Entscheidungsdatum
12.06.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I413 2225032-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Martin Attlmayr, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch: Edward DAIGNEAULT, solicitor, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Wien vom 27.09.2019, Zl. XXXX,
nach Durchführung einer Verhandlung am 04.03.2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte am 08.10.2016 in Österreich erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab er an, dass seine Mutter im Jahr 2014 schwer krank geworden sei und viel Geld benötigt worden sei, um ihr zu helfen. Ein Kult hätte ihm vorgeschlagen, viel Geld zu geben, wenn er sich ihnen anschließen würde. Zuerst habe er verweigert, aber seine Mutter sei es immer schlechter gegangen, also habe er sich angeschlossen. Im Jahr 2016 sei es zu einem gewalttätigen Konflikt mit einem anderen Kult gekommen. Er sei aufgefordert worden, in den Krieg zu ziehen, aber er habe sich geweigert. Im Februar 2016 seien Angehörige des Kults zu ihm nach Hause gekommen und hätten ihm gedroht. Es sei zu einem Gerangel gekommen und ein Schuss sei abgefeuert worden. Sein jüngster Sohn John sei dabei gestorben. Er habe sich dann gezwungen gesehen, seine Heimat und seine Familie zu verlassen, um seine und ihre Sicherheit zu gewährleisten.
2. Aus einer EURODAC-Abfrage der belangten Behörde ergab sich, dass der Beschwerdeführer am 17.09.2016 in Italien erkennungsdienstlich behandelt wurde. Die belangte Behörde richtete am 11.10.2016 ein auf Art 13 Abs 1 Dublin-III-VO gestütztes Aufnahmeersuchen mit dem Hinweis auf den EURODAC-Treffer an italien. Mit Schreiben vom 15.12.2016 teilte das Bundesamt der italienischen Dublin Behörde mit, dass aufgrund der nicht fristgerecht erfolgten Antwort Italien gemäß Art 22 Abs 7 Dublin III-Verordnung für das gegenständliche Asylverfahren über den Antrag vom 08.10.2016 zuständig ist.
3. Am 30.01.2017 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich einvernommen und zu seinem Aufenthalt in Italien befragt. Dabei gab er an, es seien ihm in Italien Fingerabdrücke abgenommen worden, er wisse aber nicht, ob das ein Asylantrag gewesen sei. Er habe Italien verlassen, weil sein Leben dort in Gefahr gewesen sei. Einige seiner Verfolger aus Afrika seien in Italien gewesen, er sei überrascht gewesen als er sie in einem Camp in Italien gesehen habe. Er habe Angst gehabt, dass sie nach seinem Leben trachten würden. Nachdem sie seinen Sohn getötet hätten, habe er Angst gehabt, dass sie ihn auch töten würden oder jemanden beauftragen würden, ihn zu töten. Bevor er zum zweiten Mal seine Fingerabdrücke abgeben habe müssen, habe er das Camp verlassen, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei. Die Mitglieder der Geheimgesellschaft hätten ihm Geld gegeben, um seine kranke Mutter behandeln zu lassen, er habe aber das Geld nicht zurückzahlen können. In Italien sei er am Bahnhof gewesen, weil er im Camp nicht mehr schlafen habe können. Ein Mann habe ihm seine Hilfe angeboten, er habe ihm alles erzählt und er habe ihn nach Österreich gebracht.
4. Mit Bescheid vom 27.02.2017, Zl. XXXX, wies die belangte Behörde den am 09.10.2016 gestellten Antrag des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs 1 AsylG als unzulässig zurück. Für die Prüfung des Antrags ist gemäß Art 13 Abs 1 iVm Art 22 Abs 7 der Verordnung EU 604/2013 Italien zuständig (Spruchpunkt I.). Zugleich wurde gemäß § 61 Abs 1 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer eine Anordnung zur Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs 2 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II.).
5. Mit Erkenntnis vom 05.04.2017, W161 2150345-1/2E, des Bundesverwaltungsgerichts wurde die vom Beschwerdeführer am 14.03.2017 eingebrachte Beschwerde gegen den Bescheid vom 27.02.2017 als unbegründet abgewiesen.
6. Am 27.06.2019 stellte der Beschwerdeführer in Österreich erneut einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, homosexuell zu sein. Er habe einen Partner gehabt. Es sei ein ehemaliger Schulfreund von ihm gewesen. Er sei einmal auf einer Party gewesen, ohne seinen Partner, dort sei er von einem anderen Mann vergewaltigt worden. Es sei eine Schulparty gewesen, die in der Nacht stattgefunden habe. Dieser Mann habe ihn auf ein Getränk in sein Zimmer eingeladen. Er habe sich nichts gedacht. Er habe gedacht, sie würden nur reden. Aber er hätte ihn dann geküsst und vergewaltigt. Während der Vergewaltigung habe er laut um Hilfe geschrien. Andere Schüler, die seine Schreie gehört hätten, seien ihm zur Hilfe gekommen. Als sie beide in diesem Zustand gesehen worden sind, seien sie beide geschlagen worden. Die Schüler hätten die Polizei verständigen wollen, da Homosexualität in Nigeria verboten sei. Da die Polizei nicht sofort gekommen sei, hätten die Mitschüler sie zur Polizeistation überstellen wollen. Sie hätten sie gezwungen, mit dem Fahrrad zur Polizeistation zu fahren. Einer der Schüler sei vor ihm gefahren und der andere hinter ihm, sie hätten ihn den Polizisten übergeben wollen. Während dieser Fahrt habe er plötzlich gebremst und sei von seinem Fahrrad abgesprungen. Der hinter ihm fahrende sei zu Sturz gekommen und habe sich Verletzungen zugezogen. Der vor ihm fahrende habe angehalten, um seinen verletzten Freund zu helfen. Diese Gelegenheit habe er genutzt, um zu entkommen. Er sei in einen nahen Wald gerannt. Anschließend habe er Nigeria verlassen. Vom Nachbarland Niger habe er seine Eltern angerufen. Er habe ihnen nichts von seiner Homosexualität verraten und habe ihnen einen anderen Grund für seine Flucht erzählt. Er habe gesagt, Mitglieder eines Geheimbundes würden nach seinem Leben trachten. Später seien seine Eltern darauf gekommen, dass er homosexuell sei. Das hätten sie von einem Schulfreund von ihm erfahren. Aus diesem Grund habe er Angst vor dem Staat als auch vor seinem Vater und er könne nicht zurückkehren.
7. Am 18.09.2019 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Befragt zu seinen Fluchtgründen, gab er folgendes wortwörtlich an: „Ich praktizierte homosexuelle Handlungen. In meinem Land ist es verboten. Ich habe es jedoch heimlich mit meinem Zimmerkollegen von der Schule getan. Ich wurde einmal zu einer Party in der Nacht eingeladen – es war in einem Hostel. Ich war mit einem Mann zusammen im Zimmer und wir haben gemeinsam getrunken, er war ebenfalls schwul und ich kannte ihn sehr gut. Er war wie ein Freund. Er versuchte mit mir Liebe zu machen. Ich habe es jedoch abgelehnt weil ich einen Freund hatte, den ich so sehr liebte. Ich sagte ihm „du kennst meinen Freund, wieso forderst du mich auf Sex mit dir zu haben?“. Ich habe es weiterhin abgelehnt und er versuchte mich zu zwingen. Ich wusste nicht, dass sein Freund ebenfalls im Zimmer auf der Toilette war. Er ist dann aus der Toilette rausgekommen und hat ihn unterstützt, indem er mich hielt. Er hat dann seine Stange in mich hineingeschoben. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren aber sie waren stärker weil sie zu dritt waren. Ein Mann hat mich gehalten, der Haupt-Typ hat meine Beine gehalten. Er hat seine Seite in mich geschoben, ich konnte mich nicht dagegen wehren und ließ es zu und habe dann es genossen. Sie waren zu groß. Nach dem ersten Typen hat der 2. gesagt, dass er ebenfalls in mich hinein möchte, da habe ich begonnen zu schreien. Wir hatten eine Schul-Security, sie hörten meine Stimme weil ich sehr laut war. Leute aus der Nähe und Nachbarn kamen hinzu und sahen, dass ich und die Männer nackt waren – sie riefen die Polizei. Die Polizeibeamten sagten, sie würden kommen und wir haben uns auf den Boden gesetzt und warteten – es war ein großes Gemenge, auch Frauen sind hinzugekommen. Aber die Polizei ist nicht gekommen. Man hat noch einmal angerufen und diese sagte, man solle uns mit dem Motorrad zur Polizeistation bringen. Ich kam dann auf ein Motorrad, hinter mir saß ein Sicherheitsbeamter und vor mir der Fahrer. Ich wusste, dass wenn ich dorthin komme auf jeden Fall ins Gefängnis komme. Deswegen habe ich gewackelt, sodass das Motorrad fiel und der Sicherheitsbeamte sich am Bein verletzte. Dadurch konnte ich wegspringen und nicht mehr vom Sicherheitsmann überwältigt werden.“
8. Mit Bescheid vom 27.09.2019, Zl. XXXX, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft der Entscheidung (Spruchpunkt V.).
9. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde vom 30.10.2019 (bei der belangten Behörde eingelangt am 30.10.2019). Mit Schreiben vom 31.10.2019, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 04.11.2019, legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
10. Am 04.03.2020 fand beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer insbesondere zu seinen Fluchtgründen näher befragt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er gehört keiner bestimmten Volksgruppe an. Seine Identität steht nicht fest. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer homosexuell wäre.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer reiste illegal ohne gültigem Reisedokument im Juli oder August 2015 aus Nigeria aus und gelangte über Niger, Libyen und Italien nach Österreich. Bevor er den Asylantrag am 08.10.2016 stellte, hielt er sich bereits einige Monate in Österreich auf.
Die Familie des Beschwerdeführers bestehend aus dem Vater, der Mutter und dem Bruder lebt in Nigeria. In Österreich verfügt der Beschwerdeführer über keine Verwandten und über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen.
Der Beschwerdeführer besuchte 6 Jahre lang die Grundschule, 5 Jahre lang die Sekundarschule sowie 1 Jahr die polytechnische Schule, bei welcher er Betriebswirtschaft studierte. Er erlernte im Rahmen einer Lehre den Beruf Maler und übte diese Profession 7 Jahre lang aus. Aufgrund seiner Arbeitserfahrung und guten Ausbildung hat er eine Chance auch hinkünftig am nigerianischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht vorbestraft. Seit circa 2 Jahren geht der Beschwerdeführer in Österreich mit den Papieren von jemand anderen einer Schwarzarbeit nach.
Der Beschwerdeführer geht in Österreich keiner legalen Beschäftigung nach und bezog bis (mindestens) bis zum 29.01.2018 Leistungen von der staatlichen Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf. Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache nicht.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat keiner asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt und wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückehr auch keiner ausgesetzt sein. Es liegen auch keine sonstigen Gründe vor, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat Irak entgegenstünden.
Der Beschwerdeführer hat den Irak aus anderen Gründen, als auf wohlbegründeter Furcht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen. Ein konkreter Anlass für das fluchtartige Verlassen des Herkunftsstaates bestand nicht.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria:
1.3.1 Politische Lage
Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; GIZ 3.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 3.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 16.1.2020).
Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem starken exekutiven Präsidenten (Präsidialsystem nach US-Vorbild) (AA 24.5.2019a). Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten – zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte – und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber. Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020).
Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 16.1.2020). Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen die von ihnen gemachte Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete des Landes, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 1.2019).
Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 3.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 3.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes (GIZ 3.2020a). Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Abubakar fechtet das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof aufgrund von Unregelmäßigkeiten an. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering (GIZ 3.2020a).
Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).
Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 3.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).
Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Dieser Einfluss wird von der jüngeren Generation aber zunehmend in Frage gestellt (AA 24.5.2019a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.1.2020
- AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019b): Nigeria - Überblick, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeria/205786, Zugriff 9.4.2020
- BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3, Zugriff 12.4.2019
- DW - Deutsche Welle (11.3.2019): EU: Nigerian state elections marred by 'systemic failings', https://www.dw.com/en/eu-nigerian-state-elections-marred-by-systemic-failings/a-47858131, Zugriff 9.4.2020
- FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 9.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- Stears News (9.4.2020): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.com/governor/2019, Zugriff 9.4.2020
1.3.2 Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. IPOB ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 16.4.2020).
Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen auf dem Landweg in die nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa. Von nicht erforderlichen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias, in die Bundesstaaten Sokoto, Katsina und Jigawa wird abgeraten. Von Reisen in die folgenden Bundesstaaten wird abgeraten, sofern diese nicht direkt auf dem Luftweg in die jeweiligen Hauptstädte führen: in Zentral-und Nord-Nigeria Kaduna, Zamfara, Kano und Taraba, in Südnigeria: Ogun, Ondo, Ekiti, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Anambra, Enugu, Abia, Ebonyi und Akwa Ibom. Auch von Reisen in die vorgelagerten Küstengewässer, Golf von Guinea, Nigerdelta, Bucht von Benin und Bucht von Bonny, wird abgeraten (AA 16.4.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 16.4.2020). Das britische Außenministerium warnt vor Reisen nach Borno, Yobe, Adamawa und Gombe, sowie vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta, sowie Reisen nach Zamfara näher als 20km zur Grenze mit Niger. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zu Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers, und Reisen im Bundesstaat Niger im Umkreis von 20km zur Grenze zu den Staaten Kaduna und Zamfara, westlich des Flusses Kaduna (UKFCO 15.4.2020). Gewaltverbrechen sind in bestimmten Gebieten Nigerias ein ernstes Problem, ebenso wie der Handel mit Drogen und Waffen (FH 1.2019).
In der Zeitspanne April 2019 bis April 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.712), Zamfara (685), Kaduna (589) und Katsina (392). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (3), Kano (7), Jigawa (7), Kwara (8), Enugu (8) und Ekiti (9) (CFR 2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise
(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 16.4.2020
- CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020
- FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2019, Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2019, Zugriff 17.4.2020
- UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (15.4.2020): Foreign Travel Advice – Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 16.4.2020
1.3.3 Rechtsschutz / Justizwesen
Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).
Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law“ oder „Customary Law“) durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte“ neben „Common Law“- und „Customary Courts“ geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).
Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 1.2019; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).
Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).
Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).
Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
- FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- UKHO - United Kingdom Home Office (3.2019): Country Policy and Information Note - Nigeria: Actors of protection, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/794316/CPIN_-_NGA_-_Actors_of_Protection.final_v.1.G.PDF, Zugriff 29.4.2020
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020
1.3.4 Allgemeine Menschenrechtslage
Die am 29.05.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art. 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei“ ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 16.1.2020).
Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 24.5.2019a; vgl. GIZ 3.2020), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 3.2020). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden. Die Gleichstellung von Angehörigen sexueller Minderheiten wird gesetzlich verweigert, homosexuelle Handlungen sind mit schweren Strafen belegt (AA 24.5.2019a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Angehörige der nigerianischen Polizei und Armee sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 3.2020). Zu den wichtigen Menschenrechtsproblemen gehören zudem u.a. rechtswidrige und willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Inhaftierung sowie substanzielle Eingriffe in die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit (USDOS 11.3.2020).
Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten führten zu Amputations- und Steinigungsurteilen. Die wenigen Steinigungsurteile wurden jedoch jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben; auch Amputationsstrafen wurden in den letzten Jahren nicht vollstreckt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 13.3.2019). Menschenrechtsorganisationen mahnen allerdings an, dass die Dunkelziffer gegebenenfalls höher liegen kann (AA 16.1.2020).
Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, und diese sind auch in der Verfassung als einklagbar verankert. Dessen ungeachtet bleiben viele Probleme ungelöst, wie etwa Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, die Scharia-Rechtspraxis, Entführungen und Geiselnahmen sowie das Problem des Frauen- und Kinderhandels. Daneben ist der Schutz von Leib und Leben der Bürger gegen Willkürhandlungen durch Vertreter der Staatsmacht keineswegs verlässlich gesichert und besteht weitgehend Straflosigkeit bei Verstößen der Sicherheitskräfte und bei Verhaftungen von Angehörigen militanter Organisationen. Das hohe Maß an Korruption auch im Sicherheitsapparat und der Justiz wirkt sich negativ auf die Wahrung der Menschenrechte aus (ÖB 10.2019).
Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 3.2020a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.1.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 9.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020
1.3.5 Folter und unmenschliche Behandlung
Durch Verfassung und Gesetze sind Folter und andere unmenschliche Behandlungen verboten. Seit Dezember 2017 sind gemäß Anti-Folter-Gesetz Strafen vorgesehen. Gesetzlich ist die Verwendung von unter Folter erlangten Geständnissen in Prozessen nicht erlaubt. Die Behörden respektieren diese Regelung jedoch nicht immer. Der Administration of Criminal Justice Act (ACJA) aus dem Jahr 2015 verbietet Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Häftlingen; er schreibt jedoch keine Strafen für Verstöße vor. Zudem muss jeder Bundesstaat ACJA-konforme Gesetze auch einzeln verabschieden, was bis Mitte 2019 erst in Akwa Ibom, Anambra, Cross River, Delta, Ekiti, Enugu, Kaduna, Lagos, Ogun, Ondo, Oyo und Rivers geschehen ist (USDOS 11.3.2020).
Die nigerianischen Sicherheitskräfte sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen: Allen glaubwürdigen Hinweisen zufolge gehören Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; BS 2020). Darunter haben insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden (AA 16.1.2020). Neben der Polizei wird auch dem Militär vorgeworfen, extralegale Tötungen, Folter und andere Misshandlungen anzuwenden, unter anderem bei Operationen gegen Aufständische im Nordosten und gegen separatistische Bewegungen im Südosten (FH 1.2019). Stockschläge werden als Strafe eingesetzt. Im Kampf gegen Boko Haram und ISIS-WA im Nordosten des Landes kommt es im Rahmen von Anti-Terror-Operationen durch Sicherheitskräfte zu Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter, außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020) und Verschwindenlassen. Betroffen sind davon zum Teil auch Untersuchungshäftlinge, Schiiten, Biafra-Aktivisten und mutmaßliche Bandenkriminelle. Berichten zufolge begehen Angehörige des Militärs außerdem schwere Menschenrechtsverletzungen in IDP-Camps. Die Regierung bestreitet dies (AA 16.1.2020).
Im März 2016 wurde eine Menschenrechtsstelle in der Abteilung für Zivil-Militärische Angelegenheiten beim Stab des Heeres eingerichtet. Regierung und Militär haben im Jahr 2019 mehrere Versuche unternommen, einige Vorfälle zu untersuchen. Die Menschenrechtskommission wurde außerdem beauftragt, Spezialeinheiten der Polizei zu untersuchen, die sich weitreichender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben sollen. Bisher blieben aber alle Untersuchungen ohne rechtliche Konsequenzen (AA 16.1.2020).
Die Sicherheitskräfte bleiben bei Vergehen weitgehend ungestraft (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 16.1.2020). Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist durch immer wieder gemeldete Fälle von widerrechtlichen Tötungen, Folter und unmenschlicher Behandlung in Polizeihaft unterentwickelt (ÖB 10.2019). Selbst die staatliche Menschenrechtskommission schätzt die Zahl extra-legaler Tötungen auf jährlich ca. 5.000 (AA 16.1.2020).
Das Militär wird wiederholt von Menschenrechtsorganisationen wegen außergerichtlicher Tötungen, Folter und anderer Missbräuche kritisiert, unter anderem im Rahmen der Aufstandsbekämpfung im Nordosten und bei Operationen gegen separatistische Bewegungen im Südosten des Landes (FH 1.2019).
Die Special Anti-Robbery Squad (SARS) geht brutal gegen Verdächtige vor. Häufig kommt es zu Folter oder erzwungenen Geständnissen (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 3.2020), oder auch Tötungen unter dem Vorwand, dass die Häftlinge haben fliehen wollen (AA 16.1.2020). Die nationale Menschenrechtskommission untersucht derzeit diese Polizeieinheit. Sie wurde bereits einer Umstrukturierung unterzogen, deren Auswirkungen noch nicht eingeschätzt werden können. Dabei handeln die Täter in der Gewissheit weitgehender Straflosigkeit, da es nur in den seltensten Fällen zu unabhängigen Untersuchungen, geschweige denn zu disziplinar- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen kommt. Wenn Polizisten beschuldigt werden, an extralegalen Tötungen beteiligt zu sein, werden sie durch ihre Vorgesetzten gedeckt und oft bewusst in andere Regionen versetzt, um eine Klärung der Vorwürfe zu verhindern. Hauptbetroffene sind in der Regel Personen, die eines Gewaltverbrechens verdächtig sind; diese werden nach dem Ablegen eines (häufig durch Folter erlangten) Geständnisses oft noch im Polizeigewahrsam „exekutiert“. Immer wieder kommt es auch vor, dass Sicherheitskräfte an von ihnen errichteten Straßensperren unvermittelt das Feuer eröffnen, etwa wenn sich jemand weigert, ein gefordertes Schmiergeld zu zahlen (AA 16.1.2020).
Gesicherte Erkenntnisse über systematisches Verschwindenlassen unliebsamer Personen durch staatliche Organe liegen nicht vor. Nigerianische Menschenrechtsgruppen werfen regelmäßig insbesondere der Polizei das Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen und anderen in Polizeigewahrsam befindlichen Personen vor (AA 16.1.2020). Einer anderen Quelle zufolge verhaften etwa Polizisten und der Inlandsgeheimdienst willkürlich Menschen und halten Personen ohne Kontakt zur Außenwelt in Gewahrsam (AI 8.4.2020). Der Vorwurf des Verschwindenlassens wird auch gegen die im Norden Nigerias agierenden Sicherheitskräfte der Joint Task Force erhoben. Polizei und Militär gehen bei Großeinsätzen, wie der Bekämpfung der islamistischen Gruppe Boko Haram, häufig mit unverhältnismäßiger Härte vor (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020).
Folter ist in Polizei- oder Militärgewahrsam z.B. im Nordosten Nigerias und im Nigerdelta weiterhin weitverbreitet (AA 16.1.2020).
Zudem verweigern Gefängnisbeamte, Polizisten und anderes Personal der Sicherheitskräfte Häftlingen oft Nahrung und medizinische Behandlung, um sie zu bestrafen oder Geld zu erpressen (USDOS 11.3.2020).
Es kommt also trotz Folterverbots in der Verfassung oft zu teilweise schweren Misshandlungen von (willkürlich) Inhaftierten, Untersuchungshäftlingen, Gefängnisinsassen und anderen Personen im Gewahrsam der Sicherheitsorgane. Die Gründe für dieses Verhalten liegen zum einen in der nur schwach ausgeprägten Menschenrechtskultur der Sicherheitskräfte, zum anderen in der mangelhaften Ausrüstung, Ausbildung und Ausstattung insbesondere der Polizei, was sie in vielen Fällen zu dem illegalen Mittel der gewaltsamen Erpressung von Geständnissen als einzigem erfolgversprechenden Weg der „Beweisführung“ greifen lässt. Die große Zahl glaubhafter und übereinstimmender Berichte über die Anwendung von Folter in Gefängnissen und Polizeistationen im ganzen Land, die von forensischen Befunden gestützt und von der Polizei teilweise zugegeben werden, bestätigen den Eindruck, die Anwendung von Folter sei ein integraler Bestandteil der Arbeit der Sicherheitsorgane (AA 16.1.2020).
Verfassung und Gesetze verbieten willkürliche Verhaftungen, dennoch praktizieren Polizei und Sicherheitskräfte diese Praktiken. Beim Kampf gegen Boko Haram wurden im Nordosten Nigerias seit 2013 tausende Personen willkürlich inhaftiert. Sie befinden sich in nicht überwachten militärischen Haftanstalten (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden – ohne Anklageschrift oder Verurteilung – inhaftiert (AA 16.1.2020). Die Armee inhaftierte Hunderte von Frauen rechtswidrig und ohne Anklage, u. a. weil man annahm, sie seien mit Mitgliedern von Boko Haram verwandt. Unter den Inhaftierten befinden sich auch Frauen und Mädchen, die angaben, Opfer von Boko Haram geworden zu sein (AI 22.2.2018; vgl. HRW 10.9.2019; USDOS 11.3.2020).
Die Regierung des nordöstlichen Bundesstaats Borno schätzt die Zahl der von Boko Haram entführten Frauen und Mädchen auf insgesamt 3.000. Im Oktober 2016 und Mai 2017 sind über hundert der 2014 aus Chibok entführten Mädchen freigelassen worden. Im März 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule in Dapchi entführt, die meisten kamen kurz darauf wieder frei. Boko Haram setzt außerdem Kinder gezielt als Lastenträger, in Kampfhandlungen und insbesondere Mädchen für Selbstmordattentate ein. Mädchen werden zudem häufig sexuell missbraucht und an Mitglieder der Boko Haram zwangsverheiratet (AA 16.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty International Report 2019 - The State of the World's Human Rights - Nigeria, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669048, Zugriff 9.4.2020
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425079.html, Zugriff 8.11.2018
- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
- FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020): Nigeria - Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/nigeria/geschichte-staat/, Zugriff 9.4.2020
- HRW - Human Rights Watch (10.9.2019):
“They Didn’t Know if I Was Alive or Dead”, https://www.hrw.org/report/2019/09/10/they-didnt-know-if-i-was-alive-or-dead/military-detention-children-suspected-boko, Zugriff 9.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020
1.3.6 Todesstrafe
An der Todesstrafe hält Nigeria weiter fest (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Sie kann durch ordentliche Gerichte und erstinstanzliche Scharia-Gerichte für bestimmte Tatbestände (Mord, Hochverrat, Verrat, Quälerei mit Todesfolge, schwerer Raub) verhängt werden. Gegenwärtig ist in einigen südlichen Bundesstaaten der Trend zu beobachten, den Anwendungsbereich der Todesstrafe auf weitere Straftatbestände (v.a. Entführung) auszuweiten (AA 16.1.2020; vgl. AI 8.4.2020). Der Bundesstaat Rivers verabschiedete im März 2019 das novellierte Gesetz Nr. 6 von 2019 über das Verbot geheimer Kulte und ähnlicher Aktivitäten sowie das Gesetz Nr. 7 von 2019 über das Verbot von Entführungen in der Neufassung Nr. 2; beide Gesetze schreiben die Todesstrafe nun bei Entführungen und Sektiererei vor (AI 8.4.2020). Der 2012 überarbeitete Terrorism (Prevention) Act 2011 sieht die Todesstrafe für terroristische Verbrechen vor (AA 16.1.2020).
Ein seit 2006 faktisches Vollstreckungsmoratorium, das zuletzt im Februar 2009 durch den Außenminister gegenüber dem UN-Menschenrechtsrat bestätigt worden war, wurde vom Bundesstaat Edo im Juni 2013 mit vier und im Dezember 2016 mit drei Hinrichtungen durchbrochen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). 2019 gab es keine Berichte über Hinrichtungen, doch mussten immer noch mehr als 2.000 Menschen mit einer Vollstreckung ihres Todesurteils rechnen (AI 8.4.2020), darunter Täter, die zum Tatzeitpunkt noch Jugendliche waren. Viele wurden nach unfairen Prozessen verurteilt oder nachdem sie mehr als zehn Jahre im Gefängnis auf ihren Prozess gewartet hatten (ÖB 10.2019). Auch im Jahr 2018 hat es keine Exekutionen gegeben, allerdings wurden mindestens 46 Todesurteile verhängt (AI 10.4.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AI - Amnesty International (10.4.2019): Death Sentences and Executions 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/2006174/ACT5098702019ENGLISH.PDF, Zugriff 9.4.2020
- AI - Amnesty International (8.4.2020): Human Rights in Africa: Review of 2019 – Nigeria , https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669048, Zugriff 9.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
1.3.7 Grundversorgung
Die nigerianische Wirtschaft hat sich 2017 allmählich aus der schlimmsten Rezession seit 25 Jahren erholt, das BIP ist um 0,55 Prozent gestiegen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die nigerianische Wirtschaft seit Ende 2017 allmählich wieder erholt, unter anderem eine Steigerung der Erdölförderleistung, die Erholung des Erdölpreises und eine verbesserte Leistung von Landwirtschaft und Dienstleistungssektor (GIZ 3.2020c). 2018 wurde ein Wachstum von 1,9 Prozent erreicht (AA 24.5.2019c).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 3.2020c). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 3.2020c). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 3.2020c) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung Buhari stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 3.2020c; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Das Land ist nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c). Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Aufgrund fehlender Transportmöglichkeiten verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten (ÖB 10.2019).
Die Prozentsätze der Unterernährung haben sich in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegen nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 3.2020b). Über 80 Prozent der ca. 190 Millionen Nigerianer leben unterhalb der Armutsgrenze - Tendenz steigend (GIZ 3.2020c). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 3.2020b). Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmittelpreise variieren ebenfalls nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 3.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 3.2020b).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 3.2020c).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen