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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung und Ausweisung nach Bangladesch; Setzung wesentlicher Integrationsschritte in einer Phase, in der sich der Beschwerdeführer nicht seines "unsicheren Aufenthalts" bewusst sein musste; kein Verschulden des Beschwerdeführers an der langen VerfahrensdauerSpruch
. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, den Ausspruch, dass die Ausweisung nach Bangladesch zulässig ist und die vierzehntätige Frist zur Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer stellte am 11. Oktober 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23. Oktober 2012 wurde dieser Antrag abgewiesen und der Beschwerdeführer nach Bangladesch ausgewiesen. Dieser Bescheid wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Juli 2015, L508 1430358-1/9E, aufgehoben und die Sache an das (mittlerweile zuständige) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) zurückverwiesen. Zusammengefasst wurde ausgeführt, dass die Beweiswürdigung unschlüssig und mangelhaft sei.
2. Mit Bescheid des BFA vom 2. Februar 2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 11. Oktober 2012 abgewiesen, kein Aufenthaltstitel gemäß §57 AsylG 2005 erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung nach Bangladesch zulässig ist und eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen gesetzt.
3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 19. November 2019 ab. Zur Abweisung der Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Rückkehrentscheidung in das Privatleben des Beschwerdeführers eingreife; dieses jedoch dadurch gemindert sei, dass sich der Beschwerdeführer nicht habe darauf verlassen können, sein Leben auch nach Beendigung des Asylverfahrens in Österreich fortzuführen. Vielmehr hätte er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen.
3.1. Bei der Frage, ob das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers in einem Zeitpunkt entstand, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (§9 Abs2 Z8 BFA-VG), könne "maßgeblich relativierend einbezogen werden, dass ein Teil der vom BF gesetzten integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem er sich (spätestens nach Abweisung seines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz durch das BFA zuletzt im Februar 2018) seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste" (angefochtene Entscheidung, 47 f.). Daran könne auch die lange Verfahrensdauer nichts ändern, mag den Beschwerdeführer an der Verfahrensdauer auch kein Verschulden treffen.
3.2. Dass der Beschwerdeführer bemüht sei, seine Deutschkenntnisse zu verbessern, werde durchaus als Bestreben angesehen, sich in Österreich zu integrieren. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, käme den Deutschkenntnissen des Beschwerdeführers jedoch kein wesentliches Gewicht zu. Der Beschwerdeführer habe die in Österreich verbrachte Zeit unbestritten benutzt, um sich vor allem in beruflicher Hinsicht zu integrieren (Abschluss einer Lehre, Eingliederung am Arbeitsmarkt, Selbsterhaltungsfähigkeit). Er sei in der Gastronomie tätig und finanziere sich damit seinen Lebensunterhalt. Daraus könne jedoch nicht auf eine tiefgreifende berufliche Integration geschlossen werden. Zwar komme der Tätigkeit des Beschwerdeführers im Rahmen der Interessensabwägung eine gewisse Bedeutung zu; es gelte jedoch zu bedenken, dass er sich während der Aufnahme dieser Tätigkeit seines unsicheren Aufenthaltes in Österreich habe bewusst sein müssen. Dem Verwaltungsgerichtshof zufolge komme der Ausübung einer Beschäftigung sowie einer etwaigen Einstellungszusage oder Arbeitsplatzzusage eines Asylwerbers, der lediglich über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz und über keine Arbeitserlaubnis verfüge, zudem keine wesentliche Bedeutung zu. Insofern falle die Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers bei der Abwägungsentscheidung nicht außergewöhnlich stark ins Gewicht. Seine privaten Bindungen könne der Beschwerdeführer anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, über Besuche) aufrechterhalten. Seit Juni 2019 befinde er sich in einer Beziehung. Angesichts dieser relativ kurzen Beziehungsdauer könne noch nicht von einer besonders nachhaltigen Beziehung ausgegangen werden. Dem zentralen Melderegister sei zu entnehmen, dass sie nicht zusammenlebten.
3.3. Der Beschwerdeführer habe den überwiegenden und prägenden Teil seines Lebens im Herkunftsstaat verbracht und dort auch die Schule besucht. Es sei daher davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestehen, zumal er dort über familiäre Anknüpfungspunkte verfüge und die Sprache beherrsche. Zwar sei eine raschere Erledigung des Verfahrens denkbar gewesen. Dennoch liege hier kein Sachverhalt vor, der die zeitliche Komponente in den Vordergrund treten ließe, sodass auf Grund der Verfahrensdauer von einem Überwiegen der privaten Interessen am Verbleib im Bundesgebiet auszugehen wäre. Ein zehnjähriger Aufenthalt sei nicht gegeben, weshalb dem Beschwerdeführer nicht bereits auf Grund der Aufenthaltsdauer ein aus Art8 EMRK abgeleitetes Aufenthaltsrecht zukomme. Zusammenfassend sprächen folgende Aspekte für eine bestehende Integration und ein schützenswertes Privatleben des Beschwerdeführers: die Dauer des Aufenthalts, Deutschkenntnisse, Bekannten- und Freundeskreis, Vereinsmitgliedschaft, Berufstätigkeit, Partnerin. Allerdings würden in einer Gesamtschau folgende öffentliche Interessen überwiegen, die gegen den Verbleib des Beschwerdeführers in Österreich sprächen: illegale Einreise, unsicherer Aufenthalt, auf Asylrecht gegründeter Aufenthalt, der sich auf nicht glaubhaftes Vorbringen gestützt habe.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht und das BFA haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.
II. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
1.1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer 2014 bis 2017 eine Lehre als Koch absolviert, die Berufsschule besucht und 2019 die Lehrabschlussprüfung positiv abgeschlossen hat. Dem Arbeitgeber des Beschwerdeführers seien zwei Jahre in Folge (Juni 2018 bis Juni 2020) Beschäftigungsbewilligungen für den Beschwerdeführer erteilt worden. Der Beschwerdeführer sei selbsterhaltungsfähig. Er habe mehrere Deutschkurse besucht und die B1-Prüfung positiv bestanden, wohne in einer Mietwohnung und sei Mitglied der Bangladesch-Österreichischen Gesellschaft, eines Fitnessvereines sowie des Roten Kreuzes. Er habe einen Bekannten- und Freundeskreis in Österreich und befinde sich seit ca. Juni 2019 in einer Beziehung.
1.2. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führt das Bundesverwaltungsgericht eingangs aus, dass der Beschwerdeführer "einen Teil" der Integrationsschritte in einem Zeitraum gesetzt habe, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätte müssen; dieser Zeitraum beginne laut Bundesverwaltungsgericht spätestens mit der abweisenden Entscheidung des BFA im Februar 2018. Orientiert man sich an diesem Zeitpunkt, ist aber festzustellen, dass wesentliche Integrationsschritte – insbesondere die Absolvierung der gesamten Lehre (2014 bis 2017) und der B1-Deutschprüfung (2016) – vor Februar 2018 gesetzt wurden, also in einer Phase, in der sich der Beschwerdeführer gerade nicht seines "unsicheren Aufenthalts" bewusst sein musste.
Obwohl also nur ein – vergleichsweise kleiner – Teil des Zeitraumes, in dem der Beschwerdeführer im Bundesgebiet aufhältig war und Integrationsschritte gesetzt hat, von einem "unsicheren Aufenthalt" behaftet war, misst das Bundesverwaltungsgericht diesem Kriterium ein besonderes Gewicht bei: Zunächst erachtet es das "Familien- und Privatleben" des Beschwerdeführers ganz pauschal auf Grund des "unsicheren Aufenthalts" als weniger schützenswert; es führt dieses Kriterium aber auch speziell bei der Gewichtung der beruflichen Tätigkeit des Beschwerdeführers pauschal negativ ins Treffen und zieht es zusammenfassend undifferenziert als das entscheidende öffentliche Interesse heran, das gegen den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet spricht.
1.3. Das Bundesverwaltungsgericht lässt dabei außer Betracht, dass den Beschwerdeführer an der langen Verfahrensdauer kein Verschulden trifft. Aus den Entscheidungsbegründungen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Juli 2015 geht außerdem hervor, dass die Verfahrensverzögerung durch das rechtswidrige Handeln der Behörde verursacht wurde. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes liegt es in der Verantwortung des Staates, die Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung – ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass dem Beschwerdeführer die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre – wie hier insgesamt sieben Jahre vergehen (vgl VfGH 25.2.2020, E4087/2019; VfGH 19.9.2014, U2377/2012; VfSlg 19.203/2010). Es musste daher der Umstand, dass nach der behördlichen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers am 11. Oktober 2012 bis zur Erlassung der angefochtenen Entscheidung am 19. November 2019 mehr als sieben Jahre vergangen sind, den Beschwerdeführer nicht dazu veranlassen, von einem unsicheren Aufenthaltsstatus auszugehen; vielmehr durfte die lange Verfahrensdauer – und insbesondere die Aufhebung der ersten negativen Entscheidung (vgl VfSlg 19.203/2010) – die Erwartung wecken, dass nicht zwangsläufig mit einer abweisenden Entscheidung zu rechnen sei (vgl VfGH 25.2.2020, E4087/2019; VfGH 19.9.2014, U2377/2012).
1.4. Das Bundesverwaltungsgericht bringt das Kriterium "unsicherer Aufenthalt" demnach übergewichtet in Anschlag und verletzt daher Art8 EMRK.
2. Im Übrigen (hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt: Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, den Ausspruch, dass die Ausweisung nach Bangladesch zulässig ist und die vierzehntätige Frist zur Ausreise, abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E4656.2019Zuletzt aktualisiert am
14.10.2020