Entscheidungsdatum
10.08.2020Norm
AsylG 2005 §55Spruch
I403 2232706-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Bosnien und Herzegowina, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Klaus KOCHER und Mag. Wilfired BUCHER, Friedrichgasse 31, 8010 Graz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.05.2020, Zl. XXXX , betreffend Antrag vom 12.02.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Der beschwerdeführenden Partei wird gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion XXXX , zugestellt am 02.06.2020, wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 12.02.2019 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß 46 FPG nach (im Spruch fehlt der Zielstaat der Abschiebung, gemeint wohl: Bosnien und Herzegowina) zulässig ist (Spruchpunkt III.) sowie gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Mit dem am 30.06.2020 beim BFA, RD XXXX , eingebrachten und mit 25.06.2020 datierten Schriftsatz erhob der Beschwerdeführer durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter Beschwerde gegen den oben genannten Bescheid. Darin wurde nach Darlegung der Beschwerdegründe beantragt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 06.07.2020 vom BFA vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina.
Die Familie des Beschwerdeführers, konkret seine Eltern und seine zwei Geschwister, leben ebenfalls in Österreich und sind hier aufenthaltsberechtigt. Sein Vater verfügte ab dem 21.12.2010 über eine Aufenthaltsberechtigung (als unselbständig Erwerbstätiger), seit dem 20.04.2017 ist er, ebenso wie die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers, in Österreich daueraufenthaltsberechtigt.
Der Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern seinem Vater nach Österreich nach. Er lebt seit 16.02.2011 durchgehend im Bundesgebiet und erhielt am 02.05.2011 eine Aufenthaltsberechtigung als Familienangehöriger. Vom 22.09.2015 bis zum 21.09.2018 war er im Bundesgebiet als Schüler aufenthaltsberechtigt. Am 21.01.2019 wurde sein Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels „Aufenthaltszweck Schüler“ vom Amt der XXXX Landesregierung abgewiesen.
Der Beschwerdeführer schloss die Neue Mittelschule im Juli 2013 ab. Er besuchte im Schuljahr 2013/2014 eine Übergangsstufe zum Oberstufenrealgymnasium und dann zunächst eine Handelsschule, anschließend eine Handelsakademie, brach die Ausbildung aber im Schuljahr 2017/2018 ab. Vom 29.06.2018 bis zum 10.09.2018 war er neben der Abendschule als Arbeiter geringfügig beschäftigt. Aktuell ist der Beschwerdeführer nicht erwerbstätig; allerdings könnte er bei Vorliegen einer Aufenthaltsberechtigung als Hilfsarbeiter in einem Bauunternehmen beginnen.
Der Beschwerdeführer lebt mit seinen Eltern und zwei Geschwistern zusammen; er wird von seinem Vater finanziell unterstützt und ist krankenversichert.
Der Beschwerdeführer verfügt über gute Deutschkenntnisse und hat sich in Österreich einen umfassenden Freundeskreis aufgebaut. Seit über acht Jahren ist er in Fußballvereinen aktiv und verfügt er über einen ÖFB-Spielerpass.
Der Beschwerdeführer besuchte seine Großeltern in Bosnien und Herzegowina regelmäßig auf Urlaubsreisen; er hat noch Freunde dort, sonstige enge Bindungen in seinen Herkunftsstaat liegen aber nicht vor.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.
Die getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht auf Grund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.
Die Feststellung zur Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem diesbezüglich unzweifelhaften Akteninhalt und dem im Akt in Kopie einliegenden Reisepass. Die Aufenthaltsberechtigungen seiner Familie ergeben sich aus den im Akt in Kopie einliegenden Aufenthaltstitel. Der Abschluss der Neuen Mittelschule ergibt sich aus dem ebenfalls als Kopie im Akt befindlichen Abschlusszeugnis vom 05.07.2013, seine weitere Schullaufbahn aus den ebenfalls vorgelegten Zeugnissen.
Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und Lebensumständen des Beschwerdeführers in Österreich beruhen auf der schriftlichen Antragsbegründung vom 12.02.2019, einer schriftlichen Stellungnahme vom 11.05.2020 sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde am 03.06.2019.
Die Feststellung zu seinen Deutschkenntnissen ergibt sich aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben, in denen etwa von „überdurchschnittlichen Deutschkenntnissen“ die Rede ist, aus dem Umstand, dass seine Einvernahme am 03.06.2019 auf Deutsch erfolgte sowie aus dem vorgelegten ÖSD Zertifikat B1, das bereits am 06.07.2016 abgelegt wurde.
