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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §45 Abs3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und die Hofräte Dr. Grünstäudl und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des T P in M, vertreten durch Hawel Eypeltauer Gigleitner Huber & Partner, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Lederergasse 18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Februar 2019, Zl. L517 2192866-1/9E und L517 2193329-1/8E, betreffend Festsetzung des Grades der Behinderung und Zusatzeintragung in den Behindertenpass (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 1.1. Der Revisionswerber stellte einen mit 15. September 2017 datierten Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses und auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ in den Behindertenpass.
2 Die belangte Behörde holte ein Gutachten bei einem allgemeinmedizinischen Sachverständigen ein. Im Gutachten vom 13. November 2017 kommt der Sachverständige zum Ergebnis, beim Revisionswerber bestünden infolge eines Motorradunfalls zwei Funktionsbeeinträchtigungen, denen jeweils ein spezifischer Grad der Behinderung zugeordnet wird (Zustand nach mehrfacher Wirbelkörperfraktur, Plexusschädigung linker Arm, Pos.Nr. 02.01.03: 60%; Einschränkung Kniegelenk, Pos.Nr. 02.05.18: 20%). Als Gesamtgrad der Behinderung wird im Gutachten 60% angegeben.
3 Mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 teilte die belangte Behörde dem Revisionswerber mit, es sei auf Grund des medizinischen Ermittlungsverfahrens ein Grad der Behinderung von 60% festgestellt worden. Ein Behindertenpass werde ihm übermittelt werden.
4 Mit Bescheid vom 12. Dezember 2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers auf die genannte Zusatzeintragung unter Verweis auf das Sachverständigengutachten ab.
5 Der Revisionswerber erhob eine Beschwerde sowohl gegen den Behindertenpass als auch gegen die Abweisung des Antrages auf Vornahme der genannten Zusatzeintragung und beantragte eine mündliche Verhandlung.
6 Die belangte Behörde holte im verwaltungsgerichtlichen Vorverfahren ein Gutachten eines chirurgischen Sachverständigen ein. Im Gutachten vom 13. März 2018 kommt der Sachverständige zum Ergebnis, beim Revisionswerber bestünden drei Funktionsbeeinträchtigungen, denen jeweils ein spezifischer Grad der Behinderung zugeordnet wird (Zustand nach Fraktur des 3.-5. Brustwirbels, Pos.Nr. 02.01.03: 50%; Spinale Lähmung - Querschnittssyndrom, Plexusläsionen linker Oberarm, Inkomplette Querschnittssymptomatik linke untere Extremität, PosNr. 04.03.02: 50%; Schließmuskelschwäche geringen Grades, Pos.Nr. 07.04.15: 10%). Als Gesamtgrad der Behinderung wird im Gutachten 70% angegeben.
7 Betreffend die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird im Gutachten Folgendes ausgeführt:
„Der Antragsteller [ist] in seiner Gehleistung nicht höhergradig eingeschränkt. Es ist ihm möglich, eine Wegstrecke über 400 m aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe, ohne Gehhilfe zurückzulegen. Die subjektiven Auslassphänomene des linken Beines sind weder heute auffällig noch sind sie in den zahlreichen ambulanten und stationären Berichten beschrieben worden. Er benötigt keinen Gehbehelf und ist auch nicht auffällig sturzgefährdet. Es ist ihm möglich, auch höhere Niveauunterschiede (bis 30 cm) zum Ein- und Aussteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel zu überwinden, insbesondere durch Anhalten mit der rechten, gesunden Hand. Es konnte auch keine Einschränkung der Standhaftigkeit erhoben werden. Diese insbesondere in Bezug auf das sichere Stehen, die Sitzplatzsuche oder bei einer notwendig werdenden Fortbewegung im öffentlichen Verkehrsmittel während der Fahrt. Weiters ist die Benützung von Haltegriffen und -stangen mit der rechten Hand ausreichend kräftig möglich. Es konnte[n] überdies keine weiteren erheblichen Einschränkungen festgestellt werden, die die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel rechtfertigen würden, die berichtete Stuhlinkontinenz ist als solche nicht feststellbar und wurde auch nirgendwo beschrieben, durch ausreichende Stuhlentleerung frühmorgens und eventuelle (empfohlene) Verwendung von Einlagen ist diese Situation kontrollierbar.“
