Entscheidungsdatum
10.03.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W120 2180436-1/13E
W120 2180454-1/10E
W120 2180457-1/10E
W120 2180460-1/7E
W120 2180463-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian EISNER über die Beschwerden
1. der XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, XXXX (W120 2180436-1),
2. des XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, XXXX (W120 2180463-1),
3. der mj. XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, XXXX (W120 2180454-1),
4. der mj. XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, XXXX (W120 2180457-1), und
5. des mj. Mohammed Hossein XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, XXXX (W120 2180460-1),
alle StA. Afghanistan, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Den Beschwerden wird stattgegeben und
1. XXXX ,
2. XXXX ,
3. XXXX ,
4. XXXX und
5. XXXX
wird gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 (zu 1.) bzw. gemäß § 3 Abs 1 iVm § 34 AsylG 2005 (zu 2. bis 5.) der Status der bzw. des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass
1. XXXX ,
2. XXXX ,
3. XXXX ,
4. XXXX und
5. XXXX
damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und die Eltern der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.
2. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stellten am 09. bzw. 10.11.2015 für sich und die Dritt- bis Viertbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz. Am 10.11.2015 erfolgte die Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
3. Am 26.05.2017 wurde der Fünftbeschwerdeführer in Österreich geboren. Mit Schreiben vom 12.06.2017, bei der belangten Behörde am 07.07.2017 eingelangt, stellte die Erstbeschwerdeführerin für den Fünftbeschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
4. Am 17.10.2017 wurden die Erst- und Zweitbeschwerdeführer vor der belangten Behörde näher zu ihren Fluchtgründen befragt.
5. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 23.11.2017 wies die belangte Behörde die Anträge auf internationalen Schutz der Beschwerdeführer zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebungen nach Afghanistan zulässig seien und die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen diese Bescheide mit Schriftsatz vom 14.12.2017, bei der belangten Behörde am selben Tag eingelangt, durch ihren Rechtsberater weitgehend gleichlautende Beschwerden.
7. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 21.10.2017 eingelangter Beschwerdevorlage die verfahrensgegenständlichen Akten.
8. Am 29.10.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Erst- und Zweitbeschwerdeführer sowie deren Rechtsvertreter teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Farsi beigezogen wurde.
Die Erst- und Zweitbeschwerdeführer wurden im Rahmen der Verhandlung zu ihrer Identität, Herkunft und Familie, ihren persönlichen Lebensumständen und Fluchtgründen sowie ihrem Leben in Österreich befragt.
Zudem wurden die Länderberichte in das Verfahren eingebracht und aktualisierte Berichte ausgeteilt.
Die Beschwerdeführer legten weitere Unterlagen zum Beweis ihrer Integrationsbemühungen vor.
Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung samt den vorgelegten Unterlagen wurde der belangten Behörde im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Beschwerdeführern:
1.1.1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Sadat.
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind seit dem Jahr 2005 verheiratet sowie die Eltern und die gesetzlichen Vertreter der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.
Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer verließen im Herbst 2015 Afghanistan. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stellten am 09. bzw. 10.11.2015 für sich und die minderjährigen ledigen Dritt- bis Viertbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz. Am 26.05.2017 wurde der Fünftbeschwerdeführer in Österreich geboren. Mit Schreiben vom 12.06.2017, bei der belangten Behörde am 07.07.2017 eingelangt, stellte die Erstbeschwerdeführerin für den Fünftbeschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Die Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten bzw. strafunmündig und nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.
1.1.2. Die Erstbeschwerdeführerin wurde im Iran geboren und war dort bis zur ihrer Ausreise nach Europa wohnhaft. Die Erstbeschwerdeführerin wuchs in einem sehr traditionellen Umfeld im Iran auf und war Einschränkungen unterworfen, die sie ihren Töchtern keinesfalls zumuten möchte. Sie heiratete als Minderjährige.
An einem durchschnittlichen Tag in Österreich kümmert sich die Erstbeschwerdeführerin um den Einkauf sowie besucht einen Deutsch- oder Schneiderkurs. Im Juni 2019 absolvierte die Erstbeschwerdeführerin die ÖSD-Prüfung auf dem Niveau A1. Die Erstbeschwerdeführerin ist ernsthaft um das Erlernen der deutschen Sprache und um Weiterbildung bemüht. Der Berufswunsch der Erstbeschwerdeführerin ist Visagistin. Sie organisiert ihren Alltag selbstständig und ist ganz selbstverständlich ohne Begleitung außerhalb des Hauses unterwegs. Sie schätzt an Österreich besonders, dass sie hier selbst entscheiden (zB ob sie einen Kurs besucht) und selbstbestimmt leben kann.
