Entscheidungsdatum
23.06.2020Norm
BFA-VG §21 Abs7Spruch
I422 2231636-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER über die Beschwerde der XXXX , geb. am XXXX , StA. Slowakei, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst GmbH, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.05.2020, Zl. 577591106/181108688, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Mit Schreiben des Amtes der Wiener Landesregierung, Magistratsabteilung (MA) 35, vom 23.08.2018 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Aufenthalts der Beschwerdeführerin lediglich von 05.11.2010 bis 31.03.2012 bestanden haben. Zugleich wurde um Prüfung einer Aufenthaltsbeendigung ersucht.
2. Die belangte Behörde verständigte die Beschwerdeführerin sodann am 19.11.2018 vom Ergebnis der Beweisaufnahme, woraufhin sie diverse Unterlagen vorlegte.
3. Am 09.10.2019 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin durch die belangte Behörde zwecks Überprüfung ihrer familiären Verhältnisse.
4. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 04.05.2020 wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.) und wurde ihr gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.).
5. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig und zulässig mit Schriftsatz vom 02.06.2020 das Rechtmittel der Beschwerde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin ist slowakische Staatsangehörige und steht ihre Identität fest.
Die Beschwerdeführerin leidet an keinen derartigen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen, die einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen. Sie ist arbeitsfähig.
Die Beschwerdeführerin war erstmals von 08.07.2008 bis 12.08.2008 aufrecht im Bundesgebiet gemeldet. Am 29.10.2010 reiste die Beschwerdeführerin erneut nach Österreich und ist seitdem durchgehend im Bundesgebiet gemeldet.
Die Beschwerdeführerin war von 01.07.2008 bis 31.07.2008 sowie von 05.11.2010 bis 31.03.2012 bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen versichert und verfügte von 10.07.2008 bis 31.03.2012 über eine Gewerbeberechtigung als „Personenbetreuerin“. Am 22.03.2012 wurde der Beschwerdeführerin eine Anmeldebescheinigung für den Zweck „Selbständiger“ ausgestellt. In weiterer Folge bezog die Beschwerdeführerin von 01.04.2012 bis 14.03.2017 – ausgenommen zahlreicher kurzzeitiger Lücken – Mindestsicherung.
Seit 01.04.2017 erhält die Beschwerdeführerin vom österreichischen Staat eine Alterspension. Diese besteht aus der Grundleistung zuzüglich einer Ausgleichszulage und abzüglich des Krankenversicherungsbeitrages und werden daraus derzeit monatlich EUR 688 monatlich zur Auszahlung gebracht. Zudem erhält die Beschwerdeführerin aus der Slowakei eine Pension in der Höhe von circa EUR 203 und muss sie monatlich EUR 110 an Mietkosten aufbringen. Die Beschwerdeführerin ist somit mittellos.
Am 21.11.2017 beantragte die Beschwerdeführerin die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung zum Zweck „privat“, über welchen Antrag bisher noch nicht entschieden worden ist.
Sie ist geschieden und hat keine Sorgepflichten. Die Familie der Beschwerdeführerin, bestehend aus ihren drei volljährigen Töchtern sowie ihren zwei Brüdern, lebt nach wie vor in der Slowakei.
In Österreich verfügt die Beschwerdeführerin über keine familiären Anknüpfungspunkte, jedoch über einen Freundeskreis. Überdies weist sie maßgebliche Merkmale einer Integration in privater und sprachlicher Hinsicht auf.
Die Beschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin vor dieser, in den bekämpften Bescheid und in ihre Angaben im Beschwerdeschriftsatz. Auskünfte aus dem Strafregister der Republik Österreich, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) sowie dem Sozialversicherungsträger wurden ergänzend eingeholt.
2.2. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Feststellungen zu ihren Lebensumständen, ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Gesundheitszustand, ihrer Arbeitsfähigkeit sowie ihrer familiären und privaten Situation im Herkunftsstaat sowie in Österreich ergeben sich aus ihren diesbezüglichen glaubhaften und nicht widerlegten Angaben vor der belangten Behörde.
Da eine Kopie des slowakischen Reisepasses der Beschwerdeführerin im Behördenakt enthalten ist, steht ihre Identität zweifelsfrei fest.
Die Feststellung betreffend ihren Aufenthalt im Bundesgebiet ergibt sich aus dem eingeholten ZMR-Auszug, jene betreffend ihre Sozialversicherung gründet auf der Abfrage der österreichischen Sozialversicherungsträger. Sämtliche Feststellungen zu ihrem Erhalt einer Gewerbeberechtigung, der Anmeldebescheinigung für den Zweck „Selbständiger“, ihrem Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung zum Zweck „privat“, ihrem Bezug der Mindestsicherung, der slowakischen Pension und der österreichischen Ausgleichszulage ergeben sich aus einer Zusammenschau der Feststellungen im gegenständlichen Bescheid, ihrer Angaben vor der belangten Behörde, der im Akt befindlichen Schreiben der SVA vom Jänner 2019 und 14.08.2019 sowie der ZMR-, IFR- und GVS-Auszüge. Zusätzlich wurde diesbezüglich in die Datenbank der österreichischen Sozialversicherungsträger Einsicht genommen und das Schreiben der MA 35 des Amts der Wiener Landesregierung vom 23.08.2018 berücksichtigt. Dem in Vorlage gebrachten Wohnungsuntermietvertrag, ausgestellt am 20.02.2012, kann die monatliche Untermietzinshöhe entnommen werden.
Die Mittellosigkeit ergibt sich aus den aufgezeigten finanziellen Gegebenheiten der Beschwerdeführerin.
Die Beschwerdeführerin legte folgende Unterlagen vor: Bestätigung der Absolvierung eines Deutschkurses samt Prüfung im Rahmen der Trendwerk-Qualifizierung am 03.07.2013, ECDL Core-Zertifikat bit vom 02.07.2014, Teilnahmezertifikat „Demente Menschen zu Hause betreuen“ vom 18.11.2013, Bestätigung über den Anpassungslehrgang des Schulungszentrums Dr. Kienbacher vom 20.12.2013, Bescheid der MA 40 der Stadt Wien vom 01.07.2013, Teilnahmebestätigung an der Maßnahme ACE – Aktivierung, Coaching und EDV für MaturantInnen, AkademikerInnen und Führungskräfte der ipcenter.at GmbH vom 18.02.2013, Teilnahmebestätigung am berufsspezifischen Kurs „Einstieg in die Pflege“ des ÖIF vom 08.05.2013.
Die Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem österreichischen Strafregister.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgabe der Beschwerde
§ 66 FPG ("Ausweisung") lautet:
"(1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
(3) Die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."
Gemäß § 51 Abs. 1 NAG sind EWR-Bürger auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1); für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2), oder als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen (Z 3).
Gemäß § 53a NAG erwerben EWR-Bürger, denen das unionrechtliche Aufenthaltsrecht iSd §§ 51f NAG zukommt, idR nach fünf Jahren des rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet das vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen (insbesondere ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes) unabhängige Recht auf Daueraufenthalt.
§ 55 NAG ("Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechtes für mehr als drei Monate") lautet:
"(1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs. 3 und 54 Abs. 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.
(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.
(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.
(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" quotenfrei zu erteilen.
(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird."
§ 9 BFA-VG ("Schutz des Privat- und Familienlebens") lautet:
"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), BGBl Nr. 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl Nr. 60/1974 gilt."
Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall:
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Slowakei und somit EWR-Bürgerin iSd § 2 Abs. 4 Z 8 FPG. Sie ist seit 29.10.2010 durchgehend in Österreich gemeldet und verfügt seit 22.03.2012 über eine Anmeldebescheinigung, um welche sie am 21.11.2017 erneut ansuchte.