8 Mit Schreiben vom 9. April 2018 erstattete der Revisionswerber eine Stellungnahme zum Gutachten vom 13. März 2018 und beantragte zur Gutachtenserörterung und -ergänzung eine mündliche Verhandlung. In der Stellungnahme brachte der Revisionswerber vor, er leide auf Grund seiner Rückenmarksverletzung am sog. „Horner-Syndrom“, sodass es zu dauerhaften Schmerzen im Rücken und in der linken Hand komme. Überdies bestehe eine nachhaltige Schädigung der inneren Organe durch die dauerhafte Einnahme von starken schmerzlindernden Medikamenten. Diese beiden Leiden seien im Sachverständigengutachten weder erwähnt noch entsprechend der Einschätzungsverordnung erörtert worden. Der im Gutachten vom 13. November 2017 mit einem Grad der Behinderung von 60% eingeschätzte Zustand nach Wirbelkörperfraktur sei im Gutachten vom 13. März 2018 ohne Begründung nur mit einem Grad der Behinderung von 50% eingeschätzt worden. Die im Vorgutachten mit einem Grad der Behinderung von 20% eingeschätzte Einschränkung des Kniegelenks fehle im Gutachten vom 13. März 2018 ohne Begründung.
9 Mit Schriftsatz vom 23. April 2018 legte die belangte Behörde die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vor.
10 1.2. Mit Verfügung vom 9. Oktober 2018 ersuchte das Verwaltungsgericht den chirurgischen Sachverständigen unter Hinweis auf das Vorbringen des Revisionswerbers in dessen Beschwerde und dessen Stellungnahme zum Gutachten um Gutachtensergänzung zur Frage, ob das vom Revisionswerber behauptete „Horner-Syndrom“ einen Einfluss auf die Einschätzung des Grades der Behinderung habe.
11 Mit Schreiben vom 20. Jänner 2019 erstattete der chirurgische Sachverständige eine Stellungnahme, in der er ausführte, das „Horner-Syndrom“ sei in der Diagnoseliste und in einem näher genannten Rehabilitationsbericht nicht berücksichtigt worden. Es sei „offensichtlich laut Beschwerde fälschlicherweise angegeben“ worden. Im Rahmen der klinischen Untersuchung sei es nicht auffällig gewesen. Falls es jemals vorhanden gewesen sei, bestehe kein Einfluss auf die Einschätzung des Grades der Behinderung. Zudem sei das „Horner-Syndrom“ mit ganz anderen Symptomen vergesellschaftet als die „in den beschriebenen Diagnosen“.
12 1.3. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde des Revisionswerbers hinsichtlich der Festsetzung des Grades der Behinderung im Behindertenpass statt und stellte fest, dass der Gesamtgrad der Behinderung 70% betrage. Hinsichtlich der Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde hingegen als unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für diese Zusatzeintragung nicht vorlägen. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
13 Begründend legte das Verwaltungsgericht, nach Darstellung des Verfahrensgangs, seiner Entscheidung das unfallchirurgische Sachverständigengutachten vom 13. März 2018 samt „Gutachtensergänzung“ vom 20. Jänner 2019 zu Grunde. Das Gutachten sei schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei. Der Revisionswerber sei diesem nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegen getreten. Das vom Revisionswerber vorgebrachte „Horner-Syndrom“ sei vom Sachverständigen dahingehend gewürdigt worden, dass es mangels Feststellbarkeit oder Auffälligkeit bei der Untersuchung sowie mangels Berücksichtigung „im Rehabericht“ keinen Einfluss auf die getroffene Einschätzung habe. Der Zustand nach Wirbelfraktur sei im Gutachten vom 13. März 2018 separat von der Querschnittssymptomatik und Plexusläsion beurteilt und für beide Funktionseinschränkungen jeweils ein Grad der Behinderung von 50% angenommen worden, während im Gutachten vom 13. November 2017 eine gemeinsame Einschätzung dieser Leiden (mit einem Grad der Behinderung von 60%) erfolgt sei. Die Einschränkung des Kniegelenks, die im Gutachten vom 13. November 2017 mit einem Grad der Behinderung von 20% eingeschätzt worden sei, sei im Gutachten vom 13. März 2018 als Funktionsbeeinträchtigung weggefallen, weil eine freie Beweglichkeit bestehe und keine subjektiven Beschwerden dargelegt worden seien.