Die Erstbeschwerdeführerin geht in Österreich auch ehrenamtlichen Tätigkeiten nach: Einmal wöchentlich arbeitet die Erstbeschwerdeführerin im Sozialmarkt in XXXX , ein- bis zweimal im Monat verrichtet die Erstbeschwerdeführerin Reinigungstätigkeiten für die Caritas.
In ihrer Freizeit geht die Erstbeschwerdeführerin gerne schwimmen und Fahrradfahren; sie hat bereits Freundschaften zu mehreren Österreichern geknüpft.
Die Erstbeschwerdeführerin möchte ihren Kindern und sich in Österreich den Zugang zu Bildung ermöglichen. Sie möchte, dass ihre Töchter "weiterhin in Freiheit leben" und "in Zukunft erfolgreiche Mitglieder dieser Gesellschaft sein" können.
Im Alltag trifft die Erstbeschwerdeführerin ihre Entscheidungen (nach Rücksprache mit dem Zweitbeschwerdeführer) alleine. Bei der Betreuung der Kinder unterstützt der Zweitbeschwerdeführer die Erstbeschwerdeführerin.
Die Erstbeschwerdeführerin ist eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, dass sie selbst oder ihre Töchter (wieder) nach der konservativ-afghanischen Tradition leben. Die Erstbeschwerdeführerin beabsichtigt, in Österreich eine Ausbildung zu machen und einer Arbeit nachzugehen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.
1.1.3. Der Zweitbeschwerdeführer wurde in der Provinz XXXX geboren und lebte dort bis zu seinem 25. Lebensjahr, um dann in weiterer Folge in den Iran zu ziehen. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Afghanistan keine Schule und arbeitete als Bauer. Im Iran war der Zweitbeschwerdeführer als Hilfsarbeiter am Bau tätig.
1.1.4. Die Drittbeschwerdeführerin besucht die vierte Klasse einer Neuen Mittelschule und die Viertbeschwerdeführerin absolviert derzeit die erste Klasse eines Gymnasiums; der Fünftbeschwerdeführer geht noch nicht in den Kindergarten.
1.2. Zum Herkunftsstaat:
1.2.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018
Frauen
Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).
Bildung
Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).
In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).
Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).
Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).
Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).
Berufstätigkeit
Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o.D.).
Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).
Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).
Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.
Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).
EVAW-Gesetz
Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).
Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen: Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).
Frauenhäuser
Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in
den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).
Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).
Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Legales Heiratsalter
Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).
Familienplanung und Verhütung
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).
Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).
Ehrenmorde
Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).
Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).
Reisefreiheit
Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).
1.2.2. UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (Übersetzung): Kapitel Risikoprofil "Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben"
Die Regierung hat seit 2001 eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Verabschiedung von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe der Frauen und die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Allerdings stieß die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung immer wieder auf Widerstände. Das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wurde 2009 durch Präsidialerlass verabschiedet, doch lehnten es konservative Parlamentsabgeordnete und andere konservative Aktivisten weiterhin ab. Das überarbeitete Strafgesetzbuch Afghanistans, das am 4. März 2017 mit Präsidialerlass verabschiedet wurde, enthielt ursprünglich alle Bestimmungen des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und stärkte die Definition des Begriffs Vergewaltigung. Jedoch wies Präsident Ghani das Justizministerium im August 2017 angesichts der Ablehnung durch die Konservativen an, das diesem Gesetz gewidmete Kapitel aus dem neuen Strafgesetzbuch zu entfernen. Das neue Strafgesetzbuch trat im Februar 2018 in Kraft, während in einem Präsidialerlass klargestellt wurde, dass das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 als eigenes Gesetz weiterhin Geltung hat.
Laut Berichten, halten sich die Verbesserungen in der Lage der Frauen und Mädchen insgesamt sehr in Grenzen. Laut der Asia Foundation erschweren "der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungerechte Bestrafungen für "Verbrechen gegen die Sittlichkeit", ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt" nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Depressionsraten aufgrund von häuslicher Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen nehmen Berichten zufolge unter afghanischen Frauen zu.438 Es wird berichtet, dass 80 Prozent der Selbstmorde in Afghanistan von Frauen begangen werden und sich manche von ihnen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen.
Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan (AIHRC) stellte fest, dass Gewalt gegen Frauen noch immer eine "weit verbreitete, allgemein übliche und unleugbare Realität" ist und dass Frauen in unsicheren Provinzen und im ländlichen Raum besonders gefährdet durch Gewalt und Missbrauch sind. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte sehr oft straflos bleiben. Sexuelle Belästigung und die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleiben, so die Berichte, endemisch. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen Berichten zufolge überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen.
Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz der Frauenrechte weiterhin nur langsam umgesetzt werden, vor allem was das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen betrifft. Das Gesetz stellt gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge jedoch der Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend werde es nicht vollständig angewendet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Frauen hätten nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. Berichten zufolge leiten sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften sowie Einrichtungen gemäß dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zahlreiche Fälle, auch schwere Verbrechen, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiter und unterminieren dadurch die Umsetzung dieses Gesetzes und fördern die Beibehaltung schädlicher traditioneller Bräuche. Durch Entscheidungen dieser Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanen und Ausgrenzung ausgesetzt.
Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere für Frauen diskriminierende Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.
Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die effektiv von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge. Regierungsfeindliche Kräfte schränken
Berichten zufolge die Grundrechte von Frauen in diesen Gebieten weiterhin massiv ein, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, politische Teilhabe, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich den Frauen beim Zugang zur Justiz besondere Hindernisse entgegenstellen und dass ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von regierungsfeindlichen Kräften in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge regelmäßig die Rechte von Frauen.
a) Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ist nach wie vor weit verbreitet: Die Zahl der angezeigten Fälle nimmt zu, doch die Dunkelziffer dürfte weit höher sein als die angezeigten Fälle. Im März 2018 bezeichnete die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan Gewalt gegen Frauen als "eine der größten Herausforderungen im Bereich der Menschenrechte in Afghanistan". Dazu gehören "Ehrenmorde", Entführungen, Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung, erzwungene Schwangerschaftsabbrüche und häusliche Gewalt.
Da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie betrachtet werden, besteht für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr, geächtet, zur Abtreibung gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden. Es wurde festgestellt, dass gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen, einschließlich durch die eigene Gemeinschaft oder Familie, ausschlaggebend dafür sind, dass Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt keine Anzeige erstatten.
Das neue Strafgesetzbuch Afghanistans, das im Februar 2018 in Kraft trat, stellt ohne die Zustimmung der Frau durchgeführte "Jungfräulichkeitstests" unter Strafe. Obwohl diese Praxis einen Straftatbestand darstellt, ist das "Jungfräulichkeitstesten" von Frauen, die des Ehebruchs beschuldigt werden oder Opfer sexueller Straftaten sind, einschließlich Vergewaltigung oder sexueller Nötigung, in Afghanistan Berichten zufolge nach wie vor weit verbreitet. Diese Praxis wurde als "sexuelle Nötigung und Folter" beschrieben. Das neue Strafgesetzbuch stellt auch zina (Geschlechtsverkehr zwischen einem nicht verheirateten Paar) unter Strafe. Artikel 636 des neuen Strafgesetzbuches enthält auch eine "klarere und umfassendere Definition von Vergewaltigung, die nicht von zina ausgeht".
Berichten zufolge bleiben für häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortliche Männer nahezu grundsätzlich ungestraft. Da Frauen außerdem in der Regel wirtschaftlich von den Gewalttätern abhängig sind, werden viele von ihnen faktisch davon abgehalten, Anklage zu erheben, und sie haben wenig andere Möglichkeiten, als weiterhin in von Missbrauch geprägten Situationen zu leben.
Der Zugang zur Justiz wird für Frauen, die Gewalttaten anzeigen möchten, zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass der Anteil der Frauen unter den Polizeikräften im Land nur bei etwas unter zwei Prozent liegt, da Polizistinnen weitgehend stigmatisiert werden. Berichten zufolge sind Polizistinnen selbst der Gefahr von sexueller Belästigung und von Übergriffen am Arbeitsplatz, unter anderem der Vergewaltigung durch männliche Kollegen, ausgesetzt. Sie seien außerdem durch gewalttätige Angriffe seitens regierungsfeindlicher Kräfte gefährdet.
