Entscheidungsdatum
27.05.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W159 2183294-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.12.2017, Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiären Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiäre Schutzberechtigte bis zum 27.05.2021 erteilt.
IV. Der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte III. bis VI. wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach schlepperunterstützter illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 31.01.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er gab zu seinem Fluchtgrund befragt an, er habe Afghanistan wegen Armut verlassen. Es gäbe keine Arbeit und die Lage dort sei sehr schlecht.
Mit dem von der belangten Behörde beantragten medizinischen Sachverständigengutachten, Untersuchungsdatum vom 06.04.2017 wurde bekanntgegeben, dass der Beschwerdeführer zum Asylantragsdatum 17,72 Jahre alt gewesen sei. Es wurde das spätestmögliche Geburtsdatum berechnet, welches für den Beschwerdeführer festgelegt worden sei.
Der Beschwerdeführer gab in der niederschriftlichen Einvernahme vom 13.12.2017, er stamme aus Afghanistan, der Provinz Paktia, dem Dorf XXXX , Stadt XXXX . Er habe dort von seiner Geburt an bis zur Ausreise gewohnt. Er sei bis vor fünf Monaten mit seinem Vater in Kontakt gestanden, da die Antennen zerstört worden seien, bestehe kein Kontakt mehr.
Nach seinem Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, er sei Schüler der 8. Schulstufe gewesen. Er sei von den Taliban, die vor der Schule gestanden seien, geschlagen und gezwungen worden mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er habe nicht mit den Taliban zusammenarbeiten wollen. Auch seine Eltern hätten dem Beschwerdeführer verboten, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Eines Tages sei er, nachdem die Taliban ihn geschlagen hätten, bewusstlos nach Hause gebracht worden. Zwei Zähne seien kaputtgeschlagen worden. Da hätten seine Eltern beschlossen, dass er ausreisen müsse.
Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban vorwiegend arme Leute ansprechen würden, sich ihnen anzuschließen. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer beim ersten Ansprechen gewarnt und beim zweiten Mal zugeschlagen. Der Vorfall hätte sich im März, nach Schulende zugetragen. Er sei im fünften oder sechsten Monat ausgereist. In der Zwischenzeit sei er aus Angst nicht mehr zur Schule gegangen. Er sei mit dem Linienbus nach Kabul und dann ausgereist. Der Beschwerdeführer gab an, er habe einen älteren und fünf jüngere Brüder, die nicht von den Taliban belästigt worden seien.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.12.2017 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF (Spruchpunkt I.), und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Zi 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen, nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sie die Fluchtgeschichte nicht geglaubt hätte. Hätten die Taliban wirklich Interesse an der Person des Beschwerdeführers gezeigt, hätten sie ihn nicht nur mehrmals angesprochen, sondern sie hätten den Beschwerdeführer mitgenommen. Ebenso unglaubwürdig sei, dass die Taliban den Beschwerdeführer bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen hätten. Der Beschwerdeführer hätte angegeben, dass er von „irgendjemand“ gefunden worden wäre und von diesem in Zustand der Bewusstlosigkeit nach Hause gebracht worden wäre. Wie hätte irgendjemand wissen können, wer der Beschwerdeführer sei, um ihn nach Hause zu bringen. Der Beschwerdeführer habe es auch unterlassen, die Bedrohung in der Erstbefragung durch die Sicherheitsbehörde anzugeben. Hätte es diese Bedrohung gegeben, hätte er hier schon diese Bedrohung angegeben. Eine Verfolgung von Seite der afghanischen Regierung sowie aufgrund der Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit habe der Beschwerdeführer nicht angegeben. Die belangte Behörde gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Wunsches nach Emigration, das österreichische Bundesgebiet aufgesucht habe, um eine Verbesserung seiner Lebenssituation zu erhalten.
Da der Beschwerdeführer über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimat verfüge, ein junger, arbeitsfähiger Mann mit Schulbildung sei, stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Er könne sich eine neue Existenz aufbauen und seinen Lebensmittelpunkt in den Städten Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat setzen, zumal er auch über familiäre Anknüpfungspunkt in der Stadt Kabul verfüge.
Auch in der rechtlichen Würdigung des Bescheides führte die Behörde aus, dass sie dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht geglaubt habe und dieses Vorbringen nicht in die GFK einzuordnen sei. Selbst wenn man von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens ausgehe, so wäre diese Fluchtgeschichte nicht unter den Begriff der staatlichen Verfolgung einzuordnen. Sie stelle eine private Verfolgung durch private Dritte dar.
Zu Spruchpunkt II. führte die belangte Behörde aus, dass aus den in den Sachverhaltsfeststellungen herangezogenen Berichten nicht hervorgehe, dass jedermann, der sich in Afghanistan befinde, vor allem in den großen Städten, die sich in der Hand der Regierung befinden würden, einem realen Risiko einer Verletzung nach Art. 2 und/oder 3 EMRK ausgesetzt sei. Es möge zwar in den Städten die Sicherheitssituation angespannt sein, aber nicht so schlecht, dass sich eine solche Annahme rechtfertigen lasse. Aus den Feststellungen zu den persönlichen Eigenschaften, lasse sich ableiten, dass die Lebenssituation besser sei als die des Durchschnitts der Mitbürger. Der Beschwerdeführer gehöre nicht zur sozialen Risikogruppe in seiner Heimat. Er verfüge über Schulbildung und leide an keiner Lebensbedrohenden Erkrankung. Der Beschwerdeführer gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Die Zugehörigkeit zu diesem Stammlinienverband bedeute viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Außerdem könne der Beschwerdeführer auch eine finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens in Afghanistan in Anspruch nehmen.