Die Feststellung zum Vorliegen eines Freundeskreises ergibt sich aus den zahlreichen im Akt einliegenden Empfehlungsschreiben. Die Feststellung einer Arbeitsmöglichkeit ergibt sich aus der vorgelegten Einstellungszusage eines Bauunternehmens vom 08.02.2019, neuerlich ausgestellt am 27.04.2020. Soweit im angefochtenen Bescheid behauptet wird, dass die vorgelegte Einstellungszusage „inhaltlich nicht ausreichend bestimmt“ und daher aus diesem Grund „nicht relevant“ sei, kann dem nicht gefolgt werden. Auch wenn der Einstellungszusage keine näheren Arbeitsbedingungen (etwa Umfang und Entlohnung) entnommen werden können, legt erstens die neuerliche Ausstellung der Einstellungszusage durch das Bauunternehmen nahe, dass es dem Unternehmen mit seiner Zusage ernst ist und zeigt es zweitens auf, dass der Beschwerdeführer jedenfalls eine berufliche Tätigkeit annehmen kann und somit auch in Zukunft (wie auch bislang) keine staatlichen Fürsorgeleistungen in Anspruch nehmen wird müssen.
Seine Unbescholtenheit ergibt sich aus einem Strafregisterauszug.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Stattgebung der Beschwerde (Spruchpunkt A.):
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.
Gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen, wenn nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vorliegt.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG). Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (§ 9 Abs. 2 BFA-VG).
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des § 9 BFA-VG iVm. Art. 8 EMRK zulässig ist, ist eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit dem Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen.
Die Anwendung dieser Rechtslage auf den gegenständlichen Sachverhalt ergibt Folgendes:
Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und minderjährigen Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen. Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso jure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (siehe explizit VwGH 21.04.2011, Zl. 2011/01/0093, und 19.02.2014, Zl. 2013/22/0037; sowie VfGH 09.06.2006, B 1277/04, mit dortigem Verweis auf das Urteil des EGMR vom 10.07.2003, Nr. 53441/99, im Fall Benhebba, wo es in Rz 36 heißt: „[…] la Cour rappelle à cet égard que les rapports entre adultes ne bénéficieront pas nécessairement de la protection de l’article 8 de la Convention sans que soit démontrée l’existence d’éléments supplémentaires de dépendance, autres que les liens affectifs normaux“). Als besondere Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EGMR, die zu berücksichtigen sind, zählen etwa ein gemeinsamer Haushalt, ein Pflege- oder Betreuungsverhältnis sowie eine finanzielle oder psychische Abhängigkeit (VwGH 21.04.2011, Zl. 2011/01/0093).
Im angefochtenen Bescheid ging die belangte Behörde offensichtlich davon aus, dass der Beschwerdeführer kein Familienleben im Bundesgebiet führen würde, weil argumentiert wurde, dass keine Merkmale, „die über übliche Bindungen hinausgehen“, vorliegen würden. In einer aktuellen Entscheidung vom 02.06.2020, Azerkane / Niederlande hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber seine Rechtsprechung aufrecht, dass, wenn ein junger Erwachsener noch bei seinen Eltern lebt, von einem Familienleben im Sinne des Art 8 EMR auszugehen ist (In its case-law in immigration cases, the Court has laid down as a general rule that relationships between adult relatives do not necessarily attract the protection of Article 8 without further elements of dependency involving more than the normal emotional ties (see, for instance, Konstatinov v. the Netherlands, no. 16351/03, § 52, 26 April 2007, and Z. and T. v. the United Kingdom (dec.), no. 27034/05, ECHR 2006-III). However, it has not insisted on such further elements of dependency in a number of cases concerning young adults who were still living with their parents and had not yet started a family of their own (see Bouchelkia v. France, 29 January 1997, § 41, Reports 1997-I; Ezzouhdi v. France, no. 47160/99, § 26, 13 February 2001; Maslov, cited above, §§ 62 and 64; Osman v. Denmark, no. 38058/09, §§ 55-56, 14 June 2011; and Yesthla v. the Netherlands (dec.), no. 37115/11, § 32, 15 January 2019).
Im Falle des Beschwerdeführers, der bislang immer mit seinen Eltern und seinen Geschwistern zusammenlebte und der von seinem Vater finanziert wird und auch bei diesem mitversichert ist, ist daher von einem in Österreich bestehenden Familienleben auszugehen.