Die österreichische Ausgleichszulage hat Sozialhilfecharakter, soweit sie dem Empfänger im Fall einer unzureichenden Rente ein Existenzminimum gewährleisten soll (vgl. EuGH 29.4.2004, Skalka, C- 160/02). Die Ausgleichszulage kann als "Sozialhilfeleistung" (iSd Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG) angesehen werden. Der Umstand, dass ein EWR-Bürger zum Bezug dieser Leistung berechtigt ist, kann einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (vgl. EuGH 19.9.2013, Brey, C-140/12) (siehe VwGH 04.10.2018, Ra 2017/22/0218).
Der derzeitige Bezug einer Ausgleichszulage sowie die vorherige jahrelange Inanspruchnahme von Mindestsicherung indiziert somit, dass die Beschwerdeführerin über keine ausreichenden Existenzmittel iSd § 51 Abs. 1 Z 2 NAG verfügt. Den der Beschwerdeführerin monatlich zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel stehen überdies Mietkosten von EUR 110,-- gegenüber. Die Anwesenheit der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet belastet somit die öffentlichen Gebietskörperschaften (vgl. VwGH 20.09.2018, Ra 2018/20/0349).
Sofern im Beschwerdeschriftsatz in Hinblick auf § 51 Abs. 2 Z 2 NAG angeführt wird, die Beschwerdeführerin gelte nach wie vor als erwerbstätig iSd NAG, ist dem entgegenzutreten. Insbesondere liegt dem vorliegenden Verwaltungsakt keine ordnungsgemäße Bestätigung bei, wonach die Beschwerdeführerin unfreiwillig arbeitslos gewesen sei und gab sie selbst zu Protokoll, ihre letzte Bewerbung zwei Jahre vor Antritt ihrer Pension abgesendet zu haben. In diesen zwei Jahren habe sie sich lediglich beim AMS um freie Stellen erkundigt.
Hält sich ein Fremder mehr fünf Jahre lang auf Grundlage des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG 2005 rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet auf und erwirbt damit das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG 2005, so ist seine Ausweisung schon deshalb rechtswidrig, weil dem Fremden nach dem § 53a Abs. 1 NAG 2005 ungeachtet seiner aktuellen Situation seit Ablauf der fünf Jahre ein von den Voraussetzungen des § 51 NAG 2005 unabhängiges weiteres Aufenthaltsrecht zukommt. In diesem Sinn schließt auch § 66 FrPolG 2005 die Erlassung Ausweisung aus, wenn bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben wurde (es sei denn, der weitere Aufenthalt des fraglichen Fremden stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar - vgl. VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181, VwSlg. 18535 A/2012) (siehe VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132).
Die Beschwerdeführerin hält sich mittlerweile seit etwa neuneinhalb Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet auf, sodass jedenfalls davon auszugehen ist, dass sie das Recht auf Daueraufenthalt gemäß § 53a NAG erworben hat.
Für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die das Recht auf Daueraufenthalt genießen, bestimmt Art. 28 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie, dass eine Ausweisung nur aus "schwerwiegenden" Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf, wobei zwar auch hier gemäß Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie auf das persönliche Verhalten abzustellen ist, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, insgesamt aber ein größeres Ausmaß an Gefährdung verlangt wird. Diese Vorgaben der Unionsbürgerrichtlinie wurden im FPG insofern umgesetzt, als nach dessen § 66 Abs. 1 idF FrÄG 2011 die Ausweisung von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen, die bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, nur dann zulässig ist, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Dieser Maßstab liegt im abgestuften System der Gefährdungsprognosen über dem Gefährdungsmaßstab nach dem ersten und zweiten Satz des § 67 Abs. 1 FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 (VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181; 22.01.2014, 2013/21/0135; 03.07.2018, Ra 2018/21/0066; 24.10.2019, Ra 2019/21/0205).
Die belangte Behörde hat dahingehend keinerlei Feststellungen getroffen, weshalb der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle. Dies ist insbesondere hier nicht der Fall, da die Beschwerdeführerin strafgerichtlich unbescholten ist und ihr keine gravierenden Verstöße gegen die öffentliche Ordnung anzulasten sind. Es ergeben sich somit keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass ihr weiterer Verbleib im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit der Republik schwerwiegend gefährden würde. Das Vorliegen einer Mittellosigkeit stellt für sich alleine betrachtet jedenfalls keine derart „schwerwiegende“ Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar, die ihre eine Ausweisung zu rechtfertigen vermag (siehe vergleichsweise § 67 Abs. 1 FPG bzw. VwGH 20.12.2018, Ra 2018/20/0309).