14 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, die das Verwaltungsgericht unter Anschluss der Akten vorgelegt hat. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.
15 2. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16 2.1. Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht habe dem Revisionswerber das „Ergänzungsgutachten“ des chirurgischen Sachverständigen nicht übermittelt, wodurch sein Parteiengehör verletzt worden sei. Auch habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen.
17 Die Revision ist im Sinne dieses Vorbringen zulässig. Sie ist auch begründet.
18 2.2. Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm §§ 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlen darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffenden eindeutigen, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichenden konkreten Feststellungen über die - vom Verwaltungsgericht als erwiesen angenommene - konkrete Art und den Umfang der Leidenszustände des Revisionswerbers. Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen ist, wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont hat, nicht hinreichend (VwGH 6.5.2020, Ra 2018/11/0219, mwN). Das Verwaltungsgericht hat im gegenständlichen Fall unter der Überschrift „Feststellungen (Sachverhalt)“ den Verfahrensgang dargestellt und die Sachverständigengutachten (teilweise) wiedergegeben, jedoch keine Feststellungen zu dem Leidenszustand des Revisionswerbers getroffen.
19 2.3.1. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist sowohl bei der Einschätzung des Grades der Behinderung als auch bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Einschränkungen des Betroffenen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar erscheinen lassen, wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten (vgl. VwGH 21.6.2017, Ra 2017/11/0040, mwN).
20 2.3.2. Gemäß § 45 Abs. 3 AVG, der gemäß § 17 VwGVG in Verfahren vor Verwaltungsgerichten anzuwenden ist, ist den Parteien Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, der Ergänzung eines Sachverständigengutachtens auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten, sofern das Verwaltungsgericht entscheidungswesentliche Feststellungen maßgeblich auf dieses Beweismittel stützt (vgl. VwGH 17.2.2019, Ro 2018/04/0012, mwN).
21 2.3.3. Das Verwaltungsgericht hat sich in seiner Beweiswürdigung betreffend den Grad der Behinderung maßgeblich auf die Stellungnahme des Sachverständigen vom 20. Jänner 2019, die der Sache nach eine Ergänzung seines Gutachtens vom 13. März 2018 darstellt, gestützt. Diese Gutachtensergänzung stellt ein Beweismittel dar, das gemäß § 45 Abs. 3 AVG iVm. § 17 VwGVG dem Parteiengehör zu unterziehen gewesen wäre.
22 Indem das Verwaltungsgericht dem Revisionswerber dazu kein Parteiengehör gewährt hat, hat es ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme genommen und seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
23 2.3.4. Vor diesem Hintergrund ist es evident, dass die Durchführung der ausdrücklich zum Zweck der Gutachtenserörterung beantragten mündlichen Verhandlung in Anwesenheit des chirurgischen Sachverständigen iSd § 24 Abs. 4 VwGVG eine weitere Klärung der Rechtssache hätte erwarten lassen und - sowohl hinsichtlich des Grades der Behinderung als auch hinsichtlich der beantragten Zusatzeintragung - zu einem für den Revisionswerber allenfalls günstigeren Ergebnis hätte führen können.
24 2.4. Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
25 2.5. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da die Revision gemäß § 51 BBG von der Eingabengebühr nach § 24a VwGG befreit war.
Wien, am 30. September 2020
Schlagworte
Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019110063.L00Im RIS seit
09.11.2020Zuletzt aktualisiert am
09.11.2020