TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/1 G314 2234016-1

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Veröffentlicht am 01.09.2020
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Entscheidungsdatum

01.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

G314 2234016-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Michael-Thomas REICHENVATER, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .07.2020, Zl.: XXXX , betreffend den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK, A) beschlossen und B) zu Recht erkannt:

A)       Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B)       Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

C)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 11.03.2020 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK, den er mit der Eingabe vom 18.05.2020 auftragsgemäß verbesserte und letztlich eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs 1 AsylG beantragte, weil Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt sei. Am 02.07.2020 wurde er vor dem BFA zu seinem Antrag vernommen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK abgewiesen (Spruchpunkt I.), gegen den BF gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt III.) sowie gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV.). Dies wurde zusammengefasst damit begründet, dass die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen höher zu bewerten seien als die persönlichen Interessen des BF an der Aufrechterhaltung seines Privatlebens im Bundesgebiet. Ein Familienleben in Österreich bestünde nicht, zumal er weder mit seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen zusammenlebe noch von ihnen abhängig sei. Er halte sich seit Oktober 2014 im Bundesgebiet auf, wobei ihm zunächst befristete Aufenthaltsbewilligungen als Studierender erteilt worden seien. Sein letzter Verlängerungsantrag sei mangels eines ausreichenden Studienerfolgs im Oktober 2017 abgewiesen worden, ebenso ein im Anschluss daran gestellter neuerlicher Erstantrag auf Erteilung eine Aufenthaltsbewilligung als Studierender. Der BF studiere zwar nach wie vor an der XXXX und werde von seiner in Bosnien und Herzegowina lebenden Herkunftsfamilie unterstützt, spreche Deutsch, betätige sich ehrenamtlich und habe in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis. Er habe aber ausreichende Bindungen zu seinem Heimatstaat und könne die Kontakte zu Freunden und Bekannten mittels Telefon und E-Mail sowie bei wechselseitigen Besuchen pflegen. Sein Privatleben sei zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem er nicht von einem dauerhaften Aufenthalt in Österreich habe ausgehen dürfen. Bei der Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina habe er nicht mit Problemen zu rechnen. Auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie drohe ihm dort kein reales Risiko einer Verletzung von Art 3 EMRK, weil das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs einer allfälligen Erkrankung für ihn als gesunden, jungen Menschen sehr gering sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und auf Anberaumung einer Beschwerdeverhandlung, mit der der BF primär die Erteilung der beantragten Aufenthaltsberechtigung wegen dauerhafter Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung begehrt und hilfsweise einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag stellt. Er bringt dazu im Wesentlichen vor, dass er in Österreich außergewöhnlich gut integriert sei. Er spreche ausgezeichnet Deutsch, habe einen großen Freundeskreis, gehe zielstrebig seinem Studium nach und sei selbsterhaltungsfähig. Ein Arbeitsvorvertrag liege vor. Es sei ihm verwehrt, einen neuerlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Studierender“ zu stellen, zumal sein letzter Antrag wegen entschiedener Rechtssache zurückgewiesen worden sei. Das BFA habe eine unzulässige antizipierende Beweiswürdigung vorgenommen und keine für die vorzunehmende Interessensabwägung relevanten Feststellungen getroffen. Die Begründung des angefochtenen Bescheids genüge den §§ 58 und 60 AVG nicht.

Das BFA legte die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Antrag vor, sie als unbegründet abzuweisen.

Feststellungen:

Der BF wurde am XXXX in XXXX (Bosnien und Herzegowina) geboren. Er ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und verfügt über einen am XXXX .08.2014 ausgestellten und bis XXXX .08.2024 gültigen Reisepass seines Herkunftsstaates. Seine Muttersprache ist Bosnisch. Er besuchte in Bosnien und Herzegowina die Schule, die er 2014 mit der Reifeprüfung abschloss. Danach kam er nach Österreich, um zu studieren.

Zwischen XXXX .10.2014 und XXXX .10.2017 verfügte der BF über Aufenthaltsbewilligungen als Studierender, um XXXX an der XXXX zu studieren. Sein letzter Verlängerungsantrag vom 05.10.2017 wurde mit dem seit 23.11.2017 rechtskräftigen Bescheid vom XXXX .10.2017 mangels Studienerfolgs abgewiesen. Der BF reiste daraufhin am XXXX .01.2018 aus dem Bundesgebiet nach Bosnien und Herzegowina, kehrte aber schon wenige Tage später wieder zurück. Am 23.02.2018 stellte er einen weiteren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung „Studierender“, der im Beschwerdeweg mit dem Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts XXXX vom XXXX .05.2019 abgewiesen wurde. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass er sein Studium in Zukunft ernsthaft und erfolgreich betreiben werde. Der BF erhob dagegen eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom 23.09.2019 abgelehnt wurde, aber kein weiteres Rechtsmittel. Am XXXX .07.2019 reiste er aus dem Bundesgebiet nach Bosnien und Herzegowina aus, kehrte aber schon kurz darauf wieder nach Österreich zurück.

Der BF ist seit September 2014 mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet, wobei zwischen XXXX .01.2018 und XXXX .05.2018 sowie zwischen XXXX .07.2019 und XXXX .09.2019 keine Wohnsitzmeldung bestand. Seine Schwester mit ihrer Familie, seine Mutter und seine betagten Großeltern leben nach wie vor in Bosnien und Herzegowina. Sein Vater, der dort ein Bauunternehmen geführt hatte, verstarb 2015 plötzlich und unerwartet. Der BF unterstützte seine Mutter bei der Weiterführung des Bauunternehmens und kehrte ab Herbst 2014 auch sonst häufig zu Besuchs- und Urlaubszwecken in seinen Heimatstaat zurück. Seine Mutter, seine Schwester und deren Familie bewohnen dort gemeinsam ein Haus in der Stadt XXXX (Föderation Bosnien und Herzegowina, Kanton XXXX ). Zuletzt kehrte der BF am XXXX .03.2020 nach einem zehntägigen Aufenthalt in seinem Herkunftsstaat in das Bundesgebiet zurück. Aktuell hält er sich ohne Aufenthaltsberechtigung in Österreich auf.

Der BF studiert nach wie vor XXXX an der XXXX . Er hat das Bachelorstudium noch nicht abgeschlossen. Zwischen Juni 2019 und Juni 2020 absolvierte er Prüfungen im Ausmaß von 21,50 ECTS positiv. Zwischen XXXX .09.2014 und XXXX .03.2019 sowie seit XXXX .10.2019 besteht eine Selbstversicherung nach § 16 Abs 2 ASVG.

Der BF arbeitet im Bundesgebiet fallweise ohne Meldung bei der Sozialversicherung als selbständiger XXXX . Ansonsten finanziert er seinen Lebensunterhalt durch Zuwendungen seiner Angehörigen. Er bewohnt eine Eigentumswohnung in XXXX , die seiner Mutter gehört. Wenn ihm der beantragte Aufenthaltstitel erteilt wird, hat er eine Vollzeitbeschäftigung als Reinigungskraft in XXXX in Aussicht, möchte aber in erster Linie sein Studium fortsetzen und (wenn überhaupt) nur Teilzeit arbeiten.

Der BF spricht gut Deutsch. Am XXXX .02.2020 bestand er die Integrationsprüfung, bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Sprachniveau B1 und zu Werte- und Orientierungswissen.

Der BF ist alleinstehend und kinderlos. Er hat in Österreich einen großen Freundeskreis. Mehrere seiner Cousine bzw. Cousinen wohnen mit ihren Familien in Österreich; der BF lebt mit ihnen nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Er engagiert sich im Verein „ XXXX “ ehrenamtlich. Er ist gesund und arbeitsfähig und in strafrechtlicher Hinsicht unbescholten.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und der Gerichtsakten des BVwG.

Die Feststellungen beruhen vorwiegend auf den Angaben des BF in seinem Antrag und bei der Einvernahme vor dem BFA sowie auf den von ihm vorgelegten Urkunden.

Name, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit des BF werden durch seinen (dem BVwG in Kopie vorliegenden) unbedenklichen Reisepass belegt, ebenso sein Geburtsort. Auch seine Geburtsurkunde liegt vor. Die bosnische Muttersprache ist angesichts seiner Herkunft und der Schulausbildung, die er nach eigenen Angaben in Bosnien und Herzegowina absolvierte, plausibel.

Die dem BF erteilten Aufenthaltsbewilligungen sind im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) dokumentiert, ebenso die Ausreisen am XXXX .01.2018 und am XXXX .07.2019. Letztere sowie seine Rückkehr jeweils wenige Tage später ( XXXX .01.2018 bzw. XXXX .07.2019) gehen aus entsprechenden Grenzkontrollstempeln in seinem Reisepass hervor. Der Bescheid vom XXXX .10.2017 betreffend die Abweisung des letzten Verlängerungsantrags ist aktenkundig. Die Abweisung des Antrags vom 23.02.2018 ergibt sich aus dem Bescheid vom XXXX .06.2018, dem Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom XXXX .05.2019 und der Niederschrift vom 02.07.2000.

Die Wohnsitzmeldungen des BF sind im Zentralen Melderegister (ZMR) dokumentiert. Die Feststellungen zu seiner Herkunftsfamilie folgen seinen Angaben dazu bei der Einvernahme vor dem BFA. Die Grenzkontrollstempel in seinem Reisepass zeigen, dass er ab September 2014 häufig nach Bosnien und Herzegowina ausreiste. Dies korreliert damit, dass er vor dem BFA regelmäßige Aufenthalte in Bosnien und Herzegowina zur Unterstützung seiner Mutter und zu Besuchszwecken schilderte.

Der BF gab gegenüber dem BFA an, dass er zuletzt im März 2020, „vor Corona“, aus seinem Heimatstaat in das Bundesgebiet eingereist sei. Dies deckt sich damit, dass sich in seinem Reisepass auf Seite 7 ein Stempel betreffend die Ausreise aus Kroatien nach Slowenien am Grenzübergang XXXX am XXXX .03.2020 befindet, sodass insoweit dem BF zu folgen ist und nicht dem BFA, das davon ausgeht, dass seine letzte Einreise am 04.01.2020 erfolgt sei.

Die Feststellungen zum Studium des BF in Österreich beruhen auf den vorgelegten Erfolgsnachweisen und auf seinen Angaben gegenüber dem BFA. Die Selbstversicherung wird anhand des Versicherungsdatenauszugs festgestellt.

Die Tätigkeit des BF als XXXX und die Feststellungen zur Finanzierung seines Lebensunterhalts basieren auf seine Angaben dazu. Seine Mutter scheint im ZMR und in der vorgelegten Bescheinigung als seine Unterkunftgeberin auf und ist laut Grundbuch auch Eigentümerin der von ihm bewohnten Wohnung. Der BF legte mit seinem ursprünglichen Antrag einen Kontoauszug vom Jänner 2020 betreffend einen Bausparvertrag mit einem Guthaben von EUR 13.221,41 vor. Da er bei der Einvernahme vor dem BFA die Frage nach Ersparnissen jedoch ausdrücklich verneinte, wird keine Feststellung dazu getroffen.

Ein Arbeitsvorvertrag über eine Vollzeitbeschäftigung als XXXX wurde vorgelegt. Der BF erklärte gegenüber dem BFA, dass er in erster Linie vorhabe, sein Studium fortzusetzen, und nur aushilfsweise bzw. in Teilzeit als Gebäudereiniger arbeiten wolle; den Vorvertrag habe er über Anraten seines Rechtsvertreters vorgelegt.

Das Zeugnis über die Integrationsprüfung (Sprachniveau B1) wurde vorgelegt. Entsprechende Deutschkenntnisse des BF sind plausibel, zumal er vor dem BFA ohne Dolmetsch vernommen werden konnte.

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der BF verheiratet ist, in Lebensgemeinschaft lebt oder Kinder hat. Sein österreichischer Freundeskreis ist aufgrund des mehrjährigen Aufenthalts, des Studiums und der Tätigkeit als Fahrradbote nachvollziehbar und wird durch die vorgelegten Empfehlungsschreiben und die Unterschriftenliste belegt. Das ehrenamtliche Engagement des BF geht aus der dazu vorgelegten Bestätigung hervor, die Feststellungen zu seinen in Österreich lebenden (entfernteren) Angehörigen basieren auf seinen Angaben vor dem BFA.

Die Unbescholtenheit des BF geht aus dem Strafregister hervor. Im Verfahren sind keine Hinweise für gesundheitliche Probleme oder Einschränkungen seiner Arbeitsfähigkeit hervorgekommen.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 13 Abs 1 VwGVG haben Bescheidbeschwerden grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Da diese hier nicht ausgeschlossen und dem BF eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, kann sie der Beschwerde auch nicht zuerkannt werden. Der darauf gerichtete Antrag in der Beschwerde ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Zu Spruchteil B):

Zu den vorgebrachten Verfahrensmängeln:

Die dem BFA in der Beschwerde vorgeworfenen Verfahrensfehler liegen nicht vor. Eine unzulässige antizipierende (vorgreifende) Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorweggenommen wird (VwGH 14.05.2020, Ra 2019/13/0097). Dieser Vorwurf ist hier verfehlt, zumal das BFA keine Beweisanträge ablehnte, alle angebotenen Beweise aufnahm und der BF niederschriftlich einvernommen wurde. Außerdem wurden der Bescheid nachvollziehbar begründet und die für die vorzunehmende Interessenabwägung notwendigen Feststellungen getroffen (siehe Seiten 12 ff des angefochtenen Bescheids).

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:

Gemäß § 55 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wie dem BF von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist.

§ 58 AsylG regelt das Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß §§ 55 ff AsylG. Gemäß § 58 Abs 8 AsylG hat das BFA im verfahrensabschließenden Bescheid über die Zurück- oder Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG abzusprechen.

Bei der Beurteilung, ob die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des BF geboten ist, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit seinen gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt. Dabei muss ein Ausgleich zwischen dem Interesse des BF auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits gefunden werden. In die gebotene Gesamtbeurteilung sind alle gemäß Art 8 EMRK relevanten Umstände seit seiner Einreise einzubeziehen.

Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist hier gemäß § 9 Abs 2 Z 1 BFA-VG zu berücksichtigen, dass sich der BF seit fast sechs Jahren im Bundesgebiet aufhält, wobei sein Aufenthalt nur bis zur Abweisung des letzten Verlängerungsantrags Ende 2017 rechtmäßig war. Die Stellung des Antrags vom 23.02.2018, der gemäß § 24 Abs 1 zweiter Satz NAG als Erstantrag gilt, führt zu keinem über den erlaubten visumfreien Aufenthalt von 90 Tagen in 180 Tagen hinausgehendem Bleiberecht, zumal der BF die Entscheidung darüber grundsätzlich im Ausland abwarten musste, sich aber nach der Antragstellung nur kurzfristig in Bosnien und Herzegowina aufhielt. Weder Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG noch die Beschwerde gegen die Entscheidung darüber begründen ein Aufenthalts- oder Bleiberecht (vgl. §§ 58 Abs 13 AsylG, 16 Abs 5 BFA-VG), sodass er sich derzeit nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Im Inland besteht kein gemäß § 9 Abs 2 Z 2 BFA-VG zu berücksichtigendes Familienleben des volljährigen, alleinstehenden und kinderlosen BF, zumal keine außergewöhnlich enge Bindung zu seinen hier lebenden Verwandten, mit denen kein gemeinsamer Haushalt besteht, vorliegt.

Unter Privatleben iSd Art 8 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR das Netzwerk persönlicher, sozialer und ökonomischer Beziehungen zu verstehen, die das Privatleben eines jeden Menschen ausmachen. Ein schutzwürdiges Privatleben ist nach § 9 Abs 2 Z 3 BFA-VG bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, ebenso nach § 9 Abs 2 Z 4 BFA-VG der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- und Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert. Zugunsten des BF sind dabei die Kontakte zu seinen in Österreich lebenden Verwandten und Freunden, gute Deutschkenntnisse, das Studium, die fallweise Tätigkeit als XXXX und sein ehrenamtliches Engagement in einem gemeinnützigen Verein zu berücksichtigen.

Diese integrationsbegründenden Umstände werden gemäß § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG dadurch relativiert, dass sie in Kenntnis des unsicheren Aufenthaltsstatus des BF entstanden, zumal er angesichts der Erteilung von befristeten Aufenthaltsbewilligungen und des ausbleibenden Studienerfolgs nicht von einer Erlaubnis zu einem nicht bloß vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet ausgehen durfte. Der BF kann den Kontakt zu seinen im Bundesgebiet lebenden Bezugspersonen auch ohne die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels durch wechselseitige Besuche in Österreich, in Bosnien und Herzegowina oder in anderen Staaten sowie über diverse Kommunikationsmittel (Telefon, E-Mail, Internet) aufrecht halten. Da er nicht vorhat, den in Aussicht stehenden Vollzeitarbeitsplatz anzutreten, sondern lediglich fallweise arbeiten und in erste Linie weiterhin studieren möchte, kommt dem in Aussicht stehenden Arbeitsplatz kein großes Gewicht bei der Interessenabwägung zu.

Der BF hat nach § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG maßgebliche Bindungen zu seinem Heimatstaat, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. Er spricht eine Landessprache, absolvierte dort die Schule und hat Anknüpfungen zu den in Bosnien und Herzegowina verbliebenen Mitgliedern seiner Herkunftsfamilie.

Die nach § 9 Abs 2 Z 6 BFA-VG relevante strafrechtliche Unbescholtenheit des BF vermag weder sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend abzuschwächen (vgl. VwGH 19.04.2012, 2011/18/0253). Abgesehen von seinem unrechtmäßigen Aufenthalt liegen keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung iSd § 9 Abs 2 Z 7 BFA-VG vor. Den Behörden zurechenbare überlange Verzögerungen iSd § 9 Abs 2 Z 9 BFA-VG liegen nicht vor.

Dem persönlichen Interesse des BF an einer Fortsetzung seines Privatlebens in Österreich steht das große öffentliche Interesse am geordneten Vollzug fremdenrechtlicher Vorschriften gegenüber. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt dabei im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu. Angesichts der weit unter zehn Jahren liegenden Aufenthaltsdauer des BF im Inland bedarf es für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels außergewöhnlicher Integrationsbemühungen, die hier im Ergebnis nicht vorliegen. Da ihm von Anfang bewusst sein musste, dass ihm die erteilten Aufenthaltsbewilligungen zum Zweck des Studiums iSd § 8 Abs 1 Z 12 NAG nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht vermitteln konnten und er nicht von einer Zulässigkeit des dauerhaften Verbleibs im Bundesgebiet ausgehen durfte, werden sowohl die Dauer des Aufenthalts als auch die währenddessen erlangte soziale Integration entscheidend relativiert (siehe VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0016).

Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt hier – auch unter Bedachtnahme auf die starken Bindungen des BF zu seinem Herkunftsstaat - das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Die Integration des BF ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung seines Privatlebens geboten wäre. Da er bis 2014 in Bosnien und Herzegowina lebte, wo seine Mutter und seine Schwester nach wie vor leben, und er während des Studiums in Österreich häufig dorthin zurückkehrte, ist davon auszugehen, dass ihm in seiner Heimat keine großen Hindernisse bei der Wiedereingliederung begegnen werden, zumal er gesund und arbeitsfähig ist, eine höhere Schule abgeschlossen hat, Deutsch und Bosnisch spricht und Berufserfahrung als Fahrradbote hat. Seine Familie kann ihn auch nach seiner Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina weiterhin finanziell unterstützen.

Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids:

Da die Voraussetzungen für die Erteilung der beantragten Aufenthaltsberechtigung nicht vorliegen, ist gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 52 Abs 3 FPG eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Die Gründe, warum diese nicht auf Dauer unzulässig ist, decken sich mit den Überlegungen zur Abweisung des Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG.

Der BF kann für einen neuerlichen Aufenthalt in Österreich, z.B. zur Fortsetzung des Studiums, von seinem Heimatstaat aus einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG stellen, zumal sein Antrag vom 23.02.2018 nicht (wie in der Beschwerde behauptet) wegen res iudicata zurückgewiesen, sondern inhaltlich behandelt und wegen Zweifeln am Betreiben eines ernsthaften und erfolgreichen Studiums abgewiesen wurde. Es ist dem BF daher zumutbar, einen allfälligen neuerlichen Aufenthalt im Bundesgebiet nach den gesetzlichen Vorgaben des NAG von seinem Herkunftsstaat aus zu legalisieren.

Zu Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids:

Für die gemäß § 52 Abs 9 FPG von Amts wegen gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des § 50 FPG (siehe VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0157). Demnach ist die Abschiebung unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder Art 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für den Betreffenden als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Abs 1), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben oder die Freiheit aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Ansichten bedroht wäre (Abs 2) oder solange die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Abs 3).

Da keine dieser Voraussetzungen hier zutrifft, ist die Abschiebung des BF nach Bosnien und Herzegowina zulässig. Es liegen unter Berücksichtigung der stabilen Situation dort und der Lebensumstände des gesunden und arbeitsfähigen BF, der die Universitätsreife und Berufserfahrung hat und dessen Mutter und Schwester dort leben, keine konkreten Gründe vor, die eine Abschiebung unzulässig machen würden. Der BF wird in der Lage sein, in seiner Heimat, wo er auch Zugang zu den vorhandenen (wenn auch allenfalls bescheidenen) öffentlichen Leistungen und zur Gesundheitsversorgung hat, wieder für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, ohne in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten, unter Umständen auch mit Hilfe seiner Angehörigen. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen könnte, liegt aktuell in Bosnien und Herzegowina jedenfalls nicht vor. Auch aus der COVID-19-Pandemie kann keine konkrete Gefahr einer Verletzung von Art 3 EMRK abgeleitet werden, zumal beim BF, der jung und gesund ist und keiner Risikogruppe angehört, selbst bei einer allfälligen Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus kein ernstes Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs besteht.

Zu Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids:

Gemäß § 55 FPG wird zugleich mit einer Rückkehrentscheidung eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Diese beträgt - abgesehen von Fällen, in denen besondere Umstände vorliegen, die hier aber nicht behauptet wurden - 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheids. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids ist vor diesem gesetzlichen Hintergrund nicht zu beanstanden.

Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher nicht korrekturbedürftig; die Beschwerde ist als unbegründet abzuweisen.

Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Nach § 21 Abs 7 BFA-VG kann bei Vorliegen der dort umschriebenen Voraussetzungen - trotz Vorliegens eines Antrags - von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden. Von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs 7 BFA-VG bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen kann allerdings im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des oder der Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das BVwG von ihm oder ihr einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. zuletzt VwGH 16.01.2019, Ra 2018/18/0272).

Da hier ein eindeutiger Fall vorliegt, der Sachverhalt anhand der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt werden konnte und auch bei einem positiven Eindruck vom BF bei einer mündlichen Verhandlung keine andere Entscheidung denkbar ist, kann eine Beschwerdeverhandlung unterbleiben. Von deren Durchführung ist keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten, zumal in der Beschwerde kein von den nunmehr getroffenen Feststellungen abweichender Sachverhalt behauptet wurde und keine entscheidungserheblichen Widersprüche in den Beweisergebnissen bestehen.

Zu Spruchteil C):

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nach Art 133 Abs 4 B-VG nicht zu lösen waren. Bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK, die das Schwergewicht der Beschwerde bildet, handelt es sich um eine typische Einzelfallbeurteilung.

Schlagworte

aufschiebende Wirkung - Entfall Interessenabwägung öffentliche Interessen Pandemie Resozialisierung Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2234016.1.00

Im RIS seit

15.10.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.10.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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