Mit Schriftsatz vom 04.11.2019 erhob der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde gegen alle Spruchpunkte des Bescheides und brachte darin im Wesentlichen vor, dass entgegen der Ansicht der Behörde, ihm eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Es sei wahrscheinlich, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine politische Gesinnung unterstellt werde und er dadurch im Sinne der GFK verfolgt werde. Aus den Ausführungen der Staatendokumentation sei zu entnehmen, dass Talibanaufständische in einer Reihe von Distrikten in der Heimatprovinz Paktia aktiv seien. Deshalb sei es denkbar, dass Minderjährige zwecks Zwangrekrutierung von Anhängern der radikalen Gruppierungen gezielt aufgesucht werden könnten.
Am 22.01.2018 wurden div. Kursbestätigungen übermittelt. In der Beschwerdeergänzung vom 22.02.2018 wies der Beschwerdeführer auf die geänderte Sicherheits- und Versorgungslagen in Afghanistan und im Speziellen in Kabul hin. Es würde ein reales Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr seiner Person nach Afghanistan entstehen.
Mit 13.12.2018 wurde eine Änderung der Vollmacht auf XXXX bekanntgegeben.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 21.04.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertreterin und ein Dolmetscher teilnahmen. Die belangte Behörde erschien entschuldigt nicht. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers brachte eine Einstellungsbestätigung der Donaupark Restaurant Betriebsgesellschaft, eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs A2, diverse Unterstützungsschreiben, ein Unterstützungsschreiben des XXXX samt diverser Fotos von Laufbewerben, ein Deutschzertifikat A1, eine Teilnahmebestätigung an einem Erste-Hilfe-Kurs des XXXX sowie eine Arbeitsbestätigung der XXXX in Vorlage.
Der Beschwerdeführer hielt sein bisheriges Vorbringen und die Beschwerde aufrecht. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volkgruppe der Paschtunen an, sei ledig und sunnitischer Moslem. Er brachte eine Tatzkira in Vorlage. Der Beschwerdeführer gab an, dass er seine Religion für sich praktiziere, er würde aber keine Moschee besuchen. Er sei im Dorf Sargal in der Provinz Paktia geboren worden und habe bis zu seiner Ausreise dort gelebt. Er sei acht Jahre, bis zur achten Klasse zur Schule gegangen, sein Vater habe seinen Lebensunterhalt bestritten. Der Vater sei Bauer gewesen und habe auf den Felden anderer gearbeitet. Sie hätten zwar ein eigenes Haus besessen, jedoch sei es seiner Familie, so wie anderen, wirtschaftlich nicht besonders gut gegangen.
„Vorhalt: Bei der Erstbefragung (AS 25) haben Sie lediglich wirtschaftliche Probleme als Ausreisegrund angegeben.
BF: Das kann nur damit verbunden sein, dass ich unterwegs sehr große Angst gehabt habe. Ich war 1 Monat in der Türkei in einem Gefängnis und 4 Monate in Bulgarien und 1 Monat auch in Serbien. Das hat dazu geführt, dass ich vieles an dem Tag nicht so gemeint habe, wie ich es gesagt habe. Ich war auch 10 Tage im Iran in einem Zimmer verbracht.“
Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass seine Eltern, seine sechs Brüder und seine Schwester noch im Heimatdorf leben würden. Das Dorf und das Distrikt seien bei der Ausreise des Beschwerdeführers unter Kontrolle der Taliban gewesen. Die Familie des Beschwerdeführers hätte keinen persönlichen Kontakt zu den Taliban gehabt.
Die Probleme des Beschwerdeführers mit den Taliban hätten in der achten Klasse begonnen. „Ich war in der achten Klasse. Ich war zu Fuß unterwegs und als ich an einem Garten, der an der Seite des Weges stand, vorbeigehen wollte, lauerten bereits auf mich. Sie waren acht Leute von den Taliban. Ich wollte so tun, dass ich sie nicht gesehen hätte und weitergehen. Sie haben, mir nachgerufen. Sie haben mich direkt gefragt: „Junge, wohin gehst du?“ Ich sagte: „Ich gehe nach Hause.“ Dann haben sie nach meinem Beruf gefragt. Ich sagte ihnen, dass ich Schüler wäre. Dann haben sie mir vorgeschlagen, dass ich mit ihnen zusammenabreiten sollte, dafür würde ich Geld bekommen.
….. Ich habe ihren Vorschlag abgelehnt und sagte, dass ich mit ihnen nicht zusammenarbeiten könnte, weil ich die Schule fertigmachen muss. Sie haben mir dann gedroht. Sie haben gesagt, wenn ich ihren Vorschlag nicht annehmen würde, gäbe es beim nächsten Mal nicht so ein einfaches Gespräch. Ich habe Angst gehabt. Als ich nach Hause gekommen bin, war meine Mutter im Hof. Ich habe mich dann mit meinem jüngeren Bruder zusammengesetzt. Ich war nicht sicher, ob ich über dieses Ereignis mit meiner Mutter sprechen soll oder nicht, weil es meiner Mutter damals gesundheitlich nicht gut ging. Außerdem habe ich mir auch gedacht, wenn ich drüber mit meinem Vater sprechen würde, würde mein Vater mir vielleicht verbieten weiter in die Schule zu gehen. Nach ca. 2-3 Wochen war ich an einem Tag unterwegs zur Schule. Sie haben an diesem Tag bereits auf mich gewartet. Dieses Mal waren sie mit 4 Motorrädern unterwegs. Alle waren vermummt. Alle trugen ihre Turbane. Sie haben auch alle automatische Waffen gehabt. Ich habe so Angst gehabt, dass ich fast nicht sprechen konnte. Ich muss sagen, bei diesem Mal haben sie mich auch verbal angegriffen und sagten, ob ich vergessen habe, was sie mir das letzte Mal gesagt haben. Sie haben mich beschimpft. Sie haben meinen Vater als Zuhälter bezeichnet. Dann haben sie mich am Kragen gepackt und sie haben so stark gezogen, dass mein Hemd zerrissen ist. Einer von ihnen hatte mit dem Griff seiner Waffe auf meine Nase eingeschlagen und meine Nase war sowohl gebrochen als auch dass sie geblutet hat. Ich war fast ohnmächtig. Als ich meine Augen aufgemacht habe, war ich wieder zu Hause. Meine Brüder, mein Vater und alle hatten Angst und waren besorgt um mich.“
Diese Vorfälle hätten sich im dritten Monat des Jahres 2016 zugetragen. Er sei zweimal von den Taliban belästigt worden.
