TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/13 W177 2214766-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2020
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Entscheidungsdatum

13.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W177 2214766-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3.Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 18.01.2019, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 19.10.2018 nach vorangehender Einreiseverweigerung in der Bundesrepublik Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.        Im Rahmen der am 19.10.2018 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er in der Provinz Kabul geboren worden und er im Heimatland zwölf Jahre in die Schule gegangen sei. Er sei ledig und seine Muttersprache sei Dari. Er sei muslimischen Glaubens und tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit. In seinem Heimatland würden noch seine Eltern und seine beiden Schwestern aufhältig sein. Er habe Afghanistan verlassen, weil sein Vater einen Bauernhof und viele Grundstücke gehabt hätte. Die Familie habe viele Steuern bezahlen müssen und sei mit den Taliban nicht gut zurechtgekommen. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle Afghanistan verlassen, damit ihm nicht passiere. Im Falle einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Vielleicht würden ihn die Taliban bedrohen.

3.       Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) am 14.11.2018 wurde der BF erneut zu seinen persönlichen Daten gefragt, wobei er anmerkte, dass sein Geburtsdatum falsch protokolliert worden sei und er im Jahr 1988 geboren worden sei. Er führte auch an, dass er in Deutschland einen Cousin habe, weshalb er es auch versucht habe nach Deutschland zu gelangen. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er von den Taliban bedroht worden sei. Die Familie hätte eine Landwirtschaft in der Provinz Logar gehabt. Die Taliban hätten einen Teil der Ernte verlangt und seinem Vater, der von ihnen auch bedroht worden sei, Probleme bereitet. Er selbst habe in einer Firma gearbeitet und sei deswegen von den Taliban bedroht worden. Er sei von den Taliban verfolgt worden. Diese hätten versucht ihn zu töten und auf ihn geschossen. Der Schuss habe nur das Auto getroffen und glücklicherweise nicht ihn.

4.Bei einer weiteren Einvernahme durch das BFA am 16.01.2019 gab der BF an gesund zu sein. Seine Muttersprache sei Dari. Er legte die Kopie einer Tazkira vor und verwies, dass der Dolmetscher sein Geburtsdatum bei der Erstbefragung falsch umgerechnet hätte. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Er sei in Kabul geboren worden und sich dort bis zu seiner Ausreise aufgehalten. Er habe zwölf Jahre die Schule besucht und rund fünf Jahre bei einer Telekommunikationsfirma gearbeitet, die auch Treibstoff an die Funkanbieter in entlegene Provinzen geleifert habe, damit diese ihre Generatoren betreiben hätten können. Sein Vater besitze ihm vererbte Grundstücke in der Provinz Logar. Diese hätte sein Vater alleine bewirtschaftet.

Die Aufgabe des BF in seiner Firma sei es gewesen, dass er die Treibstofflieferungen überprüfe. Dies habe er in Kabul von einem Büro aus gemacht. Er habe einen Tag nach seinem letzten Arbeitstag Afghanistan verlassen. Seinen Vertrag habe er nicht gekündigt. Er sei früh morgens ausgereist, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei. Seine Schwester habe ihm ein Empfehlungsschreiben seiner Firma per Mail geschickt, das sie sich nach seinem Verlangen hat ausstellen lassen. Warum dieses Empfehlungsschreibens mit 02.12.2015 datiert sei, könne er sich nicht erklären. Wahrscheinlich sei dieses Datum falsch.

Ein LKW-Konvoi sei in Logar angegriffen worden, wobei der BF glücklicherweise im ersten LKW gewesen und der zweite LKW getroffen worden sei. Er habe seinem Chef bei der Rückkehr in der Firma von diesem Vorfall berichtet, jedoch sei dieser nicht mehr im Büro gewesen. Er habe diesen am nächsten Morgen noch anrufen wollen, jedoch habe dieser nicht abgehoben. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in seinem Herkunftsland seien gut gewesen.

