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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Schindler sowie den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Oktober 2019, W178 2191841-1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X Y, vertreten durch Dr. Joachim Rathbauer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Weißenwolffstraße 1/4/23), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 14. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er zusammengefasst damit begründete, aufgrund seiner Tätigkeit für die deutsche NGO „Mediothek“ von den Taliban als Ungläubiger bezeichnet, zur Kündigung aufgefordert und mit dem Tod bedroht worden zu sein.
2 Mit Bescheid vom 14. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 31. Oktober 2019 nach Durchführung einer Verhandlung insoweit statt, als sich diese gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtete. Es erkannte ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 diesen Status zu, stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass dem Mitbeteiligten kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme, und behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides. Unter einem wurde ausgesprochen, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - aus, der Mitbeteiligte habe in Afghanistan mit seiner Partnerin in einer der Ehe entsprechenden Form bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 als Familie zusammengelebt. Aus der „Ehe“ seien drei Kinder hervorgegangen, die derzeit zehn, acht und sechs Jahre alt seien. Die Familie lebe nun im Iran. Der vom Mitbeteiligten vorgebrachte Fluchtgrund sei glaubhaft gemacht worden und auch asylrelevant. Die Rückkehr des Mitbeteiligten in seine Herkunftsprovinz sei ausgeschlossen. Es kämen jedoch die Städte Herat, Mazar-e Sharif und Kabul als interne Schutzalternative in Frage. Ob eine Flucht- oder Neuansiedelungsalternative zumutbar sei, müsse im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers beurteilt werden. Nach Einschätzung des UNHCR in den Richtlinien zu Afghanistan komme Kabul sowohl aus Relevanz- als auch aus Zumutbarkeitsgründen als interne Schutzalternative nicht in Frage. Es kämen daher noch die Städte Mazar-e Sharif und Herat in Betracht, wobei die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme der internen Schutzalternative im Hinblick auf die Situation des Mitbeteiligten als Familienvater zu prüfen sei.
5 Der Mitbeteiligte sei Vater von drei minderjährigen Kindern. Er habe mit der Mutter seiner Kinder und den Kindern seit deren Geburt als Familie zusammengelebt. Es stehe ihm und seinen Kindern sowie seiner Partnerin nach Art. 8 EMRK zu, ein gemeinsames Familienleben „wieder aufzunehmen“. Die Prüfung der Neuansiedelungs- bzw. Fluchtalternative habe daher unter Einbeziehung der Kinder zu erfolgen. Es sei die Möglichkeit, ein Leben mit den Kindern in einer Stadt wie Herat oder Mazar-e Sharif aufzubauen, zu prüfen, und dabei das Kindeswohl als vorrangiger Gesichtspunkt zu beachten. Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen arbeitsfähigen und jungen Mann, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Er sei aber - wie dargelegt - nicht alleinstehend. Der Mitbeteiligte und seine Familie hätten in den genannten Städten kein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk. Die Unterstützung durch die Familie „aus der Ferne“ sei als nicht möglich einzuschätzen. Der Mitbeteiligte sei durch seine Arbeit bei einer NGO selbst eine Stütze der Familie gewesen.
6 Die Einschätzung, dass ein Verweis auf eine innerstaatliche Fluchtalternative für einen gesunden und erwerbsfähigen jungen Mann und ein solches Paar auch ohne Netzwerk zulässig sei, sei als Ausnahme vom Erfordernis der Existenz eines solchen Netzwerks zu sehen und daher einschränkend „auszulegen“. Die angespannte soziale Lage in den genannten Städten schaffe keine geeignete Lebensumgebung für die minderjährigen Kinder des Mitbeteiligten. Für ihn als Familienvater und mittelbar für seine Kinder sei diese Alternative auf Basis der Länderberichte nicht gegeben.
7 Im Besonderen ergebe sich aus den Richtlinien des UNHCR, dass sich über 54 % der Binnenvertriebenen in den afghanischen Provinzhauptstädten aufhielten, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur erhöhe und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärke. Dazu komme, dass Neuankömmlinge ohne soziales Netz auf schlechte Unterkünfte angewiesen und einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit im täglichen Leben ausgesetzt seien. Die Familie des Mitbeteiligten würde sich sowohl in Mazar-e Sharif als auch in Herat in einer derartigen Lage befinden. Dies sei im Besonderen den Kindern nicht zumutbar. Die Voraussetzungen für eine interne Fluchtalternative lägen somit nicht vor, weshalb dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.
8 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision, in der beantragt wird, das Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
9 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, es fehle Rechtsprechung zur Frage, ob die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative auch für Familienmitglieder, die sich nicht in Österreich befänden und nicht Asylwerber seien, zu prüfen sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe im vorliegenden Fall die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht in Bezug auf den Mitbeteiligten, der Antragsteller und Partei des Asylverfahrens sei, geprüft, sondern in Bezug auf die Familienmitglieder des Mitbeteiligten. Diese hielten sich weder im Bundesgebiet auf, noch hätten sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sie seien auch nicht Parteien des Verfahrens über den vom Mitbeteiligten gestellten Antrag gewesen. Auch wenn der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten habe, dass die besondere Vulnerabilität und Lage von minderjährigen Kindern bei der Prüfung nach § 11 AsylG 2005 und der ähnlichen Prüfung nach § 8 AsylG 2005 zu berücksichtigen sei, so gehe das fallbezogen über den Rahmen des § 11 Abs. 2 AsylG 2005 und des Art. 8 Abs. 2 der Statusrichtlinie hinaus. Nach diesen Bestimmungen sei zu prüfen, ob dem Asylwerber die Inanspruchnahme einer Fluchtalternative zugemutet werden könne. Dass die Zumutbarkeit einer Neuansiedelung der Familienmitglieder eines Asylwerbers, die selbst nicht Asylwerber seien und sich nicht in Österreich aufhielten, im ins Auge gefassten Gebiet im Rahmen der Antragsentscheidung über die Frage der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zu prüfen wäre, und dass eine allfällige Unzumutbarkeit einer Neuansiedelung für diese Angehörigen auch zu einer Verneinung der Fluchtalternative für den Asylwerber selbst führe, ergebe sich aus den genannten Bestimmungen oder der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht.
10 Im Rahmen des vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahrens erstattete der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
12 Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zum in der Revision angesprochenen Thema zulässig. Sie ist auch begründet, weil das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.
13 § 3 AsylG 2005 lautet:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
...
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht
...“
14 § 11 AsylG 2005 lautet:
„Innerstaatliche Fluchtalternative
§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.“
15 Mit den Voraussetzungen für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Jänner 2018, Ra 2018/18/0001, näher befasst und zum Ausdruck gebracht, dass § 11 AsylG 2005 nach seinem klaren Wortlaut zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative unterscheidet. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Zum anderen setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit des Aufenthaltes ist daher von der Frage der Schutzgewährung in diesem Gebiet zu trennen. Selbst wenn in dem betreffenden Gebiet also keine Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen (oder auf Grund derer andere Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfüllt wären), wäre eine innerstaatliche Fluchtalternative bei Unzumutbarkeit des Aufenthaltes in diesem Gebiet zu verneinen.
16 Wie der Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Erkenntnis Ra 2018/18/0001 auch klargemacht hat, handelt es sich bei der „Zumutbarkeit“ um ein eigenständiges Kriterium, dem neben Art. 3 EMRK Raum gelassen wird. Wird durch die Behörde nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht, so obliegt es aber dem Asylwerber, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen.
17 Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur auch zu erkennen gegeben, dass der Prüfmaßstab der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative den Umstand widerspiegelt, dass ein Asylwerber, der nicht in seine Herkunftsprovinz zurückkehren kann, in der Regel in einem Gebiet einer in Betracht gezogenen innerstaatlichen Fluchtalternative nicht über dieselben finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen sowie lokale Kenntnisse und soziale Netzwerke verfügen wird, wie an seinem Herkunftsort und somit eine zusätzliche Prüfung stattzufinden hat, ob die Ansiedelung in dem vorgeschlagenen Gebiet auch zumutbar ist (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221).
19 Im Sinn einer unionsrechtskonformen Auslegung ist das Kriterium der „Zumutbarkeit“ nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie), dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen. Es soll die Frage der Zumutbarkeit danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslandes verfolgte oder von ernsthaften Schäden (im Sinn des Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ führen kann. Dabei ist gemäß § 11 Abs. 2 AsylG 2005 auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (vgl. erneut das genannte Erkenntnis VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN). Dass bei der Frage der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf diese beiden Kriterien Bedacht zu nehmen ist, verdeutlichen auch die Erläuterungen zu § 11 AsylG 2005 (RV 952 BlgNR 22. GP, 39f), in denen zum Ausdruck kommt, dass bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftsstaates die genannten Voraussetzungen erfüllt, „nur die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers“ zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen sind. Bei der Beurteilung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, deren Inanspruchnahme auch zumutbar ist, handelt es sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 30.3.2020, Ra 2020/14/0020, mwN).
20 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, es seien bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative die Kriterien für die im Heimatland angestrebte Familienzusammenführung im Sinn des Art. 8 EMRK heranzuziehen, als verfehlt.
21 Wie die Revision zutreffend ausführt, reiste der Mitbeteiligte im Jahr 2015 ohne seine Familie in das Bundesgebiet ein und stellte (allein) einen Antrag auf internationalen Schutz. Die nun vom Bundesverwaltungsgericht in die Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative gezogenen Familienmitglieder, die (nach wie vor) im Iran aufhältig sind, stellten keinen Antrag auf internationalen Schutz. Unzweifelhaft waren weder die Kinder des Mitbeteiligten noch deren Mutter Parteien im Asylverfahren des Mitbeteiligten.
22 Für die vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Prüfung unter dem „Aspekt der Zumutbarkeit der Lebensbedingungen für die Kinder“ und die damit einhergehende Ausdehnung der Prüfung bietet § 11 Abs. 2 AsylG 2005 keine Grundlage. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidungen die Situation von Kindern betrafen, die selbst Antragsteller und damit Parteien des (von ihnen angestrengten) Verfahrens waren.
23 Es sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftsstaates die in § 11 AsylG 2005 genannten Voraussetzungen erfüllt, (nur) die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz zu berücksichtigen. Es ist somit bei der Entscheidung allein die Situation jenes Fremden, der in Österreich Schutz gesucht hat, einer näheren Prüfung zu unterziehen. Nur in Bezug auf seine Rückkehr in das Heimatland ist nämlich aufgrund des von ihm gestellten Antrages die Beurteilung vorzunehmen, ob die Rückführung in jenen Teil des Staates zulässig ist, der als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht zu ziehen ist. Hingegen hat eine solche Beurteilung in Bezug auf andere nicht in Österreich aufhältige (und auch nicht am Verfahren des Asylwerbers beteiligte) Personen nicht Platz zu greifen. Zu Recht verweist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl darauf, dass in einem Fall, wie er hier vorliegt, auch die besondere Vulnerabilität von Minderjährigen keine maßgebliche Rolle spielt, weil sich die Kinder des Mitbeteiligten weder in Österreich aufhalten noch von einer behördlichen Maßnahme, die von einer österreichischen Behörde gesetzt wird, betroffen sind.
24 Auch die Bedachtnahme auf Art. 8 EMRK führt zu keinem anderen Ergebnis, weil die Frage, ob sich die Rückführung eines Fremden, der (erfolgslos) in Österreich internationalen Schutz begehrt hat, im Sinn des Art. 8 EMRK als (un-)verhältnismäßig darstellt, im Rahmen der Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig ist, zu klären ist (vgl. § 9 Abs. 1 BFA-VG). Zur Vermeidung von Missverständnissen ist mit Blick auf das fortzusetzende Verfahren allerdings bereits an dieser Stelle anzumerken, dass der Mitbeteiligte nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen in Österreich über keine Familienangehörigen verfügt, weshalb die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen ihn keinen Eingriff in sein Familienleben darstellen würde.
25 Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin die Rechtslage verkannt, indem es bei seiner Entscheidung einen Prüfmaßstab angelegt hat, den das Gesetz nicht vorsieht. Damit ist das Bundesverwaltungsgericht auch von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
26 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten kein Ersatz seiner Aufwendungen für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen, weil gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Mitbeteiligte einen Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision haben.
Wien, am 23. September 2020
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140600.L00Im RIS seit
23.11.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020