„Vorhalt: Beim BFA (AS 199) haben Sie gesagt, dass Sie oft von den Taliban geschlagen und gezwungen wurden, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
BF: Ich habe die Frage nicht verstanden.
VR: Ich zitiere aus dem Protokoll des BFA (AS 199): „Ich wurde sehr oft gezwungen von den Taliban, die standen immer vor unserer Schule. Als die Schule aus war haben sie mich geschlagen und gezwungen mit ihnen zusammenzuarbeiten, was ich nicht wollte…“ Was sagen Sie dazu?
BF: Ich habe auch an diesem Tag gesagt, dass es zwei Mal war.
RV weist daraufhin, dass auch im Protokoll des BFA weiter unten steht: „Einmal wurde ich gewarnt und beim 2. Mal wurde ich geschlagen.“
BF: Ja, das stimmt.
VR: Was wollten die Taliban konkret von Ihnen?
BF: Die wollten im Falle, dass ich mit ihnen zusammenarbeite, dass ich alles das tue, was sie sagen.
VR: Warum wollten sie das gerade von Ihnen?
BF: Meiner Meinung nach hat unsere wirtschaftliche Situation auch eine Rolle gespielt, weil es gab Familien, deren Jungen alles gehabt haben und somit auch Macht gehabt haben. Ich, als Mitglied eine ärmere Familie bin ein besseres Ziel für die Taliban.
VR: Wurden auch andere Mitschüler von Ihnen von den Taliban zur Mitarbeit aufgefordert?
BF: Ich glaube, es gab viele Jungs die mit den Taliban zusammengearbeitet haben, aber niemand hat darüber gesprochen. Ich kannte offiziell niemanden, der bei den Taliban war.
Vorhalt: Beim BFA haben Sie weiters angegeben, dass die Taliban Ihnen zwei Zähne ausgeschlagen haben. Das haben Sie heute nicht erwähnt.
BF versteht die Frage nicht.
VR: Haben die Taliban Ihnen zwei Zähne ausgeschlagen?
BF: Ja, das haben sie gemacht.
RV: Warum haben Sie das ausschlagen der Zähne nicht erwähnt?
BF: Ja, jetzt sage ich das.
VR: Wenn die Taliban, Sie nahezu bewusstlos schlagen und Ihnen zwei Zähne ausschlagen, kommen diese ihrem Ziel aus Ihnen einen Kämpfer für die Taliban zu machen nicht näher. Diese Vorgangsweise ist unlogisch.
BF: Ehrlich gesagt, wollte ich mit niemandem kämpfen. Ich muss sagen, meine ganze Familienmitglieder sind gegen Krieg und gegen Gewalt.
VR: Wurden seitens der Taliban versucht Sie zu entführen?
BF: Ich denke, ja. Sie haben dieses Ziel gehabt.
VR: Wurden Sie seitens der Taliban sexuell belästigt?
BF: Davon kann ich nichts sagen. Erst später wäre es vielleicht passiert.
VR: Gab es irgendwelche Drohbriefe oder Drohanrufe seitens der Taliban?
BF: Nein, sie haben mich nur verbal bedroht. Es gab keine Briefe oder Anrufe. Ich habe sei auch deswegen nicht mehrmals gesehen, weil ich nach dem zweiten Vorfall fast nur mehr zu Hause war.
VR: Wie lange waren Sie nach diesem zweiten Vorfall, wo Sie zusammengeschlagen wurden, noch in Afghanistan?
BF: Zwischen 2 und 2,5 Monaten.“
Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, er sei danach nicht mehr zur Schule gegangen und habe sich zu Hause aufgehalten. Da er noch jung gewesen sei, hätten die anderen entschieden, dass er ausreisen werde. Er wisse nicht, ob seine Brüder zurzeit von den Taliban belästigt werden würden. Er habe mit seiner Familie nicht regelmäßig Kontakt. Etwa alle drei Monate würden sie sich nach der Gesundheit der anderen erkundigen. Seine Familie würde in Angst, vor neuerlichen Angriffen durch die Taliban leben.
Auf die Frage des Richters, womit er sich zurzeit in Österreich beschäftige, antwortete der Beschwerdeführer, er würde den Leuten helfen. Er würde in den Gärten arbeiten und sich als Bauer beschäftigen. Der Beschwerdeführer wies eine Reihe von Fotos von der Gartenarbeit bzw. vom Sport und von der Freizeit vor. Der Beschwerdeführer erzählte weiter, er würde auch vielen Leuten in der Kirche helfen. Nachgefragt, ob er engeren Kontakte zur katholischen Kirche habe, antwortete er, er würde Frau XXXX kennen und deshalb würde er auch den anderen helfen. Der Richter erkundigte sich, warum er auf einem Foto mit einem Pferd abgebildet sei. Der Beschwerdeführer erzählte, er würde Tiere, egal welcher Art lieben.
Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, er habe sich bemüht Deutschkurse besuchen. Es sei ihm nicht immer gelungen, er sei auch von Oberösterreich nach Niederösterreich verlegt worden. Er habe einen Kurs beim XXXX besucht und eine Dame würde ihm helfen Deutsch zu lernen. Auf die Frage, ob er schon gearbeitet habe, antwortete er, er habe eine Zusage bedingt durch den Coronavirus verloren. Er sei aber bemüht Arbeit zu finden.