Das Bundesverwaltungsgericht geht auch, im Gegensatz zur belangten Behörde, von einer sonstigen starken Verankerung des Beschwerdeführers in Österreich aus. Er kam als 13jähriger nach Österreich und verbrachte die folgenden prägenden Jahre im Bundesgebiet, wo er die Schule besuchte, Deutsch lernte, sich in Vereinen engagierte und Freundschaften schloss. Seine gesamte Familie hatte sich zu einem Umzug nach Österreich entschlossen und hatte 2017 den Daueraufenthalt erworben, so dass der Beschwerdeführer als Teil der Familie von einem nachhaltigen Verlegen des Lebensmittelpunktes nach Österreich ausgegangen war. Dies unterscheidet sich von Fällen, in denen etwa Studierende als Einzelpersonen und nur zum Zweck des Studiums nach Österreich einreisen und denen bewusst sein muss, dass der Aufenthalt nur ein vorübergehender sein wird.
Soweit im angefochtenen Bescheid argumentiert wurde, dass der vom Beschwerdeführer gestellte Antrag „eine Umgehungshandlung des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes“ darstelle, da ihm die Möglichkeit einer Antragstellung aus dem Ausland offenstehe, würde diese Rechtsansicht letztlich bedeuten, dass es kaum einen Anwendungsbereich für eine Antragstellung nach § 55 AsylG 2005 gibt, da man zumeist mit der Möglichkeit einer Antragstellung aus dem Ausland argumentieren könnte – welche im Gesetz aber nicht als Hinderungsgrund für die Gewährung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK genannt wird. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar in Fällen, in denen ein Fremder seinen in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen (Ehegatten bzw. Kindern) nachgereist war und einen Antrag auf internationalen Schutz bzw. auf Erteilung eines Aufenthaltstitels missbräuchlich zur von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug gestellt hatte, festgehalten, dass in solchen Konstellationen das öffentliche Interesse besonders schwer wiegt, zumal von den Beteiligten nicht von einem (rechtmäßigen) Verbleib in Österreich ausgegangen werden konnte (vgl. VwGH, 21.02.2020, Ra 2020/18/0047-6 und VwGH, 23.01.2019, Ra 2018/19/0683, mwN), doch unterscheidet sich der gegenständliche Fall davon, weil sich der Beschwerdeführer zuvor ja rechtmäßig in Österreich aufgehalten hatte. Eine „Umgehungshandlung“ kann aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in der gegenständlichen Antragstellung nicht erblickt werden.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist im Übrigen bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (siehe aus jüngerer Zeit etwa VwGH, 26.06.2019, Ra 2019/21/0092 bis 0094, Rn. 10 oder VwGH, 07.03.2019, Ra 2018/21/0253, Rn. 11, oder VwGH, 25.04.2019, Ra 2018/22/0251 bis 0256, Rn. 12, je mwN). Dass der Beschwerdeführer die Zeit in Österreich nicht genützt hat, um sich hier zu integrieren, kann angesichts seines bestehenden Familienlebens, seines Mittelschulabschlusses, seines Freundeskreises und seinen Deutschkenntnissen jedenfalls nicht festgestellt werden. Allerdings hält er sich erst neuneinhalb Jahre im Bundesgebiet auf; in einem ähnlich gelagerten Fall, bei dem sich ebenfalls ein Staatsbürger aus Bosnien und Herzegowina neuneinhalb Jahre (die weit überwiegende Zeit davon) rechtmäßig im Inland aufgehalten hatte, hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass den privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich der Vorrang hätte gegeben werden müssen (VwGH, 08.11.2018, Ra 2016/22/0120). Auch in anderen Fällen wurde die Judikatur des VwGH zu einem mehr als zehnjährigem Aufenthalt - ausgehend von den zugunsten eines Fremden festgestellten Umständen- auch auf einen knapp zehn Jahre noch nicht erreichenden Aufenthalt angewendet (vgl. VwGH, 14.04.2016, Ra 2016/21/0033 und 0034 oder VwGH, 09.09.2014, 2013/22/0247).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt auch nicht, dass der Beschwerdeführer in den letzten Jahren regelmäßig seinen Urlaub in Bosnien und Herzegowina verbracht und dort seine Großeltern besucht hat; dennoch ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seit neuneinhalb Jahren seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hat, hier ein Familienleben mit seinen Eltern führt und sich umfassend integriert hat.
Aus all den dargelegten Umständen ergibt sich unzweifelhaft, dass der Beschwerdeführer zahlreiche der oben angeführten Kriterien, die bei der Abwägung der betroffenen Interessen maßgeblich zu berücksichtigen sind, erfüllt und diese besonders intensiven familiären und privaten Interessen auch die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts in Österreich überwiegen.
Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist im gegenständlichen Fall aus den eben dargelegten Gründen in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das Interesse an der – nicht nur vorübergehenden – Fortführung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers in Österreich dennoch höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
Abschließend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten ist, weshalb im Fall des Verbleibens im Bundesgebiet auch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu erkennen ist.
Da im Hinblick auf die oben dargelegten Abwägungen zum Entscheidungszeitpunkt das Interesse der beschwerdeführenden Partei an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens in Österreich im konkreten Fall die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen nicht nur vorübergehenden Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellen würde, war der Beschwerde stattzugeben und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Was die Erteilung des konkreten Aufenthaltstitels an die beschwerdeführende Partei anbelangt ist festzuhalten, dass auch das BVwG – in jeder Verfahrenskonstellation – über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels ist vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst, weshalb in einem zu entscheiden ist (siehe ErläutRV 582 BlgNR 25. GP).
Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig auf Dauer unzulässig erklärt wurde. Erfüllt der Drittstaatsangehörige überdies das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) oder übt er zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze nach § 5 Abs. 2 ASVG erreicht wird, so ist nach dem ersten Absatz des § 55 AsylG 2005 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ auszustellen, andernfalls nach dem zweiten Absatz dieser Bestimmung nur eine „Aufenthaltsberechtigung“, mit der (auf beschäftigungsrechtlicher Ebene) ein geringerer Berechtigungsumfang verbunden ist.
§§ 9 und 10 IntG sind die Nachfolgebestimmungen zu den zunächst mit BGBl. I Nr. 68/2017 und letztlich mit BGBl. I Nr. 145/2017 zum 30. September 2017 (siehe § 82 Abs. 24 NAG) aufgehobenen §§ 14a und 14b NAG. Insoweit ordnet die Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 36 NAG im Ergebnis an, dass das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt gilt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG bis zu dessen Außerkrafttreten mit Ablauf des 30. September 2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren.
§14a NAG sah - auszugsweise - Folgendes vor:
„Modul 1 der Integrationsvereinbarung
§ 14a. (1) Drittstaatsangehörige sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels ... zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. ...
(2) Der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 haben Drittstaatsangehörige binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels ... nachzukommen. ...
(3) ...
(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. ...
2. einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 vorlegt,
...
(5) ...
(6) Nähere Bestimmungen über ... die Nachweise gemäß Abs. 4 Z 2 hat der Bundesminister für Inneres durch Verordnung festzulegen.
(7) ...“
Die (u.a.) aufgrund der Ermächtigung in § 14a Abs. 6 NAG erlassene Integrationsvereinbarungs-Verordnung, IV-V, idF BGBl. II Nr. 205/2011, sieht in ihrem § 9 - auszugsweise - vor:
„Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse
§ 9. (1) Als Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse im Sinne des § 14a Abs. 4 Z 2 ... NAG gelten allgemein anerkannte Sprachdiplome oder Kurszeugnisse, insbesondere von folgenden Einrichtungen:
1. Österreichisches Sprachdiplom Deutsch;
2. Goethe-Institut e.V.;
3. Telc GmbH.
(2) Jede Einrichtung hat in dem von ihr auszustellenden Sprachdiplom oder Kurszeugnis gemäß Abs. 1 schriftlich zu bestätigen, dass der betreffende Fremde über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest
1. auf A2-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen oder
2. auf B1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen
verfügt.
(3) Fehlt eine Bestätigung nach Abs. 2, gilt der Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse auf der entsprechenden Niveaustufe als nicht erbracht.
(4) ...“
Der Beschwerdeführer legte am 06.07.2016 die B1-Sprachprüfung ab; er erfüllte daher das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG vor dessen Außerkrafttreten mit Ablauf des 30.09.2017 und ist ihm daher die „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.
Die Ausstellung des Aufenthaltstitels auf Grund dieser Entscheidung ist gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) unter persönlicher Mitwirkung der beschwerdeführenden Partei vorzunehmen und der Aufenthaltstitel sodann an die beschwerdeführende Partei auszufolgen.
3.2. Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B.):
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.
3.3. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Im gegenständlichen Fall konnte eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs. 1 Z 1 VwGVG unterbleiben, da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung Integration Interessenabwägung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässigEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:I403.2232706.1.01Im RIS seit
22.10.2020Zuletzt aktualisiert am
22.10.2020