TE Vwgh Erkenntnis 1997/10/28 97/08/0429

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Veröffentlicht am 28.10.1997
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASVG §253 Abs1;
ASVG §253 Abs3;
ASVG §253d;
AVG §69 Abs1 Z2;
AVG §69 Abs1 Z3;
AVG §69 Abs3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter in Wien, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kohlmarkt 11/5, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 23. April 1997, Zl. MA 15-II-P 23/97, betreffend Wiederaufnahme eines Pensionsverfahrens (mitbeteiligte Partei: A in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von S 4.565,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 6. März 1995 gewährte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt der mitbeteiligten Partei eine Alterspension ab 1. Jänner 1995 in der monatlichen Höhe von S 3.443,80. Am 10. Oktober 1996 schloß die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt mit der mitbeteiligten Partei vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien einen Vergleich, worin sich die Beschwerdeführerin verpflichtete, der Mitbeteiligten eine vorzeitige Alterspension "in der gesetzlichen Höhe" für die Zeit vom 1. Juli 1993 bis 31. Dezember 1994, vorbehaltlich allfälliger Ersatzansprüche und des Nichtvorliegens einer Pflichtversicherung zum Stichtag, zu gewähren.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 1996 setzte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt diese Pension ab 1. Juli 1993 mit monatlich S 2.806,50 und ab 1. Jänner 1994 mit S 2.876,70 fest.

Mit Bescheid vom gleichen Tag verfügte sie die Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 6. März 1995 abgeschlossenen Pensionsverfahrens und setzte die Alterspension ab 1. Jänner 1995 nunmehr mit S 2.957,80 fest.

Nach Darlegung der Rechtslage begründete die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt diesen Bescheid wie folgt:

"Diese Voraussetzungen (ergänze: für die Wiederaufnahme des Verfahrens) sind gegeben, weil Ihnen aufgrund des Vergleiches vom 10. Oktober 1996 ab 1. Juli 1993 eine vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit zuerkannt wurde und sich dadurch die Pensionshöhe ab 1.1.1995 ebenfalls geändert hat.

Das Verfahren war daher wieder aufzunehmen."

Die Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Einspruch an den Landeshauptmann von Wien. Die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt legte diesen Einspruch mit einer Stellungnahme dem Landeshauptmann vor. Darin vertrat sie zusammengefaßt die Auffassung, daß durch die rückwirkende Pensionsgewährung die Pension nicht mehr mit dem Stichtag 1. Jänner 1995, sondern mit dem Stichtag 1. Juli 1993 zu berechnen gewesen sei. Diese Neuberechnung habe zur Folge gehabt, daß die zwischen Juli 1993 und Dezember 1994 erworbenen 18 Monate der Ersatzzeit für die Pensionsberechnung nicht mehr hätten herangezogen werden können. Durch diese "wesentliche Änderung der Vorfrage hinsichtlich der Anzahl der vorliegenden Versicherungsmonate" habe das Verfahren bezüglich der Alterspension ab 1. Jänner 1995 wieder aufgenommen und die Alterspension in einem nunmehr verringerten Ausmaß zuerkannt werden müssen.

Nach Einholung einer Stellungnahme der mitbeteiligten Partei, in der diese die Auffassung vertrat, daß sie den Vergleich nicht geschlossen hätte, hätte sie gewußt, "daß damit bereits erworbene Rechte berührt werden", sowie ferner, daß sich die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt verpflichtet habe, "eine einmalige Zahlung zu leisten", die sonstigen Ansprüche der Mitbeteiligten dadurch aber unberührt geblieben seien, erließ die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit welchem dem Einspruch der mitbeteiligten Partei stattgegeben und festgestellt wurde, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Pensionsversicherungsanstalt nicht zu Recht erfolgt sei. Nach einer Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens und Hinweis auf die Bestimmungen des § 69 Abs. 1, 2 und 3 AVG vertrat die belangte Behörde darin die Auffassung, daß gemäß § 69 Abs. 1 Z. 3 AVG die Wiederaufnahme eines Verfahrens nur dann zulässig sei, wenn der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig gewesen sei und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden werde. Unter einer Vorfrage sei eine für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage - als Gegenstand eines rechtsfeststellenden oder rechtsgestaltenden Abspruches - von einer anderen Verwaltungsbehörde oder von einem Gericht oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden sei. Im vorliegenden Fall sei die Zuerkennung der vorzeitigen Alterspension bei geminderter Arbeitsfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1993 bis 31. Dezember 1994 nicht aufgrund eines rechtsfeststellenden oder rechtsgestaltenden Abspruches des Arbeits- und Sozialgerichtes oder einer Verwaltungsbehörde, sondern aufgrund eines mit der Mitbeteiligten abgeschlossenen (wenn auch gerichtlichen) Vergleiches erfolgt. Es lägen daher die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend machende Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 69 Abs. 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und

1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtliche strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten oder

3. der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde.

Gemäß § 69 Abs. 3 AVG kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG stattfinden.

Die Wiederaufnahme eines Pensionsverfahrens ist keine Leistungs-, sondern eine Verwaltungssache im Sinne des § 355 ASVG (vgl. den hg. Beschluß vom 2. Mai 1978, Slg. Nr. 9551/A; die Entscheidungen des Oberlandesgerichtes Wien SSV 2/37 und 3/156, sowie die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 1/58 und 4/54). Der Einspruch an den Landeshauptmann war daher gemäß § 412 ASVG zulässig und dessen Zuständigkeit zur Entscheidung über den Einspruch zu bejahen.

Die Rechtmäßigkeit der von der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt verfügten Wiederaufnahme des Pensionsverfahrens hängt davon ab, ob der im Wiederaufnahmsbescheid angegebene Grund als Wiederaufnahmsgrund im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 1 - 3 AVG angesehen werden kann.

Diesen Grund hat die Beschwerdeführerin in ihrem Bescheid dahin umschrieben, daß der Mitbeteiligten aufgrund des Vergleiches vom 10. Oktober 1996 ab 1. Juli 1993 eine vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit zuerkannt worden sei und sich dadurch die Pensionshöhe ab 1. Jänner 1995 ebenfalls geändert habe.

Da der Tatbestand des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG fallbezogen von vornherein nicht in Betracht kommt, verbleibt somit die Frage zu prüfen, ob der Wiederaufnahmsgrund des § 69 Abs. 1 Z. 2 oder 3 AVG vorliegt. Ersteres ist dann zu bejahen, wenn der Anspruch der mitbeteiligten Partei auf eine Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eine Tatsache ist, die allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anderslautenden Bescheid über die Alterspension ab 1. Jänner 1995 herbeigeführt hätte; dies ist aus folgenden Gründen nicht der Fall:

Gemäß § 253 Abs. 1 ASVG hat Anspruch auf Alterspension der Versicherte nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, wenn die Wartezeit (§ 236) erfüllt ist.

Gemäß § 253 Abs. 3 ASVG ist ein Antrag auf Alterspension gemäß Abs. 1 nicht zulässig, wenn bereits Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension bei Arbeitslosigkeit (§ 253a), eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer (§ 253b), eine Gleitpension (§ 253c) oder eine vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (§ 253d) besteht.

Diese mit der 51. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 335/1993, geschaffene Bestimmung korrespondiert mit jenen Bestimmungen, die anordnen, daß eine vorzeitige Alterspension im Sinne des § 253a, § 253b, § 253c und § 253d ab Erreichung der Altersgrenze als Alterspension weiterbesteht (vgl. § 253a Abs. 4, § 253b Abs. 4, § 253c Abs. 8 und § 253d Abs. 3 ASVG).

Ein Antrag auf Alterspension ist daher dann unzulässig, wenn der Antragsteller im Bezug einer der genannten Leistungen steht, d.h. eine solche Leistung durch Bescheid oder Urteil zuerkannt ist. Auch durch einen gerichtlichen Vergleich kann ein solcher Anspruch entstehen (zu dessen Rechtswirksamkeit vgl. SSV-NF 5/59).

Es kommt hingegen nicht auf den abstrakten Anspruch auf eine solche Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit an (nur in diesem Fall läge eine Vorfrage im Sinne des § 38 AVG vor), da ein Antrag auf Alterspension jedenfalls auch dann zulässig sein muß, wenn die versicherte Person eine andere Leistung deshalb noch nicht bezieht, weil sie sie nicht beantragt hat, gleichwohl sie die Anspruchsvoraussetzungen dafür erfüllt hätte.

Das Nichtbestehen eines Anspruches auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 253d ASVG ist somit lediglich ein negatives Tatbestandsmerkmal (und nicht etwa eine Vorfrage) für die Zulässigkeit eines Antrages auf Alterspension.

Stellt sich erst nach rechtskräftiger Zuerkennung der Alterspension, z.B. aufgrund eines Anerkenntnisses oder Vergleichs im sozialgerichtlichen Verfahren, heraus, daß ein solcher Anspruch (auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit) besteht, dann handelt es sich dabei nicht um eine später hervorgekommene, sondern um eine neu entstandene Tatsache, die daher kein Wiederaufnahmsgrund im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG ist. Auch der in der Beschwerde als "Tatsache" (im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG) bezeichnete Gesundheitszustand der mitbeteiligten Partei vor dem 1. Juli 1993 ist - mag er der Beschwerdeführerin auch ohne ihr Verschulden erst im sozialgerichtlichen Verfahren bekanntgeworden sein - kein Wiederaufnahmsgrund im Verfahren über die Alterspension, weil der Gesundheitszustand eines Antragstellers auf Alterspension für die Entscheidung darüber keine rechtlich beachtliche Tatsache ist.

Es liegt aber auch der Wiederaufnahmsgrund des § 69 Abs. 1 Z. 3 AVG nicht vor: Auf die fehlende Vorfragenqualität bezüglich des Bestehens eines Anspruchs auf eine Pensionsleistung wurde dies schon näher ausgeführt. Hinzuzufügen ist noch, daß der Gesetzgeber bei bestehenden Zweifelsfragen, wie dies z.B. bei Schweben eines Verfahrens betreffend eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Erwerbsfähigkeit mit einem potentiell früheren Stichtag der Fall ist, ohnehin die Möglichkeit vorgesehen hat, bei Feststehen des Leistungsanspruches dem Grunde nach mit der Zuerkennung einer vorläufigen Leistung vorzugehen (§ 368 Abs. 2 ASVG).

Im übrigen ist die Rechtsauffassung der belangten Behörde zu billigen, daß ein gerichtlicher Vergleich einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Entscheidung nicht gleichzuhalten und daher kein Wiederaufnahmsgrund im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 3 AVG ist (so schon das hg. Erkenntnis vom 27. März 1987, Zl. 86/11/0032). Alle Ausführungen der Beschwerdeführerin zur Ähnlichkeit des Vergleichs als anspruchserzeugender Rechtsakt und als "ökonomischer" Alternative zu einem Gerichtsurteil laufen auf die Forderung nach einer analogen Anwendung des § 69 Abs. 1 Z. 3 AVG auch auf die gerichtlichen Vergleiche hinaus. Einer solchen analogen Anwendung dieser Gesetzesstelle steht aber entgegen, daß der mitbeteiligten Partei grundsätzlich ein Recht auf Wahrung der Rechtskraft ihres Pensionsbescheides zukommt und die Einräumung einer weiterreichenden Eingriffsmöglichkeit zum Nachteil der Partei, als sie in § 69 Abs. 1 Z. 3 AVG derzeit vorgesehen ist, Sache des Gesetzgebers wäre. Auch sind aus dem Blickwinkel des vorliegenden Beschwerdefalles grundrechtliche Gesichtspunkte, die für die Annahme einer planwidrigen Lücke (als Voraussetzung für eine Analogie) sprächen, nicht erkennbar.

Da die Beschwerdeführerin somit eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides nicht aufzuzeigen vermochte, war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1997:1997080429.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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