Er würde sehr viele Leute kennen und zur Familie XXXX regelmäßig in Kontakt stehen. Er würde sehr viel Sport treiben, Fußball spielen und ins Fintnesscenter gehen.
Auf die Frage des Richters, er sei jung, gesund und arbeitsfähig und haben Schulausbildung, ob er sich nicht in Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, antwortete der Beschwerdeführer, er kenne in diesen zwei benannten Provinzen niemanden und er habe Angst davor überhaupt nach Afghanistan zu gehen. Die Taliban seien nicht nur in einem bestimmten Ort, sondern in ganz Afghanistan aktiv.
Der Beschwerdeführer antwortete dem Rechtsvertreter nachgefragt, dass er Herrn XXXX ., ca. 80 Jahre helfen würde. Er würde Einkäufe erledigen und ihn unterstützen.
Der Beschwerdeführer antwortete dem Rechtsvertreter nachgefragt, dass sein Cousin von den amerikanischen Streitkräften erschossen worden sei. Sie hätten geglaubt er sei ein Talib. Sein Cousin sei aber kein Talib gewesen. Sein Haus sei zerstört worden. Es sei im Jahr 2018 passiert.
In der Stellungnahme, eingelangt am 11.05.2020 beim Bundesverwaltungsgericht, nahm der Beschwerdeführer, durch seine Rechtsvertretung, Bezug auf die prekäre Sicherheitslage und die Folgen der Covid-19-Pandemie in Afghanistan. Bereits die Staatendokumentation „COVID-19 Afghanistan“ habe eingeräumt, dass aller Voraussicht nach COVID-19 Afghanistan besonders hart treffen werde. Gründe dafür sind der allgemein schlechte Gesundheitszustand der afghanischen Bevölkerung (auch zu „normalen“ Zeiten), Unter- und Mangelernährung und die Folgen des jahrzehntelangen Krieges. Hunderttausende würden an den Folgen von Verletzungen leiden und hätten dauerhafte Schäden davongetragen. Das afghanische Gesundheitsministerium hätte prognostiziert, dass mehr als die Hälfte der EinwohnerInnen Afghanistans an COVID-19 erkranken könnten. Für die im schlimmsten Fall erwarteten 700.000 Menschen, die im Zuge der Erkrankung in ein Krankenhaus aufgenommen werden müssten es, würden landesweit lediglich 10.400 Krankenhausbetten zur Verfügung stehen und 300 Beatmungsgeräte. In der gesamten Provinz Herat – die infolge der unzähligen RückkehrerInnen, die aufgrund des COVID-19 Ausbruchs im Iran zu tausenden pro Tag zurück nach Afghanistan kehrten, ohnehin als besonders gefährdete Region gelte – würde die Zahl der Beatmungsgeräte auf gesamt 12 Stück geschätzt (siehe KI vom 09.04.2020, S 1). Laut der zitierten Kurzinformation seien Kabul und Herat, die am stärksten betroffenen Regionen, weshalb in diesen Regionen Ausgangsbeschränkungen ausgerufen worden sei.
Besonders werde dabei darauf hinzuweisen, dass bereits vor der Pandemie die wirtschaftliche Situation äußerst prekär gewesen sei und nunmehr habe die UN in einer Pressemitteilung vom Jänner 2020 Afghanistan zu einem der besorgniserregenden Hunger-Hotspot in Asien erklärt. Laut dem World Food Programme der UN habe sich bereits vor Ausbruch der Pandemie mehr als 11 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – aufgrund von Unsicherheit und Dürren nicht ausreichend ernähren können (vgl. https://de.wfp.org/pressemitteilungen/hunger-hotspots-2020-wo-sich-der-hunger-weltweit-ver-schlimmern-wird).
„Vgl. etwa zur drohenden Hungerkatastrophe BBC News: Coronavirus: Seven million Afghan children risk hunger, 1 May 2020, https://www.bbc.co.uk/news/world-asia-52488792. Unter Berufung auf Zahlen des WFP heißt es in dem Bericht, dass der Preis für Weizenmehl und Speiseöl auf den wichtigsten Märkten Afghanistans im vergangenen Monat um bis zu 23% gestiegen sei, da die Nachfrage das Angebot überstieg. Die Kosten für Reis, Zucker und Hülsenfrüchte waren um 7 bis 12% gestiegen. In Verbindung mit steigenden Preisen sinken die Löhne der Tagelöhner, da die Arbeit durch die Sperrung versiegt.
Die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle steigt weiterhin an. Positiv getestete Personen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Die höchste Anzahl an Fällen weist Kabul auf, gefolgt von Herat, Kanda-har und Balkh. Das afghanische Gesundheitsministerium erwartet, dass die größte Welle von Infektionen mit COVID-19 erst noch bevorsteht. Das afghanische Finanzministerium rechnet aufgrund COVID-19 mit 50 % weniger Einnahmen im laufenden Finanzjahr. Hinzu kommt, dass in Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben, darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viel Afghanen sind. Für Afghanistan bedeutet dies, dass Überweisungen der Arbeitsmigranten ausfallen, welche für viele Familien die Lebensgrundlage bilden. Am 02.05.20 hat die afghanische Regierung angeordnet, dass alle kommerziellen Inlandsflüge bis zum Ende des Ramadan (24.05.20) eingestellt werden. Ausnahmen gelten für humanitäre Zwecke. Die Ausgangsbe-schränkungen in Kabul bleiben bis zum Ende des Ramadan in Kraft (vgl BAMF – Federal Office for Migration and Refugees (Germany): Briefing Notes 4. Mai 2020, 4 May 2020 https://www.ecoi.net/en/file/local/2029426/briefingnotes-kw19-2020.pdf).
