BF1 und die BF2 sind in der Provinz Kabul geboren. Die BF2 übersiedelte im Kleinkindalter mit ihrer Familie in die Provinz Maidan Wardak. Nach der Heirat mit ihrem ersten Mann zog die BF2 zurück nach Kabul. Der Ehe mit ihrem ersten Mann entstammt die BF3. Nach dem Tod ihres ersten Ehemannes heiratete die BF2 dessen Bruder, den BF1.

Im Jahr 1996 zogen der BF1 und die BF2 gemeinsam mit der BF3, die zum damaligen Zeitpunkt sechs oder sieben Monate alt war, in den Iran, wo die drei weiteren gemeinsamen Kinder des BF1 und der BF2, der BF4, der BF5 und die BF6 geboren wurden. Die BF3, der BF4, der BF5 und die BF6 wuchsen im Iran im afghanischen Familienverband auf.

Der BF1 besuchte in Kabul sieben Jahre die Schule und arbeitete als Teppichknüpfer. Im Iran arbeitete der BF1 zunächst ebenfalls als Teppichknüpfer und anschließend auf Baustellen. Er kennt sich nach eigenen Angaben sehr gut mit diversen Bauarbeiten, wie Malen, Anstreichen und Fliesenlegen, aus.

Die BF2 erhielt ein Jahr Koranunterreicht in einer Moschee, hat ansonsten aber keine Schule besucht und ist Analphabetin. Sie war weder in Afghanistan noch im Iran berufstätig und stets für den Haushalt und die Erziehung ihrer vier Kinder zuständig.

Die BF3 besuchte im Iran sechs Jahre die Schule und absolvierte eine dreimonatige Ausbildung für den Beruf der Frisörin. Sie verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung und ging im Iran keiner Arbeit nach.

Der BF4 besuchte im Iran sechs Jahre die Schule und arbeitete als Schneider, der BF5 besuchte im Iran acht Jahre die Schule und arbeitete ebenfalls als Schneider. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Kabul gemeinsam mit ihrer Mutter im Jahr 2010 oder 2011 Jahren verbrachte die minderjährige BF6 ihr gesamtes Leben bis zu ihrer Ausreise nach Europa im Iran.

Die BF haben familiäre Anknüpfungspunkte in ihrem Herkunftsstaat. Die Mutter und die zwei Brüder der BF2 sowie ein Onkel des BF1 leben nach wie vor in der Heimatprovinz des BF1 und der BF2 in Kabul. Die Verwandten des BF1 verfügen über ein Haus im XXXX Bezirk von Kabul, XXXX , in welchem der BF1 gemeinsam mit der BF2 und der BF3 vor ihrer Ausreise aus Afghanistan gelebt hat. Auch während eines Besuchs ihrer Familie in Kabul im Jahr 2010 oder 2011 hielt sich die BF2 in diesem Haus ihrer Verwandtschaft in Kabul auf. Der Kontakt zu den Verwandten der BF in Kabul ist aufrecht.

Der BF1 nimmt Medikamente gegen Bluthochdruck, ansonsten ist er gesund und benötigt keine ärztliche Behandlung. Die BF3 wurde im Dezember 2017 aufgrund einer Blinddarmentzündung operiert. Im März 2018 wurden ihr Gallensteine operativ entfernt. Die mj. BF6 erlitt im Zuge ihrer Reise nach Europa Verletzungen an den Wachstumsfugen, die zu einem Stillstand des Epiphysenwachstums führten und in Österreich im Jänner 2018 operativ versorgt wurden. Die BF leiden an keinen schweren oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

2.2. Zum (Privat-)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die BF verließen den Iran im Sommer 2015 und reisten unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 20.08.2015 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz stellten, die das BFA mit den angefochtenen Bescheiden vom 20.02.2018 zur Gänze abwies.

Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das BVwG mit Erkenntnissen vom 20.02.2019 als unbegründet ab. Die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erwuchs in Rechtskraft. Im Übrigen hob der Verfassungsgerichtshof die Erkenntnisse des BVwG mit Erkenntnis vom 27.11.2019, E 1295-1300/2019-21, auf.

Die BF leben seit ihrer Einreise in Österreich zusammen und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung, wobei das Geld der BF3 von ihren Eltern verwaltet wird. Der BF1, die BF2, die BF3, der BF4 und der BF5 sind nicht erwerbstätig. Die BF6 wird von ihren Eltern versorgt.