Da die Ausweisung in das Privatleben der Beschwerdeführerin, die seit fast zehn Jahren in Österreich lebt und hier über entsprechende soziale Bindungen verfügt, eingreift, ist sie überdies nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtete Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der Wertungen, die sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergeben, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 30.06.2016, Ra 2016/21/0165).
Schon allein aufgrund der langen Aufenthaltsdauer der Beschwerdeführerin in Österreich ergibt sich das Vorliegen eines berücksichtigungswürdigen Privatlebens, welches die privaten Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich maßgebend stärkt. Die Beschwerdeführerin verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet, hat jedoch starke Verbindungen in die Slowakei, da ihre Töchter und Brüder nach wie vor dort leben. Überdies ist sie mit der slowakischen Sprache und den dortigen Gepflogenheiten vertraut.
Aufgrund ihres langen Aufenthaltes von nunmehr neuneinhalb Jahren ist jedoch von einer entsprechenden Integration der Beschwerdeführerin in Österreich und einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen (vgl. VwGH 30.7.2014, 2013/22/0226; 08.11.2018, Ra 2016/22/0120). Besonders ist auf die Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin sowie den Umstand hinzuweisen, dass diese keine Veranlassung hatte, an der Zulässigkeit ihres dauerhaften Aufenthaltes zu zweifeln, da ihr mit 22.03.2012 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt wurde und sie seit mittlerweile – mit kurzen Unterbrechungen – etwa acht Jahren Mindestsicherung bzw. Ausgleichszulagen erhalten hat. Sie musste sich daher bei Entstehen ihres Privatlebens in Österreich keines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein.
Die Dauer des bisherigen Aufenthaltes der Beschwerdeführerin liegt auch an den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen, weil sich die Beschwerdeführerin seit etwa neuneinhalb Jahren im Bundesgebiet aufhält und seit etwa acht Jahren staatliche Sozialleistungen bezieht. An ihrer Situation, insbesondere am Fehlen ausreichender Existenzmittel, hat sich seither nichts Wesentliches geändert. Trotzdem wurde erst am 23.08.2018 ein Verfahren zur Prüfung einer Aufenthaltsbeendigung eingeleitet.
Obwohl dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen ein hoher Stellenwert zukommt und der Bezug der Mindestsicherung das österreichische Sozialsystem belastet, überwiegen bei einer gewichteten Gesamtbetrachtung der Umstände dieses Einzelfalls die privaten Interessen der Beschwerdeführerin das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Durch die im angefochtenen Bescheid angeordnete Ausweisung wird im Ergebnis Art 8 EMRK verletzt.
Die Erlassung einer Ausweisung ist somit im gegenständlichen Fall nicht zulässig. Auch die vorzunehmende Interessenabwägung iSd § 9 BFA-VG ergibt ein Überwiegen ihrer privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich.
In Stattgebung der Beschwerde ist der angefochtene Bescheid daher ersatzlos zu beheben.
4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung
Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben oder die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären ist.
Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Im gegenständlichen Fall wurde sich insbesondere mit den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Ausweisung (vgl. VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181; VwGH 22.01.2014, 2013/21/0135; VwGH 03.07.2018, Ra 2018/21/0066; VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0205; VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132; VwGH 04.10.2018, Ra 2017/22/0218) auseinandergesetzt und weicht die der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegte Rechtsprechung weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zur Glaubhaftmachung von Asylgründen sowie zur Interessenabwägung im Rahmen der Rückkehrentscheidung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Schlagworte
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ECLI:AT:BVWG:2020:I422.2231636.1.01Im RIS seit
13.10.2020Zuletzt aktualisiert am
13.10.2020