Zu den verheerenden Folgen der Covid-19 Pandemie für Afghanistan siehe auch: Foreign Policy, DISPATCH: In Afghanistan, the Coronavirus Could Be Deadlier Than War, vom 17.04.2020, https://for-eignpolicy.com/2020/04/17/in-afghanistan-coronavirus-could-be-deadlier-than-war/: Die Coronavi-rus-Krise hätte für Afghanistan, das kurz vor dem Verlust kritischer militärischer und finanzieller Unterstützung durch die USA steht, nicht zu einem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Die Streitkräfte der USA und der NATO haben bereits begonnen, Truppen aus dem Land abzuziehen, und werden fortfahren, unabhängig davon, ob die Regierung der Taliban und Kabuls es an den Verhandlungstisch schafft oder nicht. Das fragile Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das im Februar vereinbart wurde, ist bereits aus allen Nähten ausgefranst, während die Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung zunächst in einer Sackgasse über Gefangenentausch ins Stocken gerieten. Von beiden Seiten wurden nun Gefangene freigelassen, was Hoffnung macht, dass die Friedensgespräche voranschreiten können. Wenn die prekäre Regelung jedoch zusammenbricht, müssen die afghanischen Regierungstruppen allein gegen die Taliban kämpfen.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. […]. Bisher haben mehr als 420 Menschen in Afghanistan positiv auf COVID-19 getestet und 11 sind gestorben. Bei begrenzten verfügbaren Tests sind die tatsächlichen Zahlen jedoch wahrscheinlich höher. Herat, eine nordwestliche Provinz, die an den Iran grenzt und das Nahrungsmittelproduktionszentrum des Landes ist, ist zum Epizentrum der Pandemie in Afghanistan geworden. Seit Jahresbeginn sind mehr als 210.000 Afghanen - viele von ihnen ohne Papiere - aus dem Iran zurückgekehrt, einem der am stärksten vom Coronavirus betroffenen Länder mit mehr als 3.730 Todesfällen und Zehntausenden bestätigten Fällen. (siehe „Food prices soar under coronavirus threat in Afghanistan“ in The New Humanitarian, vom 07.04.2020, http://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/04/07/afghanistan-food-insecurity-coronavirus).“
Die Medien hätten auch in der vergangenen Woche von Kämpfen und Anschlägen in zahlreichen Provinzen zur aktuellen Sicherheitslage berichtet. Die NATO hätte ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.20), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020 gemeldet. Die NATO habe allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt, da man die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten wolle. Pressemeldungen zufolge habe es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.20) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet worden seien. Dabei hätten die Taliban keine Städte oder Provinzzentren angegriffen, sondern sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh fokkusiert. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates seien bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04. bis ca. 30.04.20) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet worden. (vgl BAMF – Federal Office for Migration and Refugees (Germany): Briefing Notes 4. Mai 2020, 4 May 2020 https://www.ecoi.net/en/file/local/2029426/briefingnotes-kw19-2020.pdf).
Ergänzend wurden nachstehende Berichte und Artikel in das Verfahren eingebracht:
- Einen kurzen aktuellen Überblick nach Regionen gibt ua der wöchentliche Bericht: UN OCHA – UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs: Afghanistan: Weekly Humanitarian Update (20 April – 26 April 2020), 29 April 2020, siehe https://www.ecoi.net/en/file/local/2028987/afghanistan_humanitarian_weekly_26_ap-ril.pdf
- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 15. Jänner 2020 (https://www.ecoi.net/de/laender/afghanistan/themendossiers/allgemeine-sicherheitslage-in-afghanistan/)
- Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 von Human Rights Watch vom 14.01.2020, (siehe https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/afghanistan)
- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif, 15. Jänner 2020, (siehe https://www.ecoi.net/de/doku-ment/2022798.html)
Unter Hinweis auf die UNHCR-Richtlinien habe der Verwaltungsgerichtshof betont, dass zur Klärung der Zumutbarkeit des Verweises auf eine Niederlassungsalternative die „persönlichen Umstände des Betroffenen (einschließlich allfälliger Traumata infolge früherer Verfolgung), die Sicherheit, die Achtung der Menschenrechte und die Aussichten auf wirtschaftliches Überleben in diesem Gebiet beurteilt werden“ müssen. Zu den persönlichen Umständen gehören demnach etwa das Alter, der Gesundheitszustand, Schulbildung, Berufserfahrung, das Vorhandensein von Familienangehörigen oder eines sonstigen sozialen Netzwerks. Daneben seien die wirtschaftlichen Verhältnisse vor Ort in den Blick zu nehmen. Sie müssten ein „relativ normales Leben“ dort ermöglichen können. Sofern die betroffene Person in dem fraglichen Gebiet „etwa ohne familiäre Bindungen und ohne informelles soziales Netzwerk“ wäre, könnte eine Neuansiedlung als „möglicherweise nicht zumutbar“ angesehen werden, „wenn es der Person nicht auf andere Weise gelingen würde, ein relativ normales Leben mit mehr als dem bloßen Existenzminimum zu führen“ (vgl zu alldem insbesondere VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, Rz 19-23 mwN etwa auf VfGH 12.12.2017, E 2068/2017).
Bereits aufgrund der aktuellen Ausgangsbeschränkungen und der Gefahrensituation der Ansteckung (vor allem auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, so sie denn überhaupt benutzt werden können) würde bereits die für die Annahme einer IFA erforderliche sichere Erreichbarkeit einer alternativen Niederlassungsmöglichkeit innerhalb Afghanistans wegfallen.
