Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann und die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K*****, vertreten durch Dr. Gerhard Hiebler und Dr. Gerd Grebenjak, Rechtsanwälte in Leoben, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. April 2020, GZ 6 Rs 20/20p-10, womit das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 9. Jänner 2020, GZ 23 Cgs 220/19v-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Klägerin und die Beklagte haben die Kosten des Revisionsverfahrens jeweils selbst zu tragen.
Text
Begründung:
[1] Die Klägerin beantragte am 4. 10. 2017 anlässlich der Geburt ihrer Tochter (22. 9. 2017) das Kinderbetreuungsgeld in der Pauschalvariante „718“. Nach dem Auslaufen des Wochengeldbezugs am 15. 12. 2017 erhielt sie das Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 16. 12. 2017 bis 9. 9. 2019 in Höhe von 25,83 EUR täglich.
[2] Am 11. 6. 2019 stellte die Klägerin den Antrag auf Änderung der Kinderbetreuungsgeld-Pauschalvariante auf „648“. Dieser Antrag langte noch am selben Tag (Dienstag, 11. 6. 2019) bei der beklagten Partei ein. Rein rechnerisch war die in § 5a Abs 2 KBGG für einen Änderungsantrag vorgesehene 91-tägige Frist vor Ablauf der ursprünglich beantragten Anspruchsdauer (gerechnet vom 9. 9. 2019 als dem letzten Tag der bei der Erstantragstellung gewählten Anspruchsdauer) am 10. 6. 2019 abgelaufen. Der 10. 6. 2019 war ein gesetzlicher Feiertag (Pfingstmontag).
[3] Mit Bescheid vom 19. 7. 2019 wies die Wiener Gebietskrankenkasse den Antrag der Klägerin auf Änderung der Kinderbetreuungsgeld-Pauschalvariante ab: Der Änderungsantrag sei erst einen Tag nach Ablauf der 91-tägigen Frist eingelangt.
[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Feststellung, dass der Anspruch der Klägerin auf Änderung der Bezugsdauer des Kinderbetreuungsgeldes zu Recht bestehe, ab. Ein Antrag auf Änderung der Anspruchsdauer sei gemäß § 5a Abs 2 KBGG bis spätestens 91 Tage vor Ablauf der ursprünglich beantragten Anspruchsdauer möglich. Dabei handle es sich um eine rückgerechnete Frist, bei der § 903 dritter Satz ABGB „spiegelbildlich“ anzuwenden sei. Daraus folge, dass die Frist mit dem vorangehenden Werktag (mit Freitag, dem 7. 6. 2019) geendet habe. Der Antrag der Klägerin sei verspätet.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge. Es billigte die Rechtsausführungen des Erstgerichts, dass § 903 dritter Satz ABGB anzuwenden sei, weil sich andernfalls die Frist verkürze. Ende die Frist am vorangehenden Werktag, sei der 91-tägige Abstand zum fristauslösenden Ereignis gewahrt. Auch in der Lehre würde überwiegend die „spiegelbildliche“ Anwendung des § 903 dritter Satz ABGB auf rückgerechnete Fristen vertreten.
[6] Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dazu fehle, ob im Fall rückgerechneter materiell-rechtlicher Fristen § 903 dritter Satz ABGB „spiegelbildlich“ anzuwenden sei.
Rechtliche Beurteilung
[7] Die Revision der Klägerin ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts – mangels einer die für den Ausgang des Verfahrens entscheidungswesentlichen Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO, nicht zulässig.
[8] 1.1 Gemäß § 5a Abs 2 KBGG ist eine spätere Änderung der festgelegten Anspruchsdauer nur einmal pro Kind und nur bis spätestens 91 Tage vor Ablauf der ursprünglich beantragten Anspruchsdauer möglich.
[9] 1.2 Bei der Frist des § 5a Abs 2 KBGG handelt es sich um eine sogenannte „rückgerechnete“ Frist. Der Ablauf der ursprünglich beantragten Anspruchsdauer stellt das fristauslösende Ereignis dar, von dem ausgehend dem Krankenversicherungsträger ein Rahmen von (mindestens) 91 Tagen für die Bearbeitung des Änderungsantrags zur Verfügung stehen muss. Rückwärtsfristen dienen – anders als vorwärtsberechnete Fristen – dem Schutz des Erklärungsgegners, dem ein gewisser Mindestzeitraum zwischen der Handlung und dem Eintritt der Folge zur Vorbereitung zur Verfügung stehen soll. Für den Handelnden selbst läuft keine Frist (Kolmasch, Die Rückwärtsberechnung von materiell-rechtlichen Fristen, Zak 2014/452, 246 [248]).
[10] 2.1 Nach den Gesetzesmaterialien zu § 5a KBGG ist die Frist des § 5a Abs 2 KBGG als materiell-rechtliche Frist zu qualifizieren. Der Änderungsantrag muss rechtzeitig vor Ablauf der 91-Tagesfrist beim Krankenversicherungsträger einlangen (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 7).
[11] 2.2 Zutreffend hat das Berufungsgericht diese Frist daher (ausschließlich) als materiell-rechtliche Frist qualifiziert. Die Frist ist daran gebunden, dass das Verfahren über den Abänderungsantrag eingeleitet wird; an die Versäumung der Frist knüpft das Gesetz die materielle Rechtsfolge des Verlusts des Anspruchs auf Geltendmachung einer geänderten Anspruchsdauer (RIS-Justiz RS0038465 [T1]; VwGH 2008/22/0348 ua; siehe auch 10 ObS 125/19h = RS0132835 zur Frist des § 3 Abs 3 Satz 2 FamZeitbG).
[12] 3. Die Annahme der Revisionswerberin, die Frist des § 5a Abs 2 KBGG komme dennoch einer verfahrensrechtlichen Frist nahe, weil der Gesetzgeber mit der Festsetzung der (willkürlich erscheinenden) Tageszahl von 91 bezwecken habe wollen, dass zwischen Antragstellung und Ablauf der Frist zumindest 90 Tage liegen, findet im (eindeutigen) Wortlaut des § 5a KBGG und den Gesetzesmaterialien keine Stütze. Eine prozessuale Frist würde voraussetzen, dass sie entweder durch ein Verfahren ausgelöst wird oder in einem Verfahren läuft (RS0038465; RS0007134 [T3]; VfGH B 1426/99 VfSlg 16461/2002 mwH).
[13] 4.1 Rein rechnerisch ergibt sich unstrittig der 10. 6. 2019 (Pfingstmontag) als letztmöglicher Tag für das Einlangen eines Änderungsantrags. Im Hinblick darauf, dass dieser Tag ein Ruhetag ist, ist zu prüfen, wie sich die Sonn- und Feiertagsruhe auswirkt:
[14] 4.2 Der Ablauf einer materiell-rechtlichen Frist des Verwaltungsrechts ist in analoger Anwendung der §§ 902 ff ABGB zu ermitteln, soweit es an spezifischen verwaltungsrechtlichen Regeln mangelt (1 Ob 9/03k = RS0117587).
[15] 4.3 Spezifische verwaltungsrechtliche Regelungen bestehen im vorliegenden Fall nicht. Im KBGG findet sich keine Bestimmung zur Berechnung der Frist des § 5a Abs 2 KBGG. § 25a KBGG iVm § 360 Abs 1 ASVG verweist für die Vollziehung des KBGG grundsätzlich auf die Bestimmungen des AVG. Die die Berechnung von Fristen regelnden §§ 32 und 33 AVG sind jedoch auf materiell-rechtliche Fristen weder unmittelbar noch analog anwendbar (VfGH A5/68 VfSlg 5814/1968; VfGH B454/79 VfSlg 8906/1980; Hengstschläger/Leeb, AVG § 32 Rz 6). Die gegenteilige Ansicht von Burger-Ehrnhofer (in KBGG und FamZeitbG3 § 5a KBGG Rz 9), nach der die §§ 32 Abs 1 und 33 AVG auch auf die Frist des § 5a Abs 2 KBGG anwendbar sein sollen, bleibt ohne Begründung.
[16] 4.4 Dass das Europäische Übereinkommen über die Berechnung von Fristen auf dem Gebiet des Zivil-, Handels- und Verwaltungsrechts für Rückwärtsfristen nicht anwendbar ist (Art 1 Abs 1 dieses Übereinkommens), wird im Revisionsverfahren nicht mehr angezweifelt.
[17] 5.1 § 903 dritter Satz ABGB sieht vor, dass dann, wenn der für die Abgabe einer Erklärung oder für eine Leistung bestimmte letzte Tag auf einen Sonntag oder anerkannten Feiertag fällt, an dessen Stelle (vorbehaltlich gegenteiliger Vereinbarung) der nächstfolgende Werktag tritt. Normiert wird eine Ablaufhemmung für materiell-rechtliche (vorwärtsberechnete) Fristen des Privatrechts (Bollenberger/P. Bydlinski in KBB6 § 903 Rz 3). Derjenige, der fristgebunden handeln muss, soll davor bewahrt werden, entweder an einem Ruhetag tätig werden zu müssen oder die Frist nicht vollständig ausnützen zu können (Kolmasch, Die Rückwärtsberechnung von materiell-rechtlichen Fristen, Zak 2014/452, 246 [248]). Demgegenüber handelt es sich bei § 5a Abs 2 KBGG um eine Frist, die zurückgerechnet wird, sodass eine andere Interessenslage gegeben ist.
[18] 5.2 § 903 Satz 3 ABGB gilt zudem nur, soweit nicht im Einzelfall etwas anderes gewollt ist. Davon Abweichendes kann nicht nur durch Parteienvereinbarung, sondern auch durch das Gesetz bestimmt werden (4 Ob 26/75 DRdA 1976, 338 [Grillberger] mwN).
[19] 6.2 Unter Hinweis darauf, dass die Kündigungsfrist und die Probefrist dem Dienstnehmer in jedem Fall unverkürzt gewahrt bleiben soll (§ 20 iVm mit § 40 AngG; § 19 Abs 2 AngG), wurde von der Rechtsprechung die (direkte) Anwendung des § 903 Satz 3 ABGB für die Kündigung eines dem Angestelltengesetz unterliegenden Dienstverhältnisses und auch für die Lösung eines Probearbeitsverhältnisses abgelehnt. Eine Kündigung, die (rechnerisch) spätestens an einem Sonntag oder gesetzlichen Feiertag ausgesprochen werden und dem Dienstnehmer zukommen muss, ist nicht an dem diesem Sonntag oder Feiertag nächstfolgenden Werktag nachholbar. Fällt das Ende der Probefrist auf einen Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, kann die Lösung des Probearbeitsverhältnisses nur bis zu diesem Zeitpunkt und nicht am folgenden Werktag erklärt werden (4 Ob 18/75 SZ 48/48 = ZAS 1976/2, 20 [Iro] und 4 Ob 26/75 DRdA 1976, 338 [Grillberger]; 8 ObA 286/94 = RS0028899).
[20] 7.1 Ähnliches gilt für die Frist des § 5a Abs 2 KBGG:
[21] Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Änderungsantrag bei der Beklagten so rechtzeitig einlangen muss, dass die in § 5a Abs 2 KBGG vorgesehene Frist von (mindestens) 91 Tagen dem Krankenversicherungsträger auf jeden Fall ungekürzt gewahrt bleibt. Die Frist muss in voller Länge zur Bearbeitung des Änderungsantrags beim Krankenversicherungsträger zur Verfügung stehen (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 7). Ausgehend davon ist zu prüfen, ob der Änderungsantrag der Klägerin (der für die Einbringung des Änderungsantrags länger als ein Jahr zur Verfügung gestanden ist), rechtzeitig erfolgt ist.
[22] 7.2 Auch wenn der 10. 6. 2019 als letztmöglicher Tag für das Einlangen eines Änderungsantrags ein Ruhetag ist, würde eine wirksame Antragstellung am nächstfolgenden Werktag (Dienstag, 11. 6. 2019), zu einer Verkürzung der 91-tägigen (Bearbeitungs-)Frist zu Lasten des Krankenversicherungsträgers führen. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zur beschriebenen Absicht des Gesetzgebers. Der Änderungsantrag war daher am 11. 6. 2019 nicht mehr nachholbar und ist deshalb verspätet.
[23] 8.1 Im Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts wird darauf Bezug genommen, dass nach überwiegender Lehre § 903 Satz 3 ABGB bei einer zurückgerechneten Frist „spiegelbildlich“ anzuwenden ist. Nicht der nächstfolgende Werktag (wie bei Vorwärtsfristen), sondern der vorangehende Werktag soll der letzte Tag für die Abgabe der Erklärung oder für die Leistung sein (Reischauer in Rummel/Lukas, ABGB4 § 902 ABGB Rz 33 f; Kietaibl in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.05 § 903 Rz 12; Binder/Kolmasch in Schwimann/Kodek ABGB-Praxiskommentar4 § 903 Rz 27; Aichberger-Beig in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 903 Rz 20). Dieser Ansicht liegt zugrunde, dass die fristwahrende Handlung nicht an einem Ruhetag als an sich letztem Tag vorgenommen werden kann und die zurückgerechnete Frist einen bestimmten zeitlichen Abstand zum Endtermin gewährleisten soll; aus diesem Grund ist die Frist im Interesse des Empfängers zu verlängern (aA Kolmasch, Die Rückwärtsberechnung von materiell-rechtlichen Fristen, Zak 2014/452, 246 [248 f], der die Ansicht vertritt, die Sonn- und Feiertagsruhe wirke sich generell bei allen Rückwärtsfristen weder fristverlängernd noch fristverkürzend aus).
[24] 8.2 In den bereits zitierten Entscheidungen 4 Ob 18/75 und 4 Ob 26/75 wurde mit dem Hinweis, dass die Kündigung jedenfalls verspätet erfolgt sei, offengelassen, ob die Kündigung bereits am letzten, dem Sonntag oder gesetzlichen Feiertag vorangehenden Werktag erfolgen hätte müssen.
[25] 8.3 Im Hinblick darauf, dass der am 11. 6. 2019 gestellte (und bei der Beklagten eingelangte) Änderungsantrag jedenfalls verspätet ist, muss auch im vorliegenden Fall nicht abschließend beantwortet werden, ob aus der Ablehnung der (direkten) Anwendung der Bestimmung des § 903 Satz 3 ABGB folgt, dass der Änderungsantrag („spiegelbildlich“) bereits an dem dem Pfingstmontag vorangehenden Werktag (am Freitag, 7. 6. 2019) bei der Beklagten einlangen hätte müssen. Die vom Berufungsgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage, ob der letzte Tag für die Abgabe eines Änderungsantrags in analoger Anwendung des § 903 Satz 3 ABGB „spiegelbildlich“ zu ermitteln sei, ist für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits demnach nicht entscheidungswesentlich (RS0088931 [T8]).
[26] 9. Die Revision ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
[27] Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Klägerin auf § 77 Abs 1 Z 1 lit b ASGG. Umstände, die einen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen können, wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage. Eine Pauschalgebühr fällt in Sozialrechtssachen nicht an (§ 80 ASGG). Der Versicherungsträger hat seine Kosten des Verfahrens unabhängig vom Verfahrensausgang selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG).
Textnummer
E129402European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00090.20P.0901.000Im RIS seit
21.10.2020Zuletzt aktualisiert am
13.01.2021