TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/9 W187 2189381-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.07.2020
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Entscheidungsdatum

09.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W187 2189381-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und § 10 Abs 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005, iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen gemeinsam mit zwei Cousins schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, traditionell verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Der Beschwerdeführer sei am XXXX in Afghanistan geboren und sunnitischer Moslem. Bis zu seinem achten Lebensjahr habe der Beschwerdeführer im Iran gelebt. Seine Familie halte nach wie vor in seinem Heimatland in der Provinz Kabul, Distrikt XXXX auf. Als Beweggrund für seine Ausreise gab der Beschwerdeführer an, irgendwelche Leute seien zu ihnen gekommen und hätten sie aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Der Beschwerdeführer sei dann geflüchtet. Gefragt, was er bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, führte der Beschwerdeführer aus, man werde ihn umbringen.

3. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerdeführer eine Kopie seiner Tazkira vor und beantragte die Änderung seines Geburtsdatums auf den XXXX . Die belangte Behörde änderte das Geburtsdatum des Beschwerdeführers antragsgemäß und übermittelte ihm eine neue § 51-Karte.

4. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer zunächst an, dass sein Vorname im Protokoll der Erstbefragung falsch geschrieben worden und er nicht verheiratet, sondern ledig sei. Ihm sei ein Mädchen versprochen worden. Auch sei er im Iran und nicht in Afghanistan geboren. Er habe acht Jahre im Iran gelebt und sei dann mit seiner Familie nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach der Schule habe der Beschwerdeführer seinem Vater auf dem Feld geholfen und bei XXXX , einem Parlamentsabgeordneten mit Einfluss in der Regierung, als Security gearbeitet. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, seine Familie habe in Afghanistan Grundstücksstreitigkeiten mit einer bewaffneten Gruppe aus der Provinz Panjsher mit Einfluss in der Regierung gehabt. Ein Mitglied dieser Gruppe sei der Schwager von XXXX , ihr Anführer heiße XXXX . Diese Leute hätten auf Grundstücken von 300 Familien, darunter auch der Familie des Beschwerdeführers, Häuser gebaut und dort ihre Autos verkauft. Der Gemeindeälteste habe davon erfahren und die Vertreter der 300 Familien darüber informiert. Als sie ihre Grundstücke von diesen Leuten zurückgefordert hätten, seien sie von der Gruppierung aus der Provinz Panjsher mit Waffen bedroht worden. Es sei zu einem bewaffneten Kampf gekommen, bei dem ein Cousin des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), verletzt worden sei. Schließlich seien Soldaten der Regierung bzw Polizisten hinzugekommen, die einige Personen von beiden Seiten festgenommen hätten. Dem Beschwerdeführer sei es gelungen, mit ein paar Freunden zu fliehen. Die Leute der Gruppe aus Panjsher seien sofort wieder freigelassen worden. Ihre eigenen Leute seien ein paar Tage eingesperrt gewesen, ehe sie mit Hilfe von XXXX freigelassen worden seien. Die Gruppierung aus Panjsher verfüge über eine Liste von ihren Familien; drei Leute von ihnen seien bereits getötet worden. Sollte es der Gruppierung gelingen, würden sie alle Mitglieder der auf der Liste befindlichen Familien töten. Der Beschwerdeführer und seine beiden Cousins (Beschwerdeführer zu XXXX und XXXX ) hätten befürchtet, ebenfalls getötet zu werden, und Afghanistan aus diesem Grund verlassen. Weiter habe der Beschwerdeführer bei XXXX , einem Gegner der Taliban, als Security gearbeitet. Die Taliban würden seinen Dienstgeber hassen und hätten bereits versucht, ihn zu töten. Sein Haus in XXXX werde noch immer von den Taliban attackiert. Einmal habe eine Rakete auch das Haus der Familie des Beschwerdeführers getroffen. Dabei sei jedoch niemand verletzt worden. Der Beschwerdeführer sei damals am Sicherheitsposten gewesen. Sein Vater und seine Onkel würden immer noch bei XXXX arbeiten. Sie hätten Angst vor den Taliban und vor ihren Feinden aus Panjsher. Bei bestehenden Feindschaften sei es üblich, dass Männer und junge Leute das Ziel (von Angriffen) seien. Den Frauen und Kindern tue man nichts. Als der Beschwerdeführer das letzte Mal mit seinem Vater gesprochen habe, habe ihm dieser erzählt, dass die Raketenangriffe der Taliban auf XXXX zugenommen hätten. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Beschwerdeführer, von den Feinden wegen der Grundstücksstreitigkeiten getötet zu werden. Zudem sei sein Leben durch die Taliban wegen seiner Tätigkeit für XXXX in Gefahr.

5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 AsylG iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erlassen worden wäre.

7. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.

8. Am XXXX leitete die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht ein E-Mail des AMS vom XXXX weiter, wonach dem Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung als Lehrling erteilt wurde.

9. Mit Schriftsatz vom XXXX legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht seinen mit der Firma XXXX geschlossenen Lehrvertrag (Lehrberuf: Installations- und Gebäudetechniker, Lehrzeit: XXXX bis XXXX ), die Bescheidausfertigung des AMS gemäß § 20 Abs 3 AuslBG vom XXXX sowie die Meldung beim Sozialversicherungsträger vor.

10. Am XXXX übermittelte die XXXX der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht die Mitteilung eines Lehrverhältnisses bei einem Asylwerber gemäß § 55a FPG und § 125 Abs 31 bis 34 FPG betreffend den Beschwerdeführer.

11. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an und übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan.

12. Die belangte Behörde teilte mit Schreiben vom XXXX mit, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei, und beantragte die Übersendung des aufgenommenen Verhandlungsprotokolls.

13. Mit Schreiben vom XXXX erkundigte sich die XXXX , ob die für den XXXX anberaumte mündliche Verhandlung stattfinden wird.

14. Mit Schreiben vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht die für den XXXX anberaumte mündliche Verhandlung ab.

15. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an und übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan.

16. Die belangte Behörde teilte mit Schreiben vom XXXX mit, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei, und beantragte die Abweisung der Beschwerde sowie die Übersendung des aufgenommenen Verhandlungsprotokolls.

17. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja und nein.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Nein, ich bin gesund.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ich kann mich an die Erstbefragung nicht genau erinnern. Ich kann mich an aber an die Einvernahme vor dem BFA erinnern.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin in XXXX , in einem Dorf namens XXXX , am XXXX geboren.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Dari ist meine Muttersprache, diese Sprache kann ich sowohl lesen als auch schreiben. Deutsch kann ich auch lesen und schreiben bzw. sprechen.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich gehöre der Minderheit/Volksgruppe der Tadschiken in Afghanistan an, ich bin sunnitischer Moslem und ledig. Meine Familie wollte für mich ein Mädchen aussuchen, um mit ihr verlobt zu werden, ich wollte das nicht. Wenn ich ein Mädchen nicht gesehen und mir nicht gesprochen habe, möchte ich nicht verlobt werden.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: An meinem genauen Alter kann ich mich nicht erinnern, ich war ca. zwischen zwölf und 15 Jahren, das sich nach Afghanistan gezogen bin. Die ganze Zeit habe ich in Kabul (Provinz), im Außendistrikt XXXX gelebt. Dort habe ich mich bis zu meiner Ausreise aufgehalten.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Ich habe in unserem Eigentumshaus, gemeinsam mit meiner Familie gelebt.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich bin elf Jahre in die Schule gegangen. Bis zur dritten Schulklasse bin ich im Iran in die Schule gegangen, danach in Afghanistan. Insgesamt bin ich elf Jahre in die Schule gegangen. Zwei Jahre habe ich in einem Lebensmittelgeschäft als Lehrling gearbeitet.

Richter: Welche abgeschlossene Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Ich habe leider keinen Abschluss.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Meine Familie lebt weiterhin in dem Haus in XXXX .

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen, Freunde, und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Freunde: XXXX sowie Vater, Mutter und zwei Onkel.

Richter: Wollen Ihre Eltern und Geschwister auch nach Österreich kommen?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich bin im dritten Jahr meiner Ausbildung als Installateur, ein weiteres Jahr muss ich auch die Ausbildung machen.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja, ich habe viele Freunde.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Es geht um ein Grundstück in XXXX (D: Norden von Kabul). Das sind unsere Grundstücke. Das ist ein sehr großes Grundstück, das gehört uns, aber die Panjsheris haben unser Grundstück illegal besetzt und dort Häuser und Autoverkaufshaus eingerichtet. Wir sind zur Bezirksverwaltung gegangen und haben uns über diese Personen beschwert.

(Nach Rückübersetzung: Meine Onkel und einige andere Grundbesitzer, insgesamt neun Personen, wurden dort verhaftet. Nach einigen Stunden hat aber XXXX interveniert und sie wurden freigelassen.)

Dort wurde in eine Liste unsere Namen und Adresse eingetragen und wurden auch unsere Fingerabdrücke abgenommen. Diese Panjsheris haben aber Macht und unsere Beschwerde hat kein Gehör gefunden. Diese Person, die unsere Grundstücke gesetzwidrig in Besitz genommen hat, war der Schwager (Bruder seiner Frau) von XXXX (D: ehemaliger Verteidigungsminister, erster Vizepräsident) Dieses Grundstück gehörte unserem „Stamm“. Eines Tages haben sich alle Eigentümer dieses Grundstücks gesammelt und waren ca. über 100 Personen. Wir haben mehrmals Gespräche mit den gesetzwidrigen Besitzern gesucht, sie waren aber zu keinen Gesprächen bereit. Das letzte Mal sind über 100 Personen mit den Bussen zu den Grundstücken gefahren. An dem Tag war ich nicht dabei, ich war in der Arbeit. Beim letzten Mal sind diese Personen mit Bussen zu einem Immobilienbüro gegangen, von der Gegner-seite waren auch einige Personen. Sie haben sich angeblich nicht einigen können und es ist letztendlich zu einem Streit gekommen. Von unserer Seite – wie mein Vater uns erzählt hat – wurden diese Personen von den Leuten von XXXX begleitet. Die Gegnerseite war auch bewaffnet. Es ist zwischen beiden Seiten zu einer bewaffneten Auseinandersetzung gekommen, der Kampf soll zwischen einer halben und einer Stunde gedauert haben. Es sind insgesamt sechs Personen verwundet worden, drei auf unserer und drei auf der Gegnerseite. In der Liste, die ich vorhin erwähnt habe, wurden alle Besitzer der Grundstücke eingetragen, mit ihren Fingerabdrücken. Die Eigentümer haben diese Liste im Immobilienbüro mitgehabt und als es zu einer Auseinandersetzung gekommen ist, hat man die Liste dort liegen gelassen und somit haben die Gegner die Liste in die Hände bekommen. In dieser Auseinandersetzung ist auch mein Cousin namens XXXX ( XXXX ) an der Nase verwundet worden, er wurde mit dem Gewehrkolben geschlagen. Nachdem es zu keiner Einigung gekommen ist, hat eine Feindschaft zwischen uns und den Panjsheris gekommen. Nach diesem Vorfall haben sie dann auf unserer Seite einige Personen getötet, ich habe die Fotos von den Getöteten dem BFA bereits vorgelegt. Wir waren immer unter Gefahr. Wenn eine Feindschaft einmal entstanden ist, dann ist man nirgendwo in Afghanistan in Sicherheit. Die Bedrohung ist überall vorhanden. Bei diesen Feindschaften ist es in Afghanistan meistens so, dass man die Frauen und älteren Personen eher nicht angreift, sondern die jüngeren Mitglieder der Familie sind in Gefahr, somit bestand für mich eine Lebensgefahr. Ich wurde gezwungen, das Land/Meine Heimat zu verlassen. In Österreich habe ich hier viele Menschen kennengelernt, die „österreichische Kultur“ kennengelernt. Ich fühle mich hier frei und in Sicherheit. Einige Personen, einige meiner Freunde, haben auch mir Empfehlungsschreiben mitgegeben. Ich habe auch von der Firma einen „Brief“. Für mich ist das sehr schwierig in Afghanistan wieder leben zu können.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Es wurde zwar mehrmals versucht mich zu töten, aber direkt bin ich nicht angegriffen worden. Sie haben auch schon vor dieser Auseinandersetzung mehrmals meinen Vater aufgefordert, seine Anforderung nach der Rückgabe des Grundstückes aufzugeben, die Liste zu vernichten und die Dokumente des Grundstückes auch ihnen zu geben. Ich habe diese Liste nur ein einziges Mal gesehen, wo mir darauf meine Fingerabdrücke abgenommen wurden.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan aktuell bedroht?

Beschwerdeführer: Die Bedrohung für mein Leben besteht seitens XXXX , dem Schwager von XXXX , und seine Leute. Sie wissen, dass ich einer der Erben bin und deshalb wollen sie mich auch umbringen.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Ein Schlepper wurde durch meinen Onkel väterlicherseits organisiert, mit seiner Begleitung sind wir durch Pakistan gegangen. Von Pakistan hat sein „Gehilfe“ uns – gemeinsam mit meinen Cousins – in den Iran gebracht. Wir sind zwei oder drei Tage in XXXX geblieben und dann sind wir in die Türkei gebracht worden. Von der Türkei wurden wir nach Griechenland gebracht. Ab Griechenland kann ich man den Namen von Ländern nicht mehr erinnern, über welche Länder ich nach Österreich gekommen bin.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Pro Person haben wir 7.000 US-Dollar bezahlt. Wir haben selbst Ersparnisse gehabt und einen Teil hat mein Vater von meinem Onkel mütterlicherseits ausgeborgt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich nehme an, wenn ich Probleme mit den Taliban hätte, wahrscheinlich wäre es möglich, dass ich mich irgendwo anders aufhalten könnte, aber dieser XXXX hat überall und in jeder Provinz seine Leute und ich finde nirgendwo in Afghanistan vor ihnen Schutz. Bei der Entscheidung des BFA wurde geschrieben, dass ich mich in einer anderen Provinz in Afghanistan aufhalten soll, was mir aus angegebenen Gründen nicht möglich ist. Weiters habe ich hier mit einer Lehre begonnen und ich habe Fortschritte in meiner Lehre gemacht. Ich habe mich an dem Leben in Österreich angepasst. Diese waren die Gründe meiner Beschwerde.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Wenn wir nach Afghanistan zurückkehren würden, werden diese Panjsheris sicher die Information bekommen, dass wir zurückgekehrt und für uns bestimmt auf jedem Fall Lebensgefahr. Wenn sie mich heute nicht umbringen, werden sie mich am nächsten Tag umbringen. XXXX ist zwar verstorben, aber seine Leute und sein Schwager sind da.

Rechtsvertreter: Haben Sie jemals im Sicherheitsdienst in Afghanistan gearbeitet?

Beschwerdeführer: Mein Vater und meine Onkel waren mit XXXX . Ich war auch in einem Checkpoint.

Rechtsvertreter: Können Sie uns Näheres darüber erzählen, über diese Arbeit?

Beschwerdeführer: Ich bin von sieben bis zwölf Uhr in die Schule gegangen, danach bis 22 Uhr war ich im Checkpoint des Hauses von XXXX und das war auf einem Berg. Sein Haus ist sehr groß. (Nach Rückübersetzung: XXXX , Zahl: XXXX hat uns Mittagessen zum Checkpoint gebracht).

Rechtsvertreter: Wie ist das Verhältnis von XXXX zu den Taliban?

Beschwerdeführer: Das Verhältnis zwischen diesen beiden ist nicht gut, XXXX kritisiert immer die Taliban.

Rechtsvertreter: Welche Funktion hat XXXX im afghanischen Staat?

Beschwerdeführer: Als ich Afghanistan verlassen habe – damals – war er Mitglied des afghanischen Parlaments. Er ist ein sehr einflussreicher Mann. Wenn wichtige Personen – z. B. XXXX nach Afghanistan gekommen, ist, hat er ihn in seinem Palast besucht. Er ist ein „Jihadi-Anführer“.

Rechtsvertreter: XXXX und Taliban sind verfeindet.

[…]

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers legte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Konvolut von Empfehlungsschreiben aus Juni 2020 vor. Diese Empfehlungsschreiben wurden zum Akt genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und die Verfahrensakten des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, seinen Cousin XXXX ( XXXX ) und seinen XXXX ( XXXX ), insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben im Iran

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari, die er in Wort und Schrift beherrscht. Weiter spricht er ein wenig Paschtu und Deutsch. Der Beschwerde ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Iran in XXXX geboren und lebte bis zu seinem achten Lebensjahr im Iran. Im Alter von ungefähr acht Jahren kehrte der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Afghanistan in die Provinz Kabul, Distrikt XXXX zurück. Dort wuchs er im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus gemeinsam mit seinen Eltern und einem Bruder auf. Der Beschwerdeführer lebte dort bis zu seiner Ausreise Richtung Europa im Herbst XXXX .

Der Beschwerdeführer besuchte im Iran zwei Jahre und in Afghanistan neun Jahre die Schule. Nebenbei half er seinem Vater in der familieneigenen Landwirtschaft bei der Arbeit am Feld. Nach der Schule arbeitete der Beschwerdeführer zwei Jahre als Lehrling in einem Lebensmittelgeschäft. Er war nicht als Security für den Parlamentsabgeordneten XXXX tätig.

Die Eltern des Beschwerdeführers und sein Bruder leben nach wie vor in der Heimatprovinz Kabul im Distrikt XXXX im Heimatdorf. Die Familie des Beschwerdeführers besitzt dort mehrere landwirtschaftliche Grundstücke in der Größe von insgesamt 2 Jerib (ca. 4.000 m²) und lebt von der Landwirtschaft. Die Familie erzielt damit einen Ertrag von ungefähr 100.000 Afghani jährlich. Ihre finanzielle Situation ist im Landesvergleich als gut einzustufen. Weiter leben zwei Onkel des Beschwerdeführers im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer verfügt daher über ein unterstützungsfähiges soziales Netzwerk in seinem Heimatdorf in der Provinz Kabul. Er steht in regelmäßigem telefonischen Kontakt mit seiner Familie. Zwei Tanten väterlicherseits des Beschwerdeführers leben in der Türkei. Zwei Cousins des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), leben als Asylwerber in Österreich in XXXX .

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit zwei Cousins, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), illegal schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er hält sich seit seiner Einreise durchgehend im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich.

Der Beschwerdeführer nahm seit seiner Einreise an mehreren Basisbildungs-, Deutsch- und Integrationskursen – unter anderem an einer Deutsch-Konversationsgruppe – teil und legte im XXXX erfolgreich eine Deutschprüfung auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab. Von XXXX bis XXXX leistete der Beschwerdeführer gemeinnützige Arbeit für die Gemeinde XXXX im Rahmen des Projekts „Beschäftigung von Asylwerbern in Gemeinden“. Anschließend war er ehrenamtlich als Facility Manager im Asylheim tätig und erledigte Reinigungs- und Hausarbeiten für die XXXX . Ab XXXX verrichtete der Beschwerdeführer gemeinnützige Arbeit bei der XXXX als Hilfskraft im Außenteam der Werkstätte XXXX . Sein Aufgabengebiet umfasste Gartenarbeiten, Hausmeistertätigkeiten, Instandhaltungsarbeiten sowie die Reinigung und Überprüfung der Arbeitsgeräte. Seit XXXX ist der Beschwerdeführer als Lehrling für den Lehrberuf Installations- und Gebäudetechniker bei der Firma XXXX beschäftigt. Er bezieht keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Derzeit besucht er die erste Klasse der Berufsschule in XXXX . Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in einem Verein, hat jedoch in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. In seiner Freizeit lernt der Beschwerdeführer Deutsch oder treibt Sport.

In Österreich leben zwei Cousins des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ) und XXXX (Beschwerdeführer zu XXXX ), als Asylwerber in XXXX . Der Beschwerdeführer und XXXX leben seit XXXX in einer gemeinsamen Wohnung in XXXX . XXXX lebt in einem Asylwohnheim in XXXX . Zwischen dem Beschwerdeführer und seinen volljährigen Cousins besteht kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis. Auch besteht keine besonders intensive Bindung, die über das übliche Verhältnis zwischen volljährigen Cousins hinausgehen würde. Auch eine sonstige (gegenseitige) Abhängigkeit des Beschwerdeführers von seinen Cousins liegt nicht vor. Es sind im Verfahren keine besonderen Umstände hervorgekommen, wonach der Beschwerdeführer auf die Unterstützung bzw Hilfe seiner Familienangehörigen in Österreich angewiesen wäre.

Abgesehen von seinen beiden Cousins leben in Österreich keine weiteren Verwandten oder sonstige enge Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch eine bewaffnete Gruppe aus der Provinz Panjsher wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten, mit Verfolgung durch die Taliban wegen unterstellter politischer Gesinnung aufgrund seiner Tätigkeit als Security für einen Parlamentsabgeordneten sowie mit der allgemeinen Sicherheitslage.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Es wurden insbesondere keine Grundstücke der Familie des Beschwerdeführers oder weiterer Familien durch eine bewaffnete Gruppe aus der Provinz Panjsher besetzt. Der Beschwerdeführer forderte daher auch keine Grundstücke gemeinsam mit ungefähr 100 weiteren Personen von einer solchen Gruppierung zurück. Es wurde weder eine Beschwerde bei der Bezirksverwaltung eingebracht, noch kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit einer Gruppe aus Panjsher. Auch wurden keine Personen aus der Gruppe des Beschwerdeführers von der Polizei oder Soldaten festgenommen oder von einer bewaffneten Gruppierung aus der Provinz Panjsher getötet. Insbesondere steht der Name des Beschwerdeführers nicht auf einer Liste von Personen einer Gruppe aus der Provinz Panjsher, die getötet werden sollen. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familienangehörigen wurden im Herkunftsstaat wegen Grundstücksstreitigkeiten bedroht. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr Übergriffen durch Feinde der Familie bzw eine bewaffnete Gruppe aus der Provinz Panjsher bis hin zu seiner Entführung oder Ermordung ausgesetzt wäre, ist nicht zu erwarten.

Weder der Beschwerdeführer noch sein Vater oder Onkel arbeiteten als Security-Personal für einen Parlamentsabgeordneten namens XXXX . Der Beschwerdeführer wurde daher auch nicht wegen seiner Tätigkeit für diesen Parlamentsabgeordneten durch die Taliban oder sonstige Akteure bedroht. Insbesondere gab es keinen Raketenangriff auf das Haus der Familie des Beschwerdeführers. Dem Beschwerdeführer drohen daher im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat auch keine Übergriffe durch die Taliban bis hin zu seiner Tötung oder Entführung wegen unterstellter oppositioneller Gesinnung.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Kabul), insbesondere auch Kabul Stadt, ist von innerstaatlichen Konflikten und stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Es werden Anschläge auf hochrangige Ziele ausgeführt, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2018 wurden 1.866 zivile Opfer dokumentiert, was einer Zunahme von 2 % gegenüber 2017 entspricht. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in und um die Hauptstadt Kabul durch. Zudem wurde im Westen Kabuls nach Herat die höchste Anzahl COVID-19-Infizierter verzeichnet.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Kabul droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinz Balkh gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Mazar-e Sharif-e Sharif gilt als Import-/Exportdrehkreuz sowie als regionales Handelszentrum. Die Stadt steht unter Regierungskontrolle und verfügt über einen internationalen Flughaben, über den sie sicher erreicht werden kann.

Die Provinz Balkh war von einer Dürre betroffen. Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) grundsätzlich gegeben. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in der Stadt Mazar-e Sharif kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Im Fall einer Rückführung des – gesunden und volljährigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut. Er besuchte insgesamt elf Jahre die Schule und verfügt über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft, als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft sowie als Installateur. Zudem spricht er eine Sprache des Herkunftsstaates (Dari) muttersprachlich und wurde ab seinem achten Lebensjahr in Afghanistan im afghanischen Familienverband sozialisiert. Dem Beschwerdeführer ist daher der Aufbau einer Existenzgrundlage in der Stadt Mazar-e Sharif möglich. Er hat keine Sorgepflichten. Seine Familie kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorrübergehend finanziell über die Provinzgrenzen hinweg unterstützen.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben):

1.4.1.1 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an – eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.4.1.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorke

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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