Darüber hinaus stamme der Beschwerdeführer aus einer sehr armen Familie, die ihn auch unter „normalen“ Umständen nicht finanziell oder sonst unterstützen könne. Die Familie lebe äußerst abgeschieden in der Region Paktia. Die Kommunikation zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Familie finde nur sporadisch statt und dafür müsse ein Familienmitglied extra auf einen der Berge steigen, um genug Empfang zu haben. Das würde sich auch nicht ändern, wenn der Beschwerdeführer wieder in Afghanistan wäre. Er hätte sohin weder ein familiäres Netzwerk, noch könnte ihn seine Familie sonst irgendwie unterstützen. Als Zugehöriger der Volksgruppe der Pashtunen würde der Beschwerdeführer aber auch nicht einfach untertauchen können, sondern wäre gezwungen sich jemandem anzuvertrauen. Darin bärge sich aber das Risiko, dass auch die Taliban – die über ein sehr gut funktionierendes Spitzelwesen verfügen würden – von der Rückkehr des Beschwerdeführers Kenntnis erlangen könnten. Gerade weil die Stammeszugehörigkeit für viele Pashtunen existentiell sei, würde der Beschwerdeführer als Rückkehrer exponiert sein und es bestünde daher die reale Gefahr, dass sich der Beschwerdeführer von den Taliban rekrutiert werden würde. Mangels Netzwerk/Unterstützung müsste sich der BF als er selbst zu erkennen geben. Dies bärge auch die Gefahr, als Taliban-Sympathisant denunziert zu werden (wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit). Dadurch wäre der Beschwerdeführer sogar der Gefahr staatlicher Verfolgung ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer würde in Afghanistan völlig mittellos als Rückkehrer ohne jegliche finanzielle und/oder soziale Unterstützung nicht leben können. Im Falle einer Infektion mit COVID-19 wäre eine ärztliche Behandlung nicht gewährleistet. In Afghanistan müssten sich Familienangehörige um PatientInnen kümmern, sie pflegen und Essen ins Krankenhaus bringen. Dies könnte die Familie des Beschwerdeführers nicht machen. Einerseits leben sie abgeschieden in der Region Paktia, weit von einem Krankenhaus entfernt. Andererseits hätten sie auch nicht die finanziellen Mittel die Behandlung und den Krankenhausaufenthalt des Beschwerdeführers zu bezahlen.
Der Beschwerdeführer habe zwar in Afghanistan eine Schule besucht, könne aber kaum in seiner Muttersprache lesen und schreiben. Dari hat er überhaupt erst in Österreich gelernt. Auch darin besteht eine Erschwernis, weil er im Falle einer Rückkehr umso mehr Nachteile hätte und sich selbständig nicht um die anfallenden bürokratischen Arbeiten kümmern könnte. Bereits die Persönlichkeit des Beschwerdeführers, der sehr introvertiert und zurückhaltend sei, könne sich im Falle einer Rückkehr besonders negativ auswirken. Er sei äußerst ehrlich und hilfsbereit, dies werde oft und gerne ausgenutzt.
Ergänzend werde noch auf die individuell drohenden Gefahren für den Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung verwiesen, die ihm aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer drohen. Zur Situation für RückkehrerInnen im Allgemeinen wird auf folgende Berichte verwiesen. Insbesondere sind diese beiden Berichte aktueller, als jene im Kapitel über die Situation für Rückkehrer in dem herangezogenen Länderinformationsblatt. Beide genannten Berichte schildern, dass die Situation für Rückkehrer katastrophal sei und es – ohne familiäres oder sonstiges soziales Netz – kaum bis keine Möglichkeiten gibt, sich wieder ein „relativ normales Leben“ aufbauen zu können:
- Internal Displacement Monitoring Centre (ehemals: Global IDP Project) – (IDMC), „A DIFFERENT KIND OF PRESSURE The cumulative effects of displacement and return in Afghani-stan“, Jänner 2020, https://www.internal-displacement.org/sites/default/files/publica-tions/documents/202001-afghanistan-cross-border-report.pdf
„Dieser Bericht kommt zu folgendem Ergebnis: „Fast 2,6 Millionen Afghanen lebten infolge von Konflikten und Gewalt im Dezember 2018 in Binnenvertreibungen. Darunter befinden sich viele der 3,3 Millionen Menschen, die zwischen 2012 und 2019 aus dem Ausland in das Land zurückgekehrt sind. Diese im Zuge der anhaltenden Konflikte und Vertreibungen häufig un-freiwillige Rückkehr untergräbt Aussichten für dauerhafte Lösungen für Rückkehrer und Bin-nenvertriebene gleichermaßen. Beide Gruppen sammeln sich in der Regel in vergleichsweise sicheren städtischen Gebieten, in denen aber die Aufnahmekapazität zunehmend begrenzt ist. Die Vertreibung aufgrund der Dürre im Jahr 2018 hat die Krise verschärft. Viele leben in informellen Siedlungen, in denen ihre Grundbedürfnisse und -rechte vernachlässigt werden. Der zunehmende Druck auf Wohnraum, Ressourcen, Infrastruktur und Dienstleistungen vor Ort hat zu Spannungen zwischen Vertriebenen und Aufnahmegemeinschaften geführt, die je-weiligen betroffenen Stadtteile sind potenziell ein fruchtbarer Rekrutierungsgrund für radi-kale bewaffnete Gruppen wie den Islamischen Staat.[…] Das schiere Ausmaß der Vertreibung und Rückkehr stellt die Aufnehmenden vor eine große Herausforderung, insbesondere ange-sichts der Tatsache, dass der Plan für humanitäre Hilfe nur zu 43 Prozent finanziert ist. […] Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Gewalt zunimmt, wenn die Konfliktparteien um eine He-belwirkung am Verhandlungstisch kämpfen. Wenn dies zu einer weiteren Vertreibung führt, ist die Notwendigkeit, in die Widerstandsfähigkeit der betroffenen Gemeinschaften zu inves-tieren, umso größer.“ (vgl S 17 des IDMC Berichts, Übersetzung aus dem englischen Original durch die Verfasserin)“
Am 12.05.2020 teilte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung mit, dass er im Gastgewerbe eine Anstellung für 40 Stunden gefunden habe, am 22.05.2020 dass er nunmehr als Vollzeitbeschäftigter angemdeldet sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und zum Leben in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste im Alter von etwa 17 Jahren in das Bundesgebiet illegal ein. Der Beschwerdeführer ist nunmehr etwa 21 Jahre alt, leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung oder sonstigen Beeinträchtigung, er ist gesund und ist arbeitsfähig. Er hat eine 40 Stundenanstellung in der Gastronomie gefunden.