Berichten zufolge besteht Straflosigkeit bei Handlungen von sexueller Gewalt auch deswegen weiter fort, weil es sich bei den mutmaßlichen Vergewaltigern in einigen Gebieten um mächtige Befehlshaber oder Mitglieder bewaffneter Truppen oder krimineller Banden handelt oder um Personen, die zu solchen Gruppen oder einflussreichen Personen Kontakt haben und von ihnen vor Inhaftierung und Strafverfolgung geschützt werden.
b) Schädliche traditionelle Bräuche
Schädliche traditionelle Bräuche sind in Afghanistan weiterhin weitverbreitet und kommen in unterschiedlichem Ausmaß landesweit sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gemeinschaften und in allen ethnischen Gruppen vor. Die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde. Zu den Formen der Zwangsheirat in Afghanistan gehören:
(i) "Verkaufsheirat", bei der Frauen und Mädchen gegen eine bestimmte Summe an Geld oder Waren oder zur Begleichung von Schulden der Familie verkauft werden
(ii) baad, eine Methode der Streitbeilegung gemäß Stammestraditionen, bei der die Familie der "Angreifer" der Familie, der Unrecht getan wurde, ein Mädchen anbietet, zum Beispiel zur Begleichung einer Blutschuld
(iii) baadal, eine Vereinbarung zwischen zwei Familien, ihre Töchter durch Heirat "auszutauschen", oft um Hochzeitskosten zu sparen
(iv) Zwangsverheiratung von Witwen mit einem Mann aus der Familie des verstorbenen Ehemanns
Wirtschaftliche Unsicherheit und der andauernde Konflikt sowie damit verbundene Vertreibung, Verlust von Eigentum und Verarmung der Familien sind Gründe, warum das Problem der Kinder- und Zwangsheirat fortbesteht, da diese oftmals als die einzige Überlebensmöglichkeit für das Mädchen und seine Familie angesehen wird.
Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles ist UNHCR der Auffassung, dass bei Frauen, die unter folgende Kategorien fallen, wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht: a) Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Personen, die entsprechend gefährdet sind; b) Überlebende schädlicher traditioneller Bräuche sowie Personen, die entsprechend gefährdet sind; und c) Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles kann bei dieser Personengruppe ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer Religion, ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in die Verfahrensakten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde, in die bekämpften Bescheide, in die Beschwerdeschriftsätze, in die vorgelegten Urkunden sowie in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte.
2.1. Zu den Beschwerdeführern:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Herkunft der Beschwerdeführer sowie zu ihrer familiären Situation in Afghanistan bzw. im Iran ergeben sich aus den diesbezüglich glaubwürdigen und gleichlautenden Vorbringen der Erst- und Zweitbeschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde und in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Dass die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer traditionell verheiratet sind, kann für das Bundesverwaltungsgericht angesichts der überzeugenden und nachvollziehbar dargetanen Schilderungen der Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung nicht bezweifelt werden (vgl. 7 des Verhandlungsprotokolls).
Dass die Beschwerdeführer an den festgestellten Tagen Anträge auf internationalen Schutz stellten, ist den Verwaltungsakten der belangten Behörde zu entnehmen. Die Feststellungen zur Unbescholtenheit der Beschwerdeführer ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Strafregisterauszügen. Die Feststellungen zur Grundversorgung basieren auf den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen des GVS.
Die Feststellungen zur Erstbeschwerdeführerin als moderne Frau, die die traditionell begründeten gesellschaftlichen Einstellungen und die sich daraus für den Alltag ergebenden Zwänge gegenüber Frauen im Herkunftsstaat ablehnt, basieren auf den glaubwürdigen Angaben der Erstbeschwerdeführerin und dem persönlichen Eindruck, der von der Erstbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung gewonnen werden konnte. Sie beantwortete die an sie gerichteten Fragen spontan und authentisch sowie hinterließ insgesamt einen glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck.
Das Bundesverwaltungsgericht gewann bei der Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin insgesamt den Eindruck, dass sie das streng konservativ-afghanische Frauenbild ablehnt und abgelegt hat sowie stattdessen "westliche" Werte verinnerlicht hat und auch danach lebt.
