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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Schindler sowie den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 3. Oktober 2019 mündlich verkündete und am 4. Februar 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, G311 2181772-1/15E, betreffend Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: X Y in Z, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. bis A) IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden, stellte am 3. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. wurde der Beschwerde jedoch stattgegeben, dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt (Spruchpunkt A) II.) und eine für ein Jahr gültige, befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt (Spruchpunkt A) III.). Weiters behob es die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.). Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, der Mitbeteiligte sei Angehöriger der Volksgruppe der Kurden, bekenne sich formal zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung, übe seine Religion jedoch nicht aus und führe einen „eher westlich orientierten Lebensstil“. Der Mitbeteiligte sei in Erbil, in der Autonomen Region Kurdistan, geboren, wo er mit seiner Familie bis etwa 2005 gelebt und die Grundschule sowie drei Klassen der Mittelschule besucht habe. Im Jahr 2005 sei die Familie nach Kirkuk zurückgekehrt, woher sie ursprünglich auch stamme. Nach Abschluss des Gymnasiums und eines Studiums und einem knappen Jahr Arbeitssuche habe der Mitbeteiligte ab 27. Dezember 2012 für etwa neun Monate eine Stelle als bewaffneter Security-Mitarbeiter beim Sicherheitsdienst des US-amerikanischen Konsulats und dessen Außenstelle in Erbil bekommen. Während dieser Zeit habe der Mitbeteiligte unter der Woche in einer Wohnung in Erbil gelebt und sei am Wochenende nach Kirkuk zu seiner Familie zurückgekehrt. Anschließend sei er etwa Ende August 2013 nach Kirkuk gezogen, wo er bis zu seiner Ausreise aus dem Irak in einer Buchhandlung als Buchverkäufer gearbeitet habe. Während der Zeit in Kirkuk habe der Mitbeteiligte bis zur Ausreise im Elternhaus gewohnt. Die Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern würden nach wie vor dort leben; eine dritte Schwester lebe im Bezirk Bazian in Suleimaniya. Die Mutter lebe von der Pension des verstorbenen Vaters (USD 500,00 monatlich). Einer der Brüder des Mitbeteiligten sei Peshmerga und sorge mit seinem Einkommen für die Familie. Es bestehe regelmäßiger Kontakt des Mitbeteiligten zu seiner Mutter und seinen Geschwistern.
5 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht - nach der Darstellung der allgemeinen Lage in Kirkuk und „Kurdistan“ - insbesondere aus, Rückkehrer aus dem Ausland, deren Asylanträge abgewiesen worden seien, hätten in Erbil und Suleimaniya Schwierigkeiten im Falle einer Rückkehr, falls sie kein unterstützendes familiäres Netzwerk hätten. Für Rückkehrer ohne Familienanschluss sei die Reintegration schwierig, weil die Lebenserhaltungskosten hoch seien. Nach Ansicht des UNHCR sei das gesamte Gebiet „Kurdistans“ aufgrund der dort herrschenden, derzeitigen humanitären Lage im Allgemeinen keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (IFA). Die einzige Ausnahme würden Antragsteller darstellen, die basierend auf den individuellen Umständen ihres Falles Zugang zu einer angemessenen Unterkunft im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet mit Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur sowie Zugang zu Grundversorgung hätten und denen die Möglichkeit offen stehe, ihren Lebensunterhalt zu sichern oder denen - im Fall von Antragstellern, von denen die selbständige Sicherung des Lebensunterhalts nicht erwartet werden könne (wie weiblich geführte Haushalte, ältere Antragsteller oder solche mit Behinderung) - eine erwiesene und nachhaltige Unterstützung zukomme, durch die ein angemessener Lebensstandard gewährleistet sei. Für Personen, die für ausländische Unternehmen oder Streitkräfte, insbesondere die USA, tätig gewesen seien, bestehe nach den Länderberichten generell ein erhöhtes Risiko, dass sie feindlichem Verhalten und Ressentiments der allgemeinen Gesellschaft, aber womöglich auch von Milizen, dem IS oder staatlichen Organisationen ausgesetzt sein könnten. Eine den Mitbeteiligten konkret und persönlich treffende Gefährdung oder Bedrohung habe jedoch nicht festgestellt werden können.