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und der Volksgruppe der Pashtunen zugehörig. Er bekennt sich zum sunnitischen moslemischen Glauben. Der Beschwerdeführer spricht etwas Deutsch. Der Beschwerdeführer ist in der afghanischen Provinz Paktia geboren worden und lebte bis zu seiner Ausreise in seinem Heimatdorf. Er besuchte acht Jahre ein Lycee und sein Vater kam für seinen Lebensunterhalt auf. Er hat sporadisch Kontakt zu seiner Familie. Seine Familie ist arm, sie kann den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nicht unterstützen.
Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner gegen ihn gerichteten Bedrohung oder Verfolgung, sei es durch staatliche Organe oder durch Private, aufgrund seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung (oder aus anderen Gründen) ausgesetzt und hat eine solche im Falle seiner Rückkehr auch nicht zu erwarten. Er ist vermutlich wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage aus Afghanistan geflohen.
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise in Österreich durchgehend im Bundesgebiet auf, ist strafrechtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten oder Familienangehörigen. Ein Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers zu einer in Österreich aufhältigen Person liegt nicht vor. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über gefestigte Sozialkontakte und ist bemüht sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren.
1.2 Zur potentiellen Gefährdungslage im Rückkehrfall
Die Staatendokumentation „COVID-19 Afghanistan“ räumt ein, dass aller Voraussicht nach COVID-19 Afghanistan besonders hart treffen werde. Gründe dafür sind der allgemein schlechte Gesundheitszustand der afghanischen Bevölkerung (auch zu „normalen“ Zeiten), Unter- und Mangelernährung und die Folgen des jahrzehntelangen Krieges. Hunderttausende leiden an den Folgen von Verletzungen und haben dauerhafte Schäden davongetragen. Das afghanische Gesundheitsministerium prognostizierte, dass mehr als die Hälfte der EinwohnerInnen Afghanistans an COVID-19 erkranken könnten. Für die im schlimmsten Fall erwarteten 700.000 Menschen, die im Zuge der Erkrankung in ein Krankenhaus aufgenommen werden müssen, würden landesweit lediglich 10.400 Krankenhausbetten zur Verfügung stehen und 300 Beatmungsgeräte. In der gesamten Provinz Herat – die infolge der unzähligen RückkehrerInnen, die aufgrund des COVID-19 Ausbruchs im Iran zu tausenden pro Tag zurück nach Afghanistan kehrten, ohnehin als besonders gefährdete Region gilt – würde die Zahl der Beatmungsgeräte auf gesamt 12 Stück geschätzt (siehe KI vom 09.04.2020, S 1). Laut der zitierten Kurzinformation sind Kabul und Herat, die am stärksten betroffenen Regionen, weshalb in diesen Regionen Ausgangsbeschränkungen ausgerufen wurden.
Die wirtschaftliche Situation war vor der Corona-Pandemie äußerst prekär und nunmehr hat die UN in einer Pressemitteilung vom Jänner 2020 Afghanistan zu einem der besorgniserregenden Hunger-Hotspot in Asien erklärt. Laut dem World Food Programme der UN hat sich bereits vor Ausbruch der Pandemie mehr als 11 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – aufgrund von Unsicherheit und Dürren nicht ausreichend ernähren können (vgl. https://de.wfp.org/pressemitteilungen/hunger-hotspots-2020-wo-sich-der-hunger-weltweit-ver-schlimmern-wird).
„Vgl. etwa zur drohenden Hungerkatastrophe BBC News: Coronavirus: Seven million Afghan children risk hunger, 1 May 2020, https://www.bbc.co.uk/news/world-asia-52488792. Unter Berufung auf Zahlen des WFP heißt es in dem Bericht, dass der Preis für Weizenmehl und Speiseöl auf den wichtigsten Märkten Afghanistans im vergangenen Monat um bis zu 23% gestiegen sei, da die Nachfrage das Angebot überstieg. Die Kosten für Reis, Zucker und Hülsenfrüchte waren um 7 bis 12% gestiegen. In Verbindung mit steigenden Preisen sinken die Löhne der Tagelöhner, da die Arbeit durch die Sperrung versiegt.
Die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle steigt weiterhin an. Positiv getestete Personen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Die höchste Anzahl an Fällen weist Kabul auf, gefolgt von Herat, Kandahar und Balkh. Das afghanische Gesundheitsministerium erwartet, dass die größte Welle von Infektionen mit COVID-19 erst noch bevorsteht. Das afghanische Finanzministerium rechnet aufgrund COVID-19 mit 50 % weniger Einnahmen im laufenden Finanzjahr. Hinzu kommt, dass in Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben, darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viel Afghanen sind. Für Afghanistan bedeutet dies, dass Überweisungen der Arbeitsmigranten ausfallen, welche für viele Familien die Lebensgrundlage bilden. Am 02.05.20 hat die afghanische Regierung angeordnet, dass alle kommerziellen Inlandsflüge bis zum Ende des Ramadan (24.05.20) eingestellt werden. Ausnahmen gelten für humanitäre Zwecke. Die Ausgangsbe-schränkungen in Kabul bleiben bis zum Ende des Ramadan in Kraft (vgl BAMF – Federal Office for Migration and Refugees (Germany): Briefing Notes 4. Mai 2020, 4 May 2020 https://www.ecoi.net/en/file/local/2029426/briefingnotes-kw19-2020.pdf).