Sein Vater sei mittlerweile verstorben, weil ihn die Taliban auf den Grundstücken erwischt und getötet hätten. Seine Mutter und seine beiden Schwestern, die noch in die Schule gehen würden, würden nach wie vor in Kabul leben. Seine Mutter habe ihm mitgeteilt, dass die Taliban seinen Vater aufgesucht hätten und ihm die Frist von einer Woche eingeräumt hätten, um ihnen seinen Sohn zu übergeben. Dies sei am Tag des Anschlages gewesen. Aus diesem Grund habe ihm sein Vater auch gesagt, dass er sein Land verlassen solle. Fünf Tage vor dem Telefonat mit seiner Mutter sei sein Vater getötet worden. Nahe Angaben oder Umstände zur Tötung des Vaters habe der BF jedoch nicht angeben können. Sein Vater sei in Kabul bestattet worden. Nähere Angaben zu den Begräbnisfeierlichkeiten habe der BF nicht machen können. Er sei regelmäßig in Kontakt mit seiner Familie, etwa ein bis zweimal pro Monat. Zuletzt habe er vor zehn Tagen Kontakt mit seiner Familie gehabt, beim vorletzten Kontakt habe er vom Tod seines Vaters erfahren. Nach dem Tod des Vaters hätten die Taliban noch zweimal auf dessen Handy angerufen. Seine Schwester habe abgehoben und die Taliban hätten ihr gesagt, dass sie ihren Bruder auf jeden Fall finden würden. Die Taliban seien in Kenntnis seines Elternhauses, weil diese in Kabul alles wissen würden.

Er selbst sei ledig und habe keine Kinder. In Kabul würden noch ein Onkel und zwei Tanten leben. In Österreich habe er keine Verwandten. In Österreich habe er keine familiären oder privaten Bindungen Er lebe hier von der Grundversorgung. Weder in Österreich noch in seinem Heimatland sei er vorbestraft oder inhaftiert gewesen. Seine Reise nach Österreich habe etwa drei Monate gedauert.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er als Supervisor mit zwei Tanklastwagen in der Provinz Logar unterwegs gewesen sei. An diesem Tag habe er fünf Funkmasten mit Treibstoff beliefert. Er sei im ersten LKW gesessen, doch der zweite LKW sei getroffen und dessen Fahrer getötet worden. Es sei ihnen die Flucht gelungen und so hätten sie das Gefährt wieder aufs Firmengelände nach Kabul gebracht. Dort hätten sie bei den Verantwortlichen Bericht erstattet und seien nach Hause gegangen. Als in der Nacht sein Vater nach Hause gekommen sei, habe er aufgebracht gewirkt und mitgeteilt, dass ihn die Taliban verprügelt hätten und er den BF an diese übergeben müsse. Er habe dem BF gesagt, dass er das Land verlassen müsse. So sei er dann am nächsten Morgen nach Herat und weiter nach Europa aufgebrochen. Die Taliban seien beim Angriff auf den LKW vermummt gewesen und plötzlich aus dem Wald erschienen. Dies habe sich am Nachmittag zu getragen. Der Fahrer seines LKW habe ihm mitgeteilt, dass der Fahrer des zweiten LKWs getroffen worden sei. Was mit dem dortigen Beifahrer passiert sei, wisse er nicht. Seinem Vater habe er von diesem Vorfall berichtet. Für den Angriff auf den LKW und die Ermordung seines Vaters seien die Taliban verantwortlich. Zuvor habe seine Familie keine Probleme mit den Taliban gehabt. Die Taliban hätten Interesse am BF gehabt, weil sich die Funkmasten inmitten behördlicher Organisationen befunden hätten, wodurch die Taliban sich über den BF Zugang verschaffen hätten können. Er vermute dies nur, jedoch hätten die Taliban seinem Vater gesagt, dass der BF für die Regierung arbeite und dies ein Verbrechen sei. Die Taliban hätten seinen Vater ermordet, weil der BF geflohen sei. Warum die Taliban seinen Vater nach dem Fristablauf nicht zur Rede gestellt hätten, wisse er nicht. Warum seine Angaben zur polizeilichen Einvernahme zur Gänze divergieren würden begründete der BF dahingehend, dass es verschiedene Talibangruppen geben würde. Wegen der Steuerleistung habe es mit den Taliban keine Probleme gegeben, weil sein Vater immer gezahlt hätte. Warum er die persönliche Bedrohung durch die Taliban bei der Ersteinvernahme nicht einmal im Ansatz erwähnt habe, begründete der BF mit den Reisestrapazen und den Verständnisschwierigkeiten mit einer iranischen Dolmetscherin.

Innerhalb Afghanistans könne er nicht fliehen, weil das ganze Land von den Taliban kontrolliert werde. Er befürchte, dass er im Falle einer Rückkehr, so wie sein Vater, getötet werde.

5.        Mit Bescheid vom 18.01.2019 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde festgehalten, dass der BF als Person gänzlich unglaubwürdig gewesen sei. Das Fluchtvorbringen sei ein Konstrukt gewesen, sodass auch davon auszugehen sei, dass sein Vater noch leben würde. Die Angaben zwischen der polizeilichen Erstbefragung und Einvernahme beim BFA seien völlig widersprüchlich gewesen. Die in den Raum gestellte Fehlleistung der Dolmetscherin würde die Unglaubwürdigkeit der Person des BF noch unterstreichen. Das vorgelegte Empfehlungsschreiben würde vom Ausstellungsdatum her auch nicht in Zusammenhang mit seiner Fluchtgeschichte stehen, was erneut für die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF spreche. Der fluchtauslösende Vorfall sei seitens des BF auch nur sehr vage und oberflächlich geschildert worden. Neben dem detailarmen Vorbringen der Fluchtgeschichte sei dieser auch nicht zu entnehmen gewesen, warum die Taliban überhaupt Interesse am BF haben hätten sollen. Dies könne auch nicht dem Vorbringen entnommen werden, warum der Vater des BF ihn an die Taliban ausliefern hätte sollen. Ebenso sei anzumerken gewesen, dass der BF nur detailarm geschildert habe, warum sein Vater zusammengeschlagen worden sei und die Taliban Interesse am BF bekundet hätten. Die oberflächlichen Angaben seien nicht nachvollziehbar gewesen, sei dies doch das zentrale Element der Fluchtgeschichte gewesen. Abgesehen von dieser Vagheit sei das Vorbringen gravierend widersprüchlich gewesen, weil die Zeitangaben des BF bezüglich des in Erfahrung Bringens des Todes seines Vaters dazu führen, dass sein Vater Mitte August 2018 bedroht worden wäre, der BF aber bereits am 26.07.2018 sein Heimatland verlassen habe. Hierbei sei es auch nicht nachvollziehbar gewesen, dass der BF kaum Kontakt mit der Familie gehabt haben soll. Weitere Widersprüche habe der BF auch dahingehend gemacht, dass er unterschiedliche Varianten über die Bekanntmachung des Vorfalles in Firma und des Zeitpunktes in dem der BF von seinem Vater erfahren hätte, wann die Taliban Interesse an seiner Person bekundet hätten.

Es sei daher nicht nachvollziehbar gewesen, warum die Taliban auf den BF einen Anschlag verüben hätten sollen, bevor sie Interesse an seiner Person bekundet hätten. Dass das Vorbringen konstruiert gewesen sei, zeige auch das gesteigerte Vorbringen im Vergleich zur polizeilichen Erstbefragung, wo der BF angegeben habe, dass die Familie mit den Taliban nicht gut zurechtgekommen sei und er daraus eine Furcht abgeleitet habe, während der BF in weiterer Folge eine persönliche Bedrohungssituation geschildert habe. Es sei in keiner Weise nachvollziehbar gewesen, warum der BF diese Vorfälle nicht einmal ansatzweise bei der Erstbefragung erwähnt habe. Ebenso habe er widersprüchlich angegeben, dass es Probleme aufgrund der Steuerleistung an die Taliban gegeben habe, dies aber im Laufe des Verfahrens dann doch kein Problem mehr dargestellt habe.

Eine Rückkehr nach Afghanistan sei auf jeden Fall zumutbar, zumal davon auszugehen sei, dass sich die Familie des BF noch in Kabul aufhalten würde, der BF über eine profunde Schulbildung verfüge, er seine Arbeitsfähigkeit in Afghanistan langjährig unter Beweis gestellt habe sowie er gesund und arbeitsfähig sei. Im Übrigen würde sich der BF auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif selbst versorgen können. Bezüglich des Ausspruches einer Rückkehrentscheidung sei ein Überwiegen der öffentlichen Interessen festzustellen gewesen.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 18.01.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 18.01.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

7.        Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 15.02.2019 erhobene und fristgerecht beim BFA eingelangte Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die belangte Behörde eine mangelhafte Beweiswürdigung getätigt habe, weil der BF mit Chef zwei verschiedene Personen gemeint habe und daraus kein Widerspruch ableitbar gewesen sei. Im Übrigen habe der BF auch angegeben, dass er aufgrund der Reisestrapazen bei der Erstbefragung psychisch beinträchtig gewesen sei. Außerdem würde die Erstbefragung nicht dazu dienen, detaillierte Angaben über die Fluchtgründe zu machen. Der BF habe sich im Verfahren immer auf eine Verfolgung durch die Taliban berufen, weshalb hier auch kein gesteigertes Vorbringen erkennbar gewesen sei. Dies habe die belangte Behörde allerdings nicht berücksichtigt. Der BF habe eine Verfolgung durch die Taliban geltend gemacht und aufgrund der feindseligen politischen Gesinnung gegenüber diesen, würde dem BF ein erhöhtes Verfolgungsrisiko in seinem Herkunftsstaat drohen. Daher hätte ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müssen. Aufgrund der in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage insbesondere in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul hätte dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gewährt werden müssen. Die Rückkehrentscheidung sei ebenfalls auf Dauer unzulässig zu erklären gewesen, weil dies eine nicht bloß vorübergehende Verletzung des Privat- und Familienlebens des BF nach sich ziehen würde. Ebenso sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt worden.

8.       Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 15.02.2019 vom BFA vorgelegt. Die belangte Behörde beantrage die Abweisung der Beschwerde und verzichtete zugleich auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

9. Mit Schreiben vom 21.02.2020 kündigte die belangte Behörde die Teilnahme eines Behördenvertreters an der für 10.03.2020 angesetzten mündlichen Verhandlung an.

10. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 10.03.2020 im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung, persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm, wie in einem Entschuldigungsschreiben vom 09.03.2020 angekündigt, entschuldigt nicht an der Verhandlung teil.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er 1988 geboren worden sei. Die rechtsfreundliche Vertretung führte aus, dass sich der BF die Angaben bei der polizeilichen Erstbefragung nicht mehr erklären könne, jedoch selbst das BFA meine, dass diesen Angaben im weiteren Verfahren keine Bedeutung zukomme. Der BF habe im Verfahren immer die Wahrheit gesagt und führte aus, dass er als Supervisor darauf habe achten müssen, dass die Tanks der Generatoren, die den Strom für die Handyfunkmasten lieferten, immer mit Dieselöl gefüllt worden waren. Es habe bei den Funkmasten immer zwei Leute aus der Region gegeben, die den BF über die Funkmasten informiert hätten. Sein Aufgabengebiet habe zumeist die Provinz Logar umfasst. Ob seine Firma noch weitere Aufgabenbereiche gehabt habe, wisse der BF nicht. Dies begründete der BF dahingehend, dass seine Dienststelle nicht beim Büro der Firma gewesen sei und der BF keine andere Tätigkeit ausgeführt hätte. An seiner Dienststelle hätten etwa 20 bis 25 Personen gearbeitet. Seine Aufgabe sei es gewesen, die Fahrten und Lieferungen zu dokumentieren. Die Befüllung des Generators sei auch nicht in seinen Aufgabenbereich gefallen. Es seien immer zwischen 500 und 1000 Liter Diesel geliefert worden. Diese seien in oberirdische Tanks und Kanister, die jeweils verschiedene Größen gehabt hätten, geliefert worden. Wie groß die LKW gewesen seien, könne er nicht sagen, weil er mit verschiedenen Fahrzeugen gefahren sei und er nie danach gefragt habe. In jedem Fahrzeug sei immer ein Supervisor mitgekommen. So auch am Tag des Überfalls im zweiten Fahrzeug. Es sei aber selten vorgekommen, dass zwei LKW unterwegs gewesen seien. An diesem Tag hätten sie aber zehn oder zwölf Masten beliefert. Warum der Dienstvertrag und Empfehlungsschreiben nicht unterschreiben seien, wisse der BF nicht. Er habe nur seine Schwester darum gebeten, dass sie ihm diese Dokumente besorge. Auf Vorhalt, dass er vor dem BF angegeben habe, dass er am Tag des Überfalls fünf Masten beliefert hätte, führte der BF aus, dass dies richtig sei, weil es zwei LKW gewesen wären und jeder von diesen fünf Masten beliefert hätte. Vor diesem Vorfall habe es auch einmal einen Angriff gegeben. Der LKW sei aus großer Entfernung bei normalem Fahrttempo angeschossen worden, jedoch habe der BF dies nicht ernst genommen, weshalb er diesbezüglich auch keine genauen Angaben mehr tätigen könne. Beim zweiten Vorfall sei aus der Nähe auf das Fahrzeug geschossen und dieses getroffen worden. Der Fahrer und er seien weggelaufen, was der BF auf Nachfrage der Dolmetscherin auf weggefahren änderte. Der Fahrer habe ihm gesagt, dass der Fahrer des zweiten LKW getroffen worden sei. Sie seien das vordere Fahrzeug gewesen und ihr Fahrzeug hätte auch Einschüsse gehabt. Mit welchen Waffen auf sie geschossen worden sei wisse der BF nicht er gehe davon aus, dass es Gewehre gewesen seien. Das Motiv des Angriffs sei es gewesen, dass die Funkmasten teilweise auf militärischem Gebiet gewesen wären und die Taliban davon ausgegangen seien, dass mit dieser Arbeit die Regierung unterstützt werde. Die Taliban hätten den BF erkannt, weil sie bei den Feldern seines Vaters gewesen seien und diesen zusammengeschlagen hätten. Dies habe er erfahren, als er wieder zu Hause gewesen sei, nachdem das Fahrzeug zur Firma gebracht worden sei. Sein Vater habe ihm auch mitgeteilt, dass er den BF innerhalb von einer Woche auszuliefern habe. Beide Vorfälle hätten sich am selben Tag zugetragen. Er sei am nächsten Tag aus Afghanistan geflohen. Sein Vater sei nach etwa drei Monaten wieder auf den Felder gewesen, wo ihn die Taliban mitgenommen und getötet hätten. Dass andere Kollegen angegriffen worden seien, habe er manchmal gehört. Jedoch habe er nicht detailliert nachgefragt. Dies habe er immer in den monatlichen Gesprächsrunden erfahren. Von Bedrohungen habe er nichts erfahren, jedoch könne er diese nicht ausschließen. Sicherheitsvorkehrung seien keine getroffen worden. Der Chef sei nicht am Firmengelände gewesen und jeder habe gewusst, wie die Sicherheitslage in Afghanistan sei und dass man gegen diese nichts machen könne. Die Arbeit sei risikoreich gewesen, jedoch habe es gutes Geld dafür gegeben.

Nach Erörterung der Rückkehrsituation des BF führte die rechtsfreundliche Vertretung aus, dass der BF in Afghanistan mit einer Verfolgung aufgrund der unterstellten politischen bzw. religiöse Gesinnung durch die Taliban zu rechnen habe. Aus den UNHCR-Richtlinien könne entnommen werden, dass der BF einer Risikogruppe angehöre, weil er eine Person sei, die mit der afghanischen Regierung bzw. ausländischen Truppen zusammengearbeitet habe. Da auch Gutachten von Stahlmann und Giustozzi zu entnehmen sei, dass die Taliban über ein landesweites Netzwerk verfügen würden, stünde dem BF auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Danach erfolgte der Schluss der mündlichen Verhandlung samt Hinweis, dass die Verkündung der Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfällt.

11.     Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Afghanischer Arbeitsvertrag in englischer Sprache

?        Afghanisches Empfehlungsschreiben in englischer Sprache

?        Afghanische Tazkira (Kopie)

?        Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX auch XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben den Provinz Kabul geboren. Er hat zwölf Jahre lang in Afghanistan die Schule besucht. Daneben hat er auch fünf Jahre Arbeitserfahrung als Supervisor gesammelt. Im Sommer 2018 verließ der BF sein Heimatland um nach Europa zu gelangen. Nach einer Einreiseverweigerung nach Deutschland hat der BF am 19.10.2018 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Es wird festgestellt, dass die Familie des BF nach wie vor in Afghanistan aufhältig ist.

Der BF ist in seinem Heimatland auch nicht vorbestraft, hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv. Die Herkunftsregion seiner Familie ist die Provinz Kabul. Der BF ist in Österreich ebenfalls unbescholten.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan nach Europa gereist, wo er schließlich in Österreich, nach einer Einreiseverweigerung in Deutschland, wo sein Cousin aufhältig ist, seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 19.10.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, weil sein Vater einen Bauernhof und viele Grundstücke gehabt hätte. Die Familie habe viele Steuern bezahlen müssen und sei mit den Taliban nicht gut zurechtgekommen. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle Afghanistan verlassen, damit ihm nicht passiere. Im Falle einer Rückkehr sei sein Leben in Gefahr. Vielleicht würden ihn die Taliban bedrohen. Im Laufe des Verfahrens ändert sein Vorbringen dahingehend, dass er im Zuge seiner Arbeit während der Heimfahrt von den Taliban angegriffen worden sei und die Taliban zeitgleich bei seinem Vater seine Herausgabe gefordert hätten.

Festgestellt wird, dass dieses Vorbringen des BF nicht glaubwürdig ist und ihm diesbezüglich in Afghanistan auch keine asylrechtlich relevante Verfolgungsgefahr drohe.

Ebenso wird festgestellt, dass der BF aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit einer Verfolgung von asylrelevantem Ausmaß ausgesetzt ist.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt ist.

Es kann festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem BF auch keine Verfolgung durch die Taliban oder durch andere Personen.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Aufgrund seiner Angaben konnte die Provinz Kabul als Herkunftsregion des BF ausgemacht werden. Aufgrund der des Vorliegen eines sozialen Netzwerkes in dieser und der persönlichen Umstände des BF, der gesund und arbeitsfähig ist sowie über profunde Schulbildung und jahrelange Arbeitserfahrung verfügt, ist eine Rückkehr in diese Provinz dem BF zumutbar. Dem BF steht jedenfalls auch eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Herat und in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, auch wenn der BF noch nie in Mazar-e Sharif oder in Herat gelebt hat. Der BF kann sowohl Mazar-e Sharif als auch Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit, welche ein Rückkehrhindernis darstellen würde. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF. Der BF ist gesund.

Der BF liefe im Falle einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er ist in der Lage, in Mazar-e Sharif oder Herat eine einfache Unterkunft zu finden bzw. am Erwerbsleben teilzunehmen. Zudem verfügt der BF über eine profunde Schulbildung und Arbeitserfahrung als Supervisor.

Der BF hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde im Verfahren über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.

In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat beim Aufbau einer Existenzgrundlage von Familienangehörigen nicht unterstützt wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ihn seine in Afghanistan lebenden Angehörigen im Falle einer Rückkehr wieder unterstützen würden.

Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, weil er in Afghanistan geboren wurde und er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF hält sich seit Oktober 2018 in Österreich auf.

Der BF keine weiteren Familienangehörigen in Österreich.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. Beziehungen, Lebensgemeinschaften) festgestellt werden.

Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und war auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF kein Mitglied von Vereinen.

Der BF besuchte einen Sprachkurs und kann dies auch durch eine Teilnahmebestätigung nachweisen. Er ist daher bestenfalls in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren. Er ist auch in seiner Freizeit nicht nachhaltig an einer Weiterbildung interessiert und war bisher in Österreich weder ehrenamtlich tätig noch erwerbstätig. Er lebt von der Grundversorgung und ist daher in Österreich nicht selbsterhaltungsfähig.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.5.1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als “Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.5.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Seraj

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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