6 Rechtlich folgerte das Bundesverwaltungsgericht, die Sicherheitslage in Kirkuk sei volatil. Die Fahrtrouten von und nach Kirkuk seien weiterhin gefährlich, weil immer wieder Überfälle auf Fahrzeuge stattfänden. Die Herkunftsregion des Mitbeteiligten (Kirkuk) sei nicht sicher zu erreichen. Im Hinblick auf die Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, insbesondere die prekäre Situation in Kirkuk, müsse davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte im Fall einer Rückkehr nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit seinen notdürftigen Lebensunterhalt erwirtschaften können werde. Aus den Länderberichten ergebe sich, dass es von April bis Juni 2019 weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen gekommen sei. Das Leben des Mitbeteiligten und seine Unversehrtheit seien im Fall einer Rückkehr in den Irak bedroht. Die besonderen Schwierigkeiten, welchen den Mitbeteiligten im Fall einer Rückkehr erwarteten, seien nämlich bereits in der dargestellten Sicherheitslage in Kirkuk und in seiner Person gelegenen Umständen begründet. Der Mitbeteiligte sei für ein Security-Unternehmen tätig gewesen, das für die Bewachung des US-Konsulats in Erbil zuständig gewesen sei. Außerdem praktiziere der Mitbeteiligte seine Religion nicht und habe sich einen westlichen Lebensstil angeeignet. Insgesamt sei daher damit zu rechnen, dass dem Mitbeteiligten derartige Schwierigkeiten im Falle einer Rückkehr bereitet würden, die den Wiederaufbau einer Existenz verhinderten. Vor dem Hintergrund der festgestellten Lage könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte auch in „Kurdistan“ Aufnahme, eine Unterkunft und die Möglichkeit zur Deckung seiner Lebensbedürfnisse vorfänden, auch wenn eine seiner Schwestern in Suleimaniya lebe. Insgesamt könne vor dem Hintergrund einer näher genannten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes und den UNHCR-Richtlinien in Verbindung mit den getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak im konkreten Fall nicht davon ausgegangen werden, dass für den Mitbeteiligten irgendwo im Irak eine taugliche IFA vorliege. Beim Mitbeteiligten würden daher Umstände vorliegen, die die Zuerkennung von subsidiärem Schutz aufgrund der allgemeinen Lage in Kirkuk, aber auch in „Kurdistan“ hinsichtlich der humanitären Lage sowie der Sicherheitslage bezogen auf den IS und die türkischen Luftangriffe dort befindlicher PKK-Stellungen, erforderten.
7 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich ausdrücklich nur gegen die Spruchpunkte A) II. bis A) IV. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, das Bundesverwaltungsgericht weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes ab, weil die angespannte Sicherheitslage in Kirkuk alleine die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht tragen könne und die vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen, in der Person des Mitbeteiligten gelegenen, gefahrenerhöhenden Umstände - aus näher dargelegten Gründen - mit einem Begründungsmangel behaftet seien. Das Bundesverwaltungsgericht habe keine Feststellungen zur Annahme, dass Kirkuk nicht sicher zu erreichen sei, getroffen. Es habe den Umstand außer Acht gelassen, dass der Mitbeteiligte nach den Feststellungen bereits einmal (im Jahr 2013) zurück nach Kirkuk gezogen sei, dort in seinem Elternhaus habe leben können und einen Arbeitsplatz gefunden habe. Warum dies dem - nach den Feststellungen gesunden und arbeitsfähigen - Mitbeteiligten im Falle einer Rückkehr nach Kirkuk nunmehr nicht mehr möglich sein sollte, lege das Bundesverwaltungsgericht nicht dar. Des Weiteren zeige das Bundesverwaltungsgericht nicht auf, aufgrund welcher Feststellungen es zum Schluss komme, dass der Mitbeteiligte aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit für ein Security-Unternehmen von der allgemeinen Sicherheitslage stärker als andere Personen betroffen wäre; gleiches gelte auch für die Umstände der „westlichen Orientierung“ und der Nichtpraktizierung seiner Religion.
Auch mit der Annahme, dass dem Mitbeteiligten eine IFA in der Autonomen Region Kurdistan nicht zumutbar sei, weiche das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht ab. Das Bundesverwaltungsgericht habe einerseits die individuellen Umstände des Falls, wonach der Mitbeteiligte bereits in „Kurdistan“ gelebt habe und dort seinen Lebensunterhalt sichern habe können, und andererseits die „EASO Country Guidance Iraq“ außer Acht gelassen.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung - erwogen:
9 Die Amtsrevision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308, mwN).
11 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung in Bezug auf Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
13 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen.
14 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (zum Ganzen VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0255, Rz 21ff, mwN).
15 Im vorliegenden Fall ging das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass der Mitbeteiligte gesund und arbeitsfähig sei, über Schulbildung, einen Universitätsabschluss und Arbeitserfahrung verfüge sowie familiäre Anknüpfungspunkte im Irak habe.
Rückkehr in die Herkunftsregion
16 Das Bundesverwaltungsgericht verneinte jedoch die Möglichkeit einer Rückkehr des Mitbeteiligten in seine Herkunftsregion Kirkuk aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der in der Person des Mitbeteiligten gelegenen Umstände.
17 Für diese Annahme lässt sich dem Erkenntnis jedoch einerseits keine nachvollziehbare Begründung entnehmen. Andererseits hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Umstand außer Acht gelassen:
18 Das Bundesverwaltungsgericht begründete nicht nachvollziehbar, warum der Mitbeteiligte aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit für ein Security-Unternehmen ab dem 27. Dezember 2012 von der allgemeinen Sicherheitslage stärker betroffen wäre als die übrige Bevölkerung. Den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts ist zwar zu entnehmen, dass Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten würden, immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen seien. Aus diesen ergibt sich jedoch auch, dass die Gefährdung nach Ende der US-Besatzung im Irak [Anm: im Dezember 2011] und dem Aufstieg des IS zurückging (siehe Feststellungen S. 116).
Diesbezüglich weist die Amtsrevision zutreffend darauf hin, dass es nach der „EASO Country Guidance Iraq“ aus Juni 2019 keine aktuellen Berichte über eine Verfolgung von Personen, die für westliche Streitkräfte, Organisationen oder Unternehmen tätig gewesen seien, gebe und für diese derzeit im Allgemeinen keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen sei:
„There are no recent reports of targeting of individuals for reasons of their connection to Western armed forces, organisations, or companies.
(...)
There are no recent reports of acts of targeting of this profile, which would amount to persecution.
Therefore, in general, individuals under this profile are currently not considered to have a well-founded fear of persecution.“ (vgl. EASO Country Guidance Iraq aus Juni 2019, S. 61)
19 Auch hinsichtlich der Ausführungen zur „westlichen Orientierung“ und zu dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine Religion nicht praktiziere, begründete das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar, weshalb dem Mitbeteiligten eine Rückkehr nicht möglich wäre. Ebenso wenig sind dem Erkenntnis konkrete Feststellungen zur aktuellen Lebensweise des Mitbeteiligten zu entnehmen, die auf eine „westliche Lebensführung“ hindeuten würden.
20 Mit dem Umstand, dass der Mitbeteiligte bereits einmal (im Jahr 2013) zurück nach Kirkuk gezogen sei, dort in seinem Elternhaus gelebt und einen Arbeitsplatz gefunden habe, setzte sich das Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht auseinander. Eine Begründung dafür, warum dies dem nach den Feststellungen gesunden und arbeitsfähigen Mitbeteiligten, dessen Familienangehörige nach wie vor im Elternhaus in Kirkuk leben und mit denen der Mitbeteiligte in regelmäßigem Kontakt steht, im Falle einer Rückkehr nach Kirkuk nunmehr nicht mehr möglich sein solle, ist dem Erkenntnis nicht zu entnehmen.
Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative
21 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer innerstaatlichen Fluchtalternative deren Inanspruchnahme auch zumutbar ist, sprechen zu können. Demzufolge hat die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. zum Ganzen VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN).
22 Wird von der Behörde - im Beschwerdeverfahren: vom Verwaltungsgericht - nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht, so obliegt es dem Asylwerber, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, Rn. 39, mwN).
23 Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass sich das Bundesverwaltungsgericht auch mit den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen“ von Mai 2019 sowie den Vorgaben der „Country Guidance: Iraq“ von Juni 2019 in adäquater Weise auseinanderzusetzen hat (vgl. erneut VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, Rn. 42 ff, mwN).