Dieser Eindruck wird ua dadurch untermauert, dass die Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Unterschiede zwischen dem Leben der Frauen in Afghanistan gegenüber jenem in Österreich ansprach und klarmachte, dass sie mit den Bedingungen nicht einverstanden ist, denen Frauen in Afghanistan nach wie vor unterworfen sind (vgl. die Seiten 9 und 10 des Verhandlungsprotokolls, arg. "RI: Was hat sich an Ihrem Leben für Sie persönlich geändert, seit Sie in Österreich sind? - BF1: Im Vergleich zu Afghanistan und zum Iran herrscht in Österreich eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, wonach ich als Frau über mein Leben selber bestimmen darf. Ich entscheide selber was ich anziehe und wohin ich gehe bzw. mit wem ich befreundet sein möchte. Ich trete selbstbewusst auf und habe mir Ziele gesetzt, auf die ich hinarbeite und von denen ich überzeugt bin, dass ich sie in Zukunft erreichen werde. Auch für meine Töchter hat sich in Österreich sehr viel geändert, sie sind so wie ich auch, keinen Einschränkungen unterworfen.")
Die Erstbeschwerdeführerin legte in der Beschwerdeverhandlung schlüssig und im Einklang mit der allgemeinen Lebenserfahrung dar, dass es einen gewissen Zeitraum in Anspruch nahm, sich in Österreich einzufinden und an die Gegebenheiten hier zu gewöhnen (vgl. Seite 11 des Verhandlungsprotokolls, arg. "RI: Wie war die Eingewöhnung in Österreich für Sie? - BF1: Am Anfang war es schwierig, weil für mich das Land und die Kultur und das Zusammenleben der Gesellschaft ganz neu waren, aber ich habe mich schnell an das Leben in Österreich gewöhnt. Ich habe Österreicher kennengelernt, die mir die Kultur und die Lebensweise - vor allem der der Frauen - nahegebracht haben. Mit Hilfe meiner österreichischen Freunde konnte meine Töchter und ich uns schneller anpassen und wir haben uns sehr bald in Österreich wohlgefühlt.").
Zudem kann die auf ein selbstbestimmtes Leben gerichtete innere Einstellung ("westliche Gesinnung") der Erstbeschwerdeführerin ihren Aussagen betreffend ihre Zukunftspläne und betreffend den Wunsch nach Bildung und Berufstätigkeit zweifelsfrei entnommen werden und wird auch durch ihre eigenständige Lebensführung klar bestätigt [vgl. die Seiten 8 bis 9 des Verhandlungsprotokolls, arg. "RI: Wie sehen Sie Ihr weiteres Leben? Was planen Sie für die Zukunft? (konkrete Vorstellungen?) - BF1: Ich möchte in Zukunft den Beruf der Visagistin lernen und diesen Beruf ausüben. - RI: Sie haben gesagt, Sie möchten den Beruf der Visagistin lernen und ausüben, wie wollen Sie dies erreichen, was benötigen Sie hierfür für diese Ausbildung? - BF1: Man kann entweder eine dreijährige Lehre absolvieren oder eine eineinhalb bis zweijährige Ausbildung machen. Da ich diesen Beruf schon erlernt habe, möchte ich hier die eineinhalb bis zweijährige Ausbildung absolvieren, vielleicht kann ich die Abschlussprüfung schon früher ablegen und zu arbeiten beginnen."]. Sie lernt zielstrebig selbständig Deutsch und nimmt aktiv und ungezwungen am gesellschaftlichen Leben teil.
Dass die Erstbeschwerdeführerin wie auch ihre Familie am sozialen Leben in Österreich in vielfältiger Weise teilnehmen, belegen außerdem die vorgelegten Unterstützungserklärungen sowie die Bestätigungen der ehrenamtlichen Arbeit.