Zu den verheerenden Folgen der Covid-19 Pandemie für Afghanistan siehe auch: Foreign Policy, DISPATCH: In Afghanistan, the Coronavirus Could Be Deadlier Than War, vom 17.04.2020, https://for-eignpolicy.com/2020/04/17/in-afghanistan-coronavirus-could-be-deadlier-than-war/: Die Coronavirus-Krise hätte für Afghanistan, das kurz vor dem Verlust kritischer militärischer und finanzieller Unterstützung durch die USA steht, nicht zu einem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Die Streitkräfte der USA und der NATO haben bereits begonnen, Truppen aus dem Land abzuziehen, und werden fortfahren, unabhängig davon, ob die Regierung der Taliban und Kabuls es an den Verhandlungstisch schafft oder nicht. Das fragile Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das im Februar vereinbart wurde, ist bereits aus allen Nähten ausgefranst, während die Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung zunächst in einer Sackgasse über Gefangenentausch ins Stocken gerieten. Von beiden Seiten wurden nun Gefangene freigelassen, was Hoffnung macht, dass die Friedensgespräche voranschreiten können. Wenn die prekäre Regelung jedoch zusammenbricht, müssen die afghanischen Regierungstruppen allein gegen die Taliban kämpfen.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. […]. Bisher haben mehr als 420 Menschen in Afghanistan positiv auf COVID-19 getestet und 11 sind gestorben. Bei begrenzten verfügbaren Tests sind die tatsächlichen Zahlen jedoch wahrscheinlich höher. Herat, eine nordwestliche Provinz, die an den Iran grenzt und das Nahrungsmittelproduktionszentrum des Landes ist, ist zum Epizentrum der Pandemie in Afghanistan geworden. Seit Jahresbeginn sind mehr als 210.000 Afghanen - viele von ihnen ohne Papiere - aus dem Iran zurückgekehrt, einem der am stärksten vom Coronavirus betroffenen Länder mit mehr als 3.730 Todesfällen und Zehntausenden bestätigten Fällen. (vgl. „Food prices soar under coronavirus threat in Afghanistan“ in The New Humanitarian, vom 07.04.2020, http://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/04/07/afghanistan-food-insecurity-coronavirus.)“
Die NATO stellte inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban ein, um die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht zubelasten. Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.20) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern konzentrierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates seien bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04. bis ca. 30.04.20) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet worden. (vgl BAMF – Federal Office for Migration and Refugees (Germany): Briefing Notes 4. Mai 2020, 4 May 2020 https://www.ecoi.net/en/file/local/2029426/briefingnotes-kw19-2020.pdf).
Bereits aufgrund der aktuellen Ausgangsbeschränkungen und der Gefahrensituation der Ansteckung (vor allem auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, so sie denn überhaupt benutzt werden können) würde bereits die für die Annahme einer IFA erforderliche sichere Erreichbarkeit einer alternativen Niederlassungsmöglichkeit innerhalb Afghanistans wegfallen.
Weiters ist nocht auf folgende Berichte hinzuweisen.
- Internal Displacement Monitoring Centre (ehemals: Global IDP Project) – (IDMC), „A different kind of pressure The cumulative effects of displacement and return in Afghani-stan“, Jänner 2020, https://www.internal-displacement.org/sites/default/files/publica-tions/documents/202001-afghanistan-cross-border-report.pdf
„Dieser Bericht kommt zu folgendem Ergebnis: „Fast 2,6 Millionen Afghanen lebten infolge von Konflikten und Gewalt im Dezember 2018 in Binnenvertreibungen. Darunter befinden sich viele der 3,3 Millionen Menschen, die zwischen 2012 und 2019 aus dem Ausland in das Land zurückgekehrt sind. Diese im Zuge der anhaltenden Konflikte und Vertreibungen häufig unfreiwillige Rückkehr untergräbt Aussichten für dauerhafte Lösungen für Rückkehrer und Bin-nenvertriebene gleichermaßen. Beide Gruppen sammeln sich in der Regel in vergleichsweise sicheren städtischen Gebieten, in denen aber die Aufnahmekapazität zunehmend begrenzt ist. Die Vertreibung aufgrund der Dürre im Jahr 2018 hat die Krise verschärft. Viele leben in informellen Siedlungen, in denen ihre Grundbedürfnisse und -rechte vernachlässigt werden. Der zunehmende Druck auf Wohnraum, Ressourcen, Infrastruktur und Dienstleistungen vor Ort hat zu Spannungen zwischen Vertriebenen und Aufnahmegemeinschaften geführt, die je-weiligen betroffenen Stadtteile sind potenziell ein fruchtbarer Rekrutierungsgrund für radikale bewaffnete Gruppen wie den Islamischen Staat.[…] Das schiere Ausmaß der Vertreibung und Rückkehr stellt die Aufnehmenden vor eine große Herausforderung, insbesondere ange-sichts der Tatsache, dass der Plan für humanitäre Hilfe nur zu 43 Prozent finanziert ist. […] Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Gewalt zunimmt, wenn die Konfliktparteien um eine He-belwirkung am Verhandlungstisch kämpfen. Wenn dies zu einer weiteren Vertreibung führt, ist die Notwendigkeit, in die Widerstandsfähigkeit der betroffenen Gemeinschaften zu investieren, umso größer.“ (vgl S 17 des IDMC Berichts)“
1.3 Zu Afghanistan wird folgendes verfahrensbezogen festgestellt (Auszüge aus den LIB):
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente, signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).