24 Das Bundesverwaltungsgericht traf Ausführungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Autonomen Region Kurdistan und hielt insbesondere fest, dass Rückkehrer aus dem Ausland, deren Asylanträge abgewiesen worden seien, in Erbil und Suleimaniya im Fall einer Rückkehr Schwierigkeiten hätten, falls sie kein unterstützendes familiäres Netzwerk hätten. Es führte auch ins Treffen, dass nach Ansicht des UNHCR zwar im Allgemeinen keine IFA in „Kurdistan“ zur Verfügung stehe, jedoch Ausnahmen bestünden.
25 Das Bundesverwaltungsgericht stützte seine Annahme, dem Mitbeteiligten stehe in „Kurdistan“ keine IFA offen, auf die dortige humanitäre Lage und die Sicherheitslage. Es kam zu dem Ergebnis, dass vor dem Hintergrund einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes, der UNHCR-Richtlinien und der festgestellten, allgemeinen Lage im Irak nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Mitbeteiligte auch in „Kurdistan“ Aufnahme, eine Unterkunft und die Möglichkeit zur Deckung seiner Lebensbedürfnisse vorfinden würde, auch wenn eine seiner Schwestern in Suleimaniya lebe.
26 Das Bundesverwaltungsgericht führte beweiswürdigend zwar aus, dass der UNHCR grundsätzlich die Ansicht vertritt, eine IFA sei in der Autonomen Region Kurdistan generell nicht zumutbar, jedoch eine Ausnahme statuiere (S. 146 der deutschen Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen“ von Mai 2019). Das Bundesverwaltungsgericht legte im Erkenntnis nicht konkret dar, warum der junge, gesunde und arbeitsfähige Mitbeteiligte nicht zu dieser Gruppe gehören sollte.
27 Hinsichtlich der Verneinung einer IFA hat das Bundesverwaltungsgericht auch weitere wesentliche Umstände außer Acht gelassen:
Mit dem Umstand, dass sich der Mitbeteiligte bereits in Erbil in „Kurdistan“ gelebt und gearbeitet habe, setzte sich das Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht auseinander. Es fehlt jegliche Begründung dafür, warum ihm dies nicht wieder zumutbar wäre. Ebenso wenig setzte sich das Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar damit auseinander, dass seine Schwester, mit der der Mitbeteiligte in regelmäßigem Kontakt steht, in Suleimaniya lebt.
28 Zudem zeigt die Revision zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht die „EASO Country Guidance Iraq“ vom Juni 2019 unberücksichtigt gelassen hat, welche die Inanspruchnahme einer IFA u.a. in Erbil für alleinstehende, arbeitsfähige Männer mit entsprechendem ethnischen und religiösen Hintergrund grundsätzlich auch ohne ein ihn unterstützendes Netzwerk als zumutbar erachten.
„Taking into account the ethno-religious background of the applicant, it could be substantiated that IPA in the cities of Baghdad, Basrah, Erbil would be reasonable for single able-bodied men and married couples without children, who have identification documents and have no additional vulnerabilities, including when they do not have a support network. [...]
Although the situation related to settling in the three cities entails certain hardships, it can still be concluded that such applicants would be able to ensure their basic subsistence, housing, shelter and hygiene, and access to basic healthcare.“ (vgl. EASO Country Guidance Iraq vom Juni 2019, S. 138)
Im fortgesetzten Verfahren wird sich das Bundesverwaltungsgericht auch damit auseinanderzusetzen haben.
29 Im Ergebnis hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall wesentliche Umstände außer Acht gelassen und anhand der von ihm letztlich herangezogenen Umstände überdies nicht nachvollziehbar begründet, warum dem Mitbeteiligten die Rückkehr in seine Herkunftsregion Kirkuk nicht möglich und die Inanspruchnahme einer IFA nicht zumutbar wären.
30 Da das Bundesverwaltungsgericht im Fall einer mängelfreien Begründung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis im Umfang seiner Anfechtung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
31 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten kein Ersatz seiner Aufwendungen für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen, weil gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Mitbeteiligte einen Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision haben.
Wien, am 23. September 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140134.L00Im RIS seit
23.11.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020