Das Bundesverwaltungsgericht ist der Auffassung, dass sich bei der Erstbeschwerdeführerin gerade aufgrund der von ihr in der Vergangenheit im Iran erlittenen Einschränkungen sehr klare Vorstellungen von ihrem Leben ohne derartige Zwänge und rigide Vorschriften verfestigt haben. Der Erstbeschwerdeführerin ist es in der Verhandlung deutlich anzumerken, dass es für sie von zentraler Bedeutung ist, dass auch ihre beiden Töchter ein freies und selbstbestimmtes Leben führen können (vgl. Seite 10 des Verhandlungsprotokolls, arg. "RI: Was wünschen Sie sich für Ihre Töchter in der Zukunft? - BF1: Ich wünsche mir für meine Töchter, dass alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Sie sollen die Schulen abschließen, XXXX möchte Lehrerin werden und XXXX möchte Rechtsanwältin werden. Sie lernen fleißig und sind zielstrebig. Sie genießen, dass sie in Österreich frei leben und gewisse Entscheidung selber treffen können und dass es hier niemanden gibt, der ihnen irgendwelche Vorschriften macht. Ich wünsche mir, dass sie weiterhin in Freiheit leben, in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt sind und in Zukunft erfolgreiche Mitglieder dieser Gesellschaft sein können. - RI: Wie stellen Sie sich denn die Partnerwahl Ihrer Töchter vor, entscheiden diese das selber oder wollen Sie das entscheiden? - BF1: Sie werden das Recht haben ihre zukünftigen Partner selbst auszusuchen. Sie werden grundsätzlich immer die Möglichkeit haben, wichtige Entscheidung in ihrem Leben selber zu treffen, weil es ihr Leben ist."). Dass ein solches Leben der weiblichen Mitglieder der Familie auch für den Zweitbeschwerdeführer ein wesentliches Anliegen ist, zeigen seine Aussagen in der Beschwerdeverhandlung. So betonte der Zweitbeschwerdeführer, dass er seine weiblichen Familienmitglieder bei deren Entscheidungen und der Verwirklichung ihrer Berufswünsche unterstützen werde, er es genieße, dass seine Ehefrau und seine Töchter ihre Freiheiten "ausleben" würden sowie sich seine Ehefrau und seine Töchter der "österreichischen Kultur" und Lebensweise bereits angepasst hätten [vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls, arg. "RV: Was sagen Sie dazu, dass Ihre Frau und Ihre Töchter kein Kopftuch tragen? - BF2: Für mich ist das kein Problem, sie wollen sich anpassen und ich kann sie dabei nur unterstützen. Ich genieße grundsätzlich, dass meine Frau und meine Töchter ihre Freiheiten ausleben. - RI: Wer trifft die Entscheidung für die Zukunft der Töchter (Berufswahl, Partnerwahl, die Wahl der Freunde)? - BF2: Sie werden alle ihre Entscheidungen selber treffen dürfen. Sie haben selber gesagt, dass sie Lehrerin bzw. Rechtsanwältin werden wollen, ich werde sie dahingehend unterstützen."]. Dass der Zweitbeschwerdeführer die Erstbeschwerdeführerin bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützt, wird zB daran erkennbar, dass sich der Zweitbeschwerdeführer um den Fünftbeschwerdeführer kümmert, wenn die Erstbeschwerdeführerin ihre Kurse besucht.
Zudem zeigt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Erstbeschwerdeführerin mit ihren Töchtern schwimmen geht und selbst das Fahrradfahren ausübt, deutlich, dass die Erstbeschwerdeführerin das streng konservativ-afghanische Frauenbild ablehnt.
Für das Bundesverwaltungsgericht ist die Erstbeschwerdeführerin eine Frau, die in Österreich ganz selbstverständlich alleine außer Haus geht, sich ohne Orientierung an die traditionellen Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates kleidet, selbständig Deutsch lernt und einer Arbeit nachgehen möchte. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich nicht maßgeblich von dem Leben, welches andere Frauen (mit mehreren minderjährigen Kindern) in Österreich führen.
Aus all dem ergibt sich, dass die Erstbeschwerdeführerin als selbstständige Frau anzusehen ist, die in einer Weise lebt, die nicht mit den traditionell-konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft übereinstimmt. Diese Lebensführung ist zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Erstbeschwerdeführerin geworden, dass von ihr nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im Ausland und ihrer Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt werden würde.
Die Feststellungen zu den Zweit- bis Fünftbeschwerdeführern beruhen auf den Aussagen der Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung sowie den in der Beschwerdeverhandlung vorgelegten Unterlagen.
2.2. Zum Herkunftsstaat:
Es wurde vor allem Einsicht genommen in folgende Erkenntnisquellen des Herkunftsstaates der Beschwerdeführer:
1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 - Frauen
2. UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (Übersetzung): Kapitel Risikoprofil "Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben"
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A)
3.1. Flüchtling im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Einem Fremden ist der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne der GFK droht (§ 3 Abs 1 AsylG 2005).
Gemäß § 3 Abs 2 AsylG 2005 kann eine Verfolgung auch auf Nachfluchtgründe gestützt werden.
Eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hat hingegen zu erfolgen, wenn eine drohende Verfolgung nicht glaubhaft ist, eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist (§ 3 Abs 3 Z 1 iVm § 11 AsylG 2005) oder ein Asylausschlussgrund vorliegt (§ 3 Abs 3 Z 2 iVm § 6 AsylG 2005).
Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Si