Der BF1 absolvierte Deutschkurse und Deutschprüfungen bis zum Niveau B1, zuletzt absolvierte er einen Deutschkurs auf dem Niveau B2. Auch nahm er an einem Kurs mit dem Inhalt „Berufsorientierung“ sowie an einem Kurs zum Thema „Sicherheit & Polizei“ teil. In seiner Freizeit geht er spazieren, schaut Fernsehen und liest Bücher. Er ist kein Mitglied in einem Verein.

Die BF2 besuchte mehrere Alphabetisierungskurse sowie Deutschkurse. Zuletzt besuchte sie von 17.02.2020 bis 12.05.2020 einen Deutschkurs auf Sprachniveau A1. Ein Sprachzertifikat hat sie bislang nicht erworben. Sie nahm an einem Werte- und Orientierungskurs sowie an einem Näh-Workshop teil und schneidert in ihrer Freizeit. Die Beschwerdeführerin verfügt seit Mai 2018 über eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio.

Die BF3 nahm zuletzt an einem Deutschkurs auf dem Sprachniveau A2 teil, eine Deutschprüfung legte sie bislang nicht ab. Im Herbst 2018 absolvierte sie einen Integrationskurs des afghanischen Kulturvereins. Derzeit besucht sie einen Vorbereitungslehrgang für den Pflichtschulabschluss, dieser findet täglich an den Nachmittagen statt. Den Vormittag verbringt die BF3 zu Hause mit ihrer Mutter. In ihrer Freizeit geht sie in die Bibliothek und trifft gelegentlich Freundinnen.

Der BF4 absolvierte Deutschkurse und Deutschprüfungen bis zum Niveau B1, nahm an einem Erste-Hilfe-Kurs, an einem Theater- und Filmworkshop und an einem Brückenkurs der Volkshochschule teil. Er möchte zukünftig als Koch arbeiten und absolvierte zu diesem Zweck im Jahr 2017 ein sechsmonatiges Praktikum der Einrichtung „Jugend am Werk“ namens XXXX – Gastronomie. Der BF4 hat die Pflichtschulabschlussprüfung positiv abgelegt und besucht seit September 2019 einen Vorbereitungslehrgang an einer HTL im Bereich Elektrotechnik. Der BF4 betreibt in seiner Freizeit Kampfsport und nimmt an einem gemeinnützigen Sportprojekt für jugendliche Asylwerber teil.

Der BF5 absolvierte Deutschprüfungen bis zum Niveau B1, nahm an zwei Brückenkursen für Deutsch, Englisch, Mathematik und IKT sowie an einem Erste-Hilfe-Kurs teil, bestand die Prüfung zum Energie-Führerschein und besuchte seit Februar 2018 einen einjährigen Lehrgang zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss, diesen schloss er im Jänner 2019 ab. Seit Beginn des Schuljahres 2019/20 besucht er eine HTL und möchte zukünftig im Bereich „IT/Informatik“ arbeiten; ein Praktikum hat er bislang nicht absolviert. In seiner Freizeit trifft der BF5 Freunde und betreibt Sport. Er ist nicht Mitglied in einem Verein.

Die mj. BF6 besucht seit September 2017 eine Neue Mittelschule und befindet sich derzeit in der dritten Klasse. Von 30.09.2019 bis 19.03.2020 besuchte die BF6 einen Basisbildungskurs im Ausmaß von 440 Unterrichtseinheiten. Nach Abschluss der Schule möchte sie studieren. An den Nachmittagen trifft sich die BF6 mit ihren Freundinnen. In der Freizeit malt und liest sie und geht gerne Schwimmen. Solange es die Verletzung an ihren Beinen zugelassen hat, hat sie auch gerne getanzt und ist sie Eislaufen gegangen. Die mj. BF6 spricht bereits gut Deutsch.

Die BF haben in Österreich keine Verwandten oder sonstigen Bezugspersonen, zu denen ein besonderes Naheverhältnis besteht.

Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

2.3. Zur Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan:

Bei einer (Wieder-)Ansiedelung der BF in der Herkunftsprovinz des BF1, der BF2 und der BF3, Kabul oder in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif könnten die BF aktuell die grundlegenden Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, nicht in ausreichendem Maße befriedigen. Die BF würden daher aktuell in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten. Die BF haben keine Familienangehörigen, welche im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan willens und in der Lage wären, sie finanziell oder vor Ort zu unterstützen und verfügen auch selbst nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um zumindest anfängliche Schwierigkeiten bei der (Wieder-)Ansiedelung in ihrem Herkunftsstaat zu überbrücken.

2.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020, wiedergegeben:

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

[…]

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Herat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahme der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

[…]

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

[…]

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

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Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[...]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz i

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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