TE Vwgh Erkenntnis 2020/9/23 Ra 2020/01/0170

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.09.2020
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des F H in W, vertreten durch Dr. Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März 2020, Zl. W279 1427424-4/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit Bescheid des (damals zuständigen) Bundesasylamtes vom 22. November 2012 wurde dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

2        Die Aufenthaltsberechtigung wurde wiederholt, zuletzt mit Bescheid der belangten Behörde (BFA) vom 6. Dezember 2016 verlängert.

3        Mit Bescheid der belangten Behörde vom 10. Dezember 2018 wurde dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt, sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt.

4        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das BVwG zusammengefasst und soweit für die vorliegende Revision relevant aus, die subjektive Lage des Revisionswerbers habe sich im Vergleich zum Zuerkennungsbescheid bzw. dem Zeitpunkt der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung geändert.

6        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem ein Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes über die Voraussetzungen der Unterlassung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG sowie das gänzliche Fehlen von Länderfeststellungen geltend macht.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:

10       Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 9.3.2020, Ra 2019/01/0499, mwN).

11       Die Heranziehung des zweiten Tatbestandes des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 setzt voraus, dass sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes beziehungsweise der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) geändert hat (vgl. VwGH 18.3.2020, Ra 2019/20/0590 mit Hinweis auf VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353, jeweils mwN).

12       Ausgehend von der unrichtigen Rechtsansicht der belangten Behörde, wonach es auf eine Änderung der Lage seit dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ankomme, hat es diese verabsäumt, Feststellungen dazu zu treffen, inwiefern sich die Lage des Revisionswerbers im Vergleich zum Zeitpunkt der letztmaligen Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung verändert hat. Damit kann aber im vorliegenden Fall keine Rede davon sein, dass der entscheidungswesentliche Sachverhalt vom BFA vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden wäre.

13       Insgesamt durfte das BVwG daher im Revisionsfall nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern es hätte nach den dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

14       Darüber hinaus enthält das angefochtene Erkenntnis auch keine Länderfeststellungen. Das BVwG hat lediglich disloziert in der Beweiswürdigung beziehungsweise rechtlichen Beurteilung punktuelle Aussagen über die Situation in Afghanistan getroffen und sich bloß pauschal mit dem Beschwerdevorbringen, die von der belangten Behörde verwendeten Länderberichte seien unvollständig und unrichtig, auseinandergesetzt. Es wird somit schon infolge des gänzlichen Fehlens von für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Feststellungen zur Lage in Afghanistan der Anforderung, dass jedenfalls die wesentlichen Punkte der diesbezüglichen Feststellungen in der Begründung der Entscheidung eines Verwaltungsgerichts selbst enthalten sein müssen, nicht entsprochen und maßgeblich gegen die die Verwaltungsgerichte treffende Begründungspflicht verstoßen. Damit ist es dem Verwaltungsgerichtshof nicht möglich, die angefochtenen Entscheidungen in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2016/20/0291 bis 0292; 23.1.2019, Ra 2018/19/0391, jeweils mwN).

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16       Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. September 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010170.L00

Im RIS seit